Lauschen

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Mi 28. Aug 2024, 09:27

"Alles Selbstdenken kommt mir wie Sünde vor wenn ich in der Natur bin; könnt man ihr nicht lieber zuhören? Wenn ich der Natur lausche, Zuhören will ichs nicht nennen, denn es ist mehr als man mit den Ohren fassen kann, aber lauschen das tut die Seele." (Bettine von Arnim)

Was meint von Arnim? Meiner Meinung nach ist dies eine direkte Anspielung auf Kants berühmten Slogan zur Aufklärung: "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Kant fordert dazu auf, selbst zu denken, „ohne Leitung eines anderen.“ Die Übersetzung von "Sapere aude" ist laut dem Philosophen Omri Boehm jedoch ambivalent. Einerseits bedeutet es: „Habe den Mut, für dich selbst zu denken.“ Andererseits: „Habe den Mut zu wissen.“ Wissen im historischen Kontext von Kant und Arnim bedeutet jedoch nach Boehm, einen Gegenstand anhand der Newtonschen wissenschaftlichen Kategorien zu bestimmen.

Arnim scheint direkt darauf zu antworten! Sie meint - so scheint es mir - dass dieses Selbstdenken/Wissen der falsche Zugang (eine Sünde) gegenüber der Natur ist, weil es nur bestimmte Aspekte erfasst. Stattdessen sollte man sich der Natur ästhetisch (Aisthesis = sinnliche Wahrnehmung) nähern, also hörend oder lauschend – mit der Seele, dem „Inneren“, das die Romantiker:innen so stark gemacht haben.

Übrigens: Kant selbst war sich nach meinem Wissen wohl bewusst, dass die Natur nicht allein mit Newtonschem, wissenschaftlichem Wissen erfasst werden kann; er „wartete“ gleichsam auf den „Newton des Grashalms“, wie er es nannte. Hat dieser „Newton des Grashalms“ schon die Bühne der Naturwissenschaften betreten?

Darauf antwortet die Biologin Robin Wall Kimmerer: "Man könnte meinen, dass gerade Biologen am ehesten Wörter für das Leben haben. Doch in der Sprache der Wissenschaft wird unsere Terminologie benutzt, um die Grenzen unseres Wissens zu definieren. Was dahinter liegt, bleibt unbekannt" (Robin Wall Kimmerer). Bisher also kein „Newton des Grashalms“ in Sicht, wie es scheint.

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Robin Wall Kimmerer ist laut Wiki eine US-amerikanische Pflanzenökologin, Autorin und Professorin an der State University of New York (gemäß Wiki)

Bettina von Arnim (1785 bis 1859) war eine deutsche Schriftstellerin, Zeichnerin und Komponistin und bedeutende Vertreterin der deutschen Romantik. (Wiki)




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Quk
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Mi 28. Aug 2024, 16:28

Die Unterscheidung zwischen lauschen und hören war mir bisher nicht bekannt. Wenn denn unterschieden wird, hätte ich spontan das Hören als das Verstehendere begriffen und das Lauschen das Aufschnappendere. Wie im Englischen: "I see" oder "I hear you" bedeutet da auch "verstehen". Schauen hätte ich mit lauschen gleichgesetzt. Wer nur schaut, der sieht nicht. Wer nur lauscht, der hört nicht. Aber vielleicht ist es ja gerade das, was die Romantikerin meint und was Du vorschlägst: Statt nur im kantschen Sinne vorzugehen, also statt zu sehen oder zu hören, solle man auch "natürlich" vorgehen, also schauen und lauschen -- und den Verstand dabei ausschalten. Ich vermute, das meint so etwas wie ein "Bauchgefühl".




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Jörn Budesheim
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Mi 28. Aug 2024, 16:43

Ich kenne von ihr nur dieses Zitat, zu wenig, um mir ein fundiertes Urteil zu bilden. Aber der kurze Text gefällt mir. Wobei ich selbst dazu neige, viele Ansätze zu akzeptieren. Das Intuitive/Lauschen/Bauchgefühl kann sicher Dinge erkennen, die der Wissenschaft verschlossen bleiben. Umgekehrt aber auch :-)




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Jörn Budesheim
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Mi 28. Aug 2024, 16:46

Es gibt noch einen Aspekt, der in meinem Text womöglich fehlt. Der einseitige, auf Naturbeherrschung ausgerichtete Zugang könnte die Sünde sein, von der sie spricht. Demgegenüber ist Lauschen ein ganz anderes Bild, oder? Wer lauscht, lässt sich womöglich was sagen :-)




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Quk
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Mi 28. Aug 2024, 16:54

Ja, wer lauscht, der lässt sich womöglich etwas sagen, weil er beim Lauschen selber nicht mitdenkt. Auswendiglernen könnte man das nennen.

Wenn man auf der Universität den Hör-Saal einen Lausch-Saal nennen würde, wirkte das doch etwas erzieherischer :-)




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Jörn Budesheim
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Mi 28. Aug 2024, 17:48

Was gibt es denn in der Natur auswendig zu lernen, deiner Ansicht nach?




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Quk
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Mi 28. Aug 2024, 18:47

Auswendiglernen bedeutet für mich Lernen ohne Erkennen von Zusammenhängen; anders gesagt: Lernen ohne zu verstehen.

Es gibt unermesslich viele Zusammenhänge. Je mehr Zusammenhänge ich erkenne, desto mehr verstehe ich. Die Bedeutungen der beiden Begriffe Auswendiglernen und Verstehen fließen also in einander über, denke ich. Es geht eher um Tendenzen.

Soweit meine Definition.

Wenn ich etwas rational oder emotional verstehe, kann ich es mir besser merken -- als wenn ich es nicht verstehe. Wenn ich es nicht verstehe, muss ich mich zum Auswendiglernen zwingen. Das gelingt durch ewige Wiederholung.

Ich bin jetzt ein 1-jähriges Kind und schaue zu, wie die Sonne täglich hinter Gansenhausen aufgeht und hinter den Bergen untergeht. Ich verstehe nicht, warum sie das tut. Ich beobachte diesen oberflächlichen Vorgang heute zum ersten Mal und merke ihn mir nicht. Nun wiederholt sich der Vorgang ein paar Mal. Die Sonne, die Natur, teilt mir jeden Tag die selbe Information mit. Ich lerne diese Information quasi auswendig. Aber verstehen tue ich sie nicht.

Irgendwann lese ich astronomische Thesen und beginne zu verstehen -- verstehe mehr und mehr, aber nie alles. Viel auswendig Gelerntes verbleibt oder kommt neu hinzu -- von der oberflächlichen Natur vermittelt und von mir auswendig gelernt.

Die Natur als Lehrerin. Allerdings ist sie eine jener Sorte, die nur Fakten an die Tafel schreibt und Warum-Fragen nicht beantwortet. Die muss man selber versuchen, zu beantworten. Was von der Schiefertafel der Natur abgeschaut und auswendig gelernt wurde, muss man untersuchen, um ihre weiteren Zusammenhänge zu verstehen. Dann tauchen weitere Zusammenhänge auf, und noch mehr, und noch mehr. Aus Lauschen wird Hören, und aus Schauen wird Sehen.




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Stefanie
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Mi 28. Aug 2024, 20:22

Lauschen und Hören sind verschieden.
Wobei Lauschen keineswegs das "schwächere" ist. Es ist anders.
Lauschen ist intensiver, man kann dabei angespannter sein, auch ziemlich neugierig, was das ist, was noch kommt, Lauschen tut man etwas was einem anregt, was fasziniert, was neugierig macht, andächtig. Lauschen ist nicht nur das Ohr, es ist sinnlicher, emotionaler. Lauschen kann man die Geräusche der Natur, aber auch einem faszinierenden Redebeitrag, bei einem Lied, Musik generell, eine Vorführung, wenn jemand was erzählt usw.
Bettina von Armin drückt das so aus "denn es ist mehr als man mit den Ohren fassen kann, aber lauschen das tut die Seele."

Ich habe heute Abend den Redebeiträgen auf der dienstlichen Veranstaltung zugehört, aber das war kein Lauschen.

Die andere Bedeutung ist das etwas Aufschnappen, was nicht für einen bestimmt ist, das ist mehr ein belauschen. Ich glaube nicht, dass dies gemeint ist.

Die Verwendung des Wort Lauschen scheint aus der Mode gekommen zu sein.



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Quk
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Mi 28. Aug 2024, 20:53

Diesen Aspekten stimme ich zu. Den Aspekt, den ich ansprach, war der Aspekt des Verstehens. Das heißt aber nicht, dass dies der einzige Aspekt sei, der das Lauschen vom Hören unterscheidet.

Im Englischen heißt das wohl "to listen", und im Schweizerischen "losen". All meine Schweizer Kunden haben im Tonstudio nie "hör mal" gesagt, sondern immer "los a mol". Man lauscht der Musik emotional. Rational analysiert wird sie dann beim Hören.




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Stefanie
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Do 29. Aug 2024, 19:41

Es ist nicht einfach, Texte zum Unterschied zwischen Lauschen und Hören zu finden. Selbst die Wortherkunft ist nicht eindeutig.
Herkunft:
von spätmittelhochdeutsch luschen. Dessen Herkunft ist nicht genau geklärt. Die Bedeutung "hören" weist auf eine Verwandtschaft mit dem alten verb losen hin, die Lautform dagegen auf ein anderes Verb, das möglicherweise auch lauern zugrunde liegt
Oder
das Verb ist eine Bildung des 13. Jh. und geht auf spätmhd. luschen zurück, das zu oberdt. losen „zuhören, aufpassen“ gehört; als Quelle wird idg. *kleu– „hören“ angenommen, das auch engl. to listen „zuhören“ sowie russ. slušat „zuhören“ zugrunde liegt; die Ableitung Lauscher bedeutet eigentlich „Zuhörer, Horcher“, bezeichnet aber das Ohr von bestimmten Wildtieren; lauschig stammt aus dem 18. Jh.; die Bedeutung hat sich von „horchend“ über „versteckt, heimlich“ zu „vertraulich“ entwickelt.

Scheinbar ist Lauschen auch noch negativ besetzt, wegen dem belauschen, sei es absichtlich oder unabsichtlich, z.B. in einem Restaurant, im Bus.

Einen schönen Satz habe ich in einem Artikel der Taz gefunden.
"Aber lauschen wir nicht alle? Nicht in einem spionierenden Sinne. Doch ringen wir nicht immer der Welt etwas ab? Wir hören unweigerlich zu: den Stimmen, der Sprache, der Musik der anderen, dem Rauschen der Gesellschaft, allem, was um uns herum ist. Durch dieses In-die-Welt-Lauschen entstehen Moderichtungen, soziale Strömungen, ein gesellschaftliches Wir und jedes einzelne Ich. Ja, sobald wir vor die Tür gehen, beginnen wir unweigerlich zu lauschen."

Ich kann nämlich nicht so wirklich nachvollziehen, warum man nur beim Hören was verstehen kann, und nicht beim lauschen.



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Jörn Budesheim
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Fr 30. Aug 2024, 10:04

Den Unterschied zwischen "Hören" und "Lauschen" macht von Arnim zunächst am "Organ" fest. Wir hören mit den Ohren, lauschen mit der Seele. Die Seele ist das Organ, das der beseelten, lebendigen Natur am ehesten gerecht wird. Das "autonome" Subjekt tritt dabei in den Hintergrund. Hören erscheint vielleicht zu distanziert. Aber was bedeutet das? Vielleicht ein Einfühlen? Es könnte auch darum gehen, dass wir als Teil der Natur mit der uns umgebenden und uns durchdringenden Natur in einen gemeinsamen Resonanzraum eintreten, in eine Beziehung kommen, vielleicht in einen Zusammen- oder Einklang.




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Stefanie
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Sa 31. Aug 2024, 17:20

Ich sage es mal so...
Wenn Sonntagmorgen so um 6 Uhr die Tauben anfangen zu gurren und nicht aufhören, höre ich es.
Wenn das Tauben Paar im Laufe des Tages auf dem kleinen Baum vor dem Balkon turtelt und dann gemeinsam gurren, lausche ich.



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Jörn Budesheim
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So 1. Sep 2024, 10:31

Das ist eine sehr schöne Beobachtung!




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Jörn Budesheim
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So 1. Sep 2024, 10:31

In der philosophischen Tradition wird manchmal zwischen den Begriffen "verstehen" und "erklären" unterschieden. Wobei es sich dabei weniger um einen Versuch handelt, den tatsächlichen Bedeutungsunterschied zu erfassen, sondern vielmehr um eine terminologische Festlegung. Diese Unterscheidung wird durch die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche und unterschiedliche Zugangsweisen begründet. 

Das Verstehen wird den Geisteswissenschaften und dem Erklären und den Naturwissenschaften mit ihren entsprechenden Gegenstandsbereichen zugeordnet. Damit sind im Grunde auch die verschiedenen Zugangsweisen bestimmt.

Die Naturwissenschaften verfahren gemäß den Methoden der Empirie: Beobachtung und Theoriebildung, vereinfacht gesagt. In einer gewissen Hinsicht ist sie auch der Maxime des "Blicks vom Nirgendwo" verpflichtet. Zwar ist der berühmte Blick von Nirgendwo logisch ausgeschlossen, aber nicht ganz streng genommen ist er das Leitmotiv der "objektiven Methode". 

Die Geisteswissenschaften hingegen versuchen Sinnzusammenhänge zu verstehen, gegebenenfalls durch dialogische Einstellungen, Einfühlungsvermögen, Verstehen von Zielsetzungen etc. Wilhelm Dilthey: „Verstehen ist das Wiederfinden des Ich im Du.“ Wenn man will, könnte man das geradezu als das Gegenstück des Blicks von Nirgendwo betrachten. 

Nun will ich die naturwissenschaftliche Methode, das Erklären, keineswegs per se infrage stellen. Allerdings bin ich skeptisch, was den Gegenstandsbereich angeht. Ist die Natur ein einheitlicher Bereich, den man vollständig mit den Methoden des Erklärens erfassen kann? Ich will die Natur aber auch nicht einfach in den Zuständigkeitsbereich der Geisteswissenschaften verfrachten, keine Angst. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass die hermeneutischen Methoden des Verstehens für manche Bereiche der Natur, nämlich zum Beispiel die Bereiche der lebendigen Natur, von Bedeutung sein können. Da wir selbst ein Teil dieser Natur sind, ist das Verstehen als ein "Wiederfinden des Ich im Du" auch hier nicht von vornherein ausgeschlossen. Weiter oben habe ich den Ausdruck "Resonanz" ins Spiel gebracht, das geht vielleicht in die nämlich Richtung.
Quk hat geschrieben :
Mi 28. Aug 2024, 18:47
Ich bin jetzt ein 1-jähriges Kind und schaue zu, wie die Sonne täglich hinter Gansenhausen aufgeht und hinter den Bergen untergeht. Ich verstehe nicht, warum sie das tut. Ich beobachte diesen oberflächlichen Vorgang heute zum ersten Mal und merke ihn mir nicht. Nun wiederholt sich der Vorgang ein paar Mal. Die Sonne, die Natur, teilt mir jeden Tag die selbe Information mit. Ich lerne diese Information quasi auswendig. Aber verstehen tue ich sie nicht.
Ich will das jetzt nicht zwanghaft einer der beiden Kategorien zuordnen, ich denke aber, dass das Kind tendenziell eher nach einer Erklärung im oben erläuterten Sinne sucht, die es später auch in den astronomischen Thesen findet. Unser Verhältnis zur Sonne gehört meines Erachtens aber auch zu dem Bereich, den man verstehen kann: Die Sonne wärmt unsere Haut, schafft oft eine angenehme Atmosphäre, sie hebt also die Laune und so weiter.  Das ist etwas, was jede von uns unumwunden versteht. 

Nicht in Deinem Beitrag, Quk, aber in einem anderen Zusammenhang hier im Forum hieß es kürzlich: "Das Buch der Natur ist in Zahlen geschrieben." Das ist der Blick von Nirgendwo quantifiziert, aber es gibt eben auch den Blick von irgendwo in Qualitäten, ein Blick, der sich als Teil der lebendigen Natur verstehen kann. 

Viel Worte um eine Kleinigkeit: wenn von Arnim vom Lauschen spricht, dann meint sie, glaube ich, nicht das erkenntnistheoretische Spiel, das zum Erklären führt; das, was sie schreibt, würde ich eher, zumindest ist es mein Gefühl, dem Verstehen in einem weiten Sinne zuordnen. 

An die Sonne
Ingeborg Bachmann

Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,
Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
Und zu weit Schönerem berufen als jedes andre Gestirn,
Weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.
 
Schöne Sonne, die aufgeht, ihr Werk nicht vergessen hat
Und beendet, am schönsten im Sommer, wenn ein Tag
An den Küsten verdampft und ohne Kraft gespiegelt die Segel
Über dein Aug ziehn, bis du müde wirst und das letzte verkürzt.

Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier,
Du erscheinst mir nicht mehr, und die See und der Sand,
Von Schatten gepeitscht, fliehen unter mein Lid.
 
Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt,
Dass ich wieder sehe und dass ich dich wiederseh!

Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ...

Nichts Schönres als den Stab im Wasser zu sehn und den Vogel oben,
Der seinen Flug überlegt, und unten die Fische im Schwarm,
Gefärbt, geformt, in die Welt gekommen mit einer Sendung von Licht,
Und den Umkreis zu sehn, das Geviert eines Felds, das Tausendeck meines Lands
Und das Kleid, das du angetan hast. Und dein Kleid, glockig und blau!

Schönes Blau, in dem die Pfauen spazieren und sich verneigen,
Blau der Fernen, der Zonen des Glücks mit den Wettern für mein Gefühl,
Blauer Zufall am Horizont! Und meine begeisterten Augen
Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund.
 
Schöne Sonne, der vom Staub noch die größte Bewundrung gebührt,
Drum werde ich nicht wegen dem Mond und den Sternen und nicht,
Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren sucht,
Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst
Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.




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Quk
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So 1. Sep 2024, 14:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 1. Sep 2024, 10:31
Viel Worte um eine Kleinigkeit: wenn von Arnim vom Lauschen spricht, dann meint sie, glaube ich, nicht das erkenntnistheoretische Spiel, das zum Erklären führt; das, was sie schreibt, würde ich eher, zumindest ist es mein Gefühl, dem Verstehen in einem weiten Sinne zuordnen. 
Da habe ich nichts einzuwenden. Ich sehe fließende Übergänge zwischen den Bedeutungen, und das Verstehen ist eine skalierbare Größe: Je mehr Zusammenhänge ich sehe oder höre, desto mehr verstehe ich. Einen ersten Zusammenhang gibt es immer zu erkennen. Jene Skalierung beginnt also bei 1, nicht bei null. Die Sonne ist rund, hell, gelb, und geht dort auf. Das sind vier Zusammenhänge auf einen Streich -- beim ersten Anblick im Leben. Somit beginnt jedes Hören und Sehen stets sofort mit mindestens einem Zusammenhang. Ich spreche jetzt nicht von Qualia, sondern von Ereignissen im Lebenslauf. Also ich denke auch, dass das Lauschen durchaus ein Verstehen enthält, ein unmittelbares, -- aber kein wachsendes Verstehen.

Das Taubenbeispiel von Stefanie finde ich ebenfalls zutreffend. Beim Lauschen richtet man seine Ohren auf einen bestimmten Ort. Beim Hören ist diese Ausrichtung nicht notwendig.

Mal sehen, wenn wir das Hören mit Vorsilben präzisieren und mit Synonymen vergleichen:

abhören -- lauschen (Arzt, Spion)
anhören -- nicht urteilend zuhören
aufhören -- beenden (kommt vielleicht von: "Arbeit unterbrechen und aufhorchen!")
durchhören -- ein Programm vollständig hören (Durchhörbarkeit, ein Fachbegriff der Musikproduktion)
gegenhören -- vergleichsprüfen
gehören -- Besitz sein (kommt vielleicht von: "Untertan hört auf König.")
mithören -- lauschen (Spion, Radiokonzert)
umhören -- suchend fragen
verhören -- falsch verstehen
vorhören -- prüfend hören
weghören -- die Ohren auf etwas anderes richten
zuhören -- lauschen (Gespräch, keine Geräusche oder Musik)

Stimmt das ansatzweise? Die Liste enthält drei Synonyme für Lauschen.




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