Der Unterschied von Dingen

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
Benutzeravatar
AufDerSonne
Beiträge: 1294
Registriert: Do 1. Sep 2022, 19:44

Mo 8. Jan 2024, 19:28

Hallo Leute
Ich mache mir gerade Gedanken darüber, wie man Dinge unterscheidet. Also materielle Dinge. Was ist der Unterschied zwischen einem Tisch und einem Stuhl? Ich verrate euch mein vorläufiges Ergebnis. Es ist die Funktion, der Zweck. Zuerst dachte ich an die Form. Ein Tisch hat offensichtlich eine andere Form als ein Stuhl. Die Sonne ist viel grösser als der Mond. Sind zwar beide kugelförmig. :D Auch das Einzelding ist wichtig. Sagen wir, in einem Restaurant hat es fünf gleiche Tische. Kommt ja vor. Streng genommen ist aber keiner der Tische genau gleich. Es scheint eine Eigenschaft der Realität zu sein, dass keine zwei materielle Gegenstände genau gleich sein können. Sind wir uns da einig? Bei den Menschen ist es noch offensichtlicher. Keine zwei Menschen sehen genau gleich aus. Auch nicht Zwillinge. Gut, die können sich sehr ähnlich sein.
Jetzt habe ich gerade eine Idee. Es können zwar keine zwei materiellen Gegenstände genau gleich sein, aber sie können den gleichen Zweck erfüllen. Wenn ich zwei ungefähr gleiche Hämmer habe, kann ich wohl mit beiden einen Nagel einschlagen in die Wand. Das würde meine Idee bestätigen, dass die Funktion wichtiger ist als die genaue Form.
Man könnte sich ein Gebilde vorstellen, dass man als Stuhl oder als Tisch brauchen könnte. So ein Zwischending. Es hätte vier Beine und eine Platte oben drauf. Dann würde wohl der Verwendungszweck bestimmen, was es jetzt ist. Wenn ich dieses Zwischending als Tisch brauchen würde, dann wäre es eben ein Tisch.

Nach diesen Überlegungen frage ich mich, wieso wir meistens sehr genau sagen können, um was für ein Ding es sich handelt. Wir irren uns meistens nicht, wenn wir jetzt ein Stuhl meinen und nicht ein Tisch.
Bei anderen Dingen ist es noch klarer. So werden wir kaum ein Schuh mit einem Computer verwechseln.

Sind meine Überlegungen völlig abstrus oder könnt ihr damit etwas anfangen?



Ohne Gehirn kein Geist!

1+1=3
Beiträge: 577
Registriert: Di 22. Jun 2021, 00:50

Mo 8. Jan 2024, 20:13

Damit kann ich sehr gut etwas anfangen. M.E. kann man materielle Dinge primär über ihre Eigenschaften unterscheiden. Und die hängen vor allem von ihrer Form ab (im "Zusammenspiel" mit der beteiligten Materie). Funktion und Zweck sehe ich als mögliche sozusagen Unterklassen von Form an (spezielle eben Spezial-/Sonder- oder Unterformen). Die "grundlegende oder mustergültige" Materie-Form-Unterscheidung hat m.A.n. Aristoteles am besten herausgearbeitet.

https://www.textlog.de/6323.html
Stoff und Form
(Möglichkeit und Wirklichkeit)


Trotz seiner Bestreitung der platonischen Ideenlehre, fühlt Aristoteles das Bedürfnis, etwas von deren leitenden Gedanken in seine »erste« Philosophie hinüberzuretten. Zu diesem Zwecke führt er ein seitdem in der Philosophie eingebürgertes Begriffspaar ein: Form (mit dem platonischen eidos, aber auch als morphê = Gestalt bezeichnet) und Stoff oder Materie (hylê, von ihm selbst erfundener t. t.). Der Stoff ist die gestaltlose, starre Substanz, das »zugrunde Liegende« (hypokeimenon), die Form dessen Gestaltung. Erz und Marmor z.B. sind der Stoff, die fertige Bildsäule die Form; Holz, Steine und Erde der Stoff, das Haus ihre Form; bei dem Menschen sein Leib der Stoff, Leben und Seele die Form. Nie existiert ein Stoff ohne alle Form, wohl dagegen ein selbständiges Formprinzip: der reine Begriff oder das bleibende Wesen der Dinge (to ti ên einai). Doch ist ein formloser, gänzlich unbestimmter Stoff, eine »erste« oder »letzte« Materie (prôtê oder eschatê hylê) wenigstens - denkbar; es wird eine »wahrnehmbare« (aisthêtê) und eine bloß »denkbare« (noêtê) Materie unterschieden. So schleicht das Immaterielle, welches vermieden werden sollte, zur Hintertür wieder hinein. Dabei bilden nicht etwa feste mathematische oder physikalische Bestimmungen das Formelement, sondern der Gegensatz zwischen Form und Materie ist ein durchaus fließender. Was in der einen Beziehung Stoff ist, kann in einer anderen Form sein; so ist das Bauholz Form im Verhältnis zum unbehauenen Stamme, Stoff im Verhältnis zum fertigen Haus, die Seele Form im Verhältnis zum Körper, Stoff für die Vernunft, welche »die Form der Form« (eidos eidous) darstellt. Derselbe Widerspruch, wie bei dem Einzelnen und Allgemeinen (Nr. 1), tritt auch hier hervor. Einerseits soll der Stoff als das wahrhaft individualisierende Prinzip die wahre Substanz sein, anderseits wird doch wieder, und zwar viel häufiger, der Form das wahre Sein zugesprochen, indem sie (als eidos) mit der Substanz oder Wesenheit (ousia) identifiziert wird; dazu heißt endlich noch ein Drittes Substanz, nämlich das aus beiden zusammengesetzte Einzelding (synolon ex amphoin).

Ja, noch weiter als bis zu jener Abstraktion eines bestimmungslosen Urstoffes verflüchtigt sich der Begriff der Materie, zur bloßen Möglichkeit (dynamis) oder dem Möglichen (Potentiellen, dynamei on), während die Form zur Verwirklichung (energeia oder entelecheia17) oder dem Wirklichen (Aktuellen energeia on) erhoben wird. Die Materie ist also »ein Etwas bloß der Möglichkeit nach«, wie der Baum, der im Keim, der Mann, der im Knaben steckt, und erst durch die Form sich verwirklicht. So ist die Materie zugleich das Unvollkommene (z.B. der Schlafende, der denken Könnende), die Form seine Vollendung (z.B. der Wachende, der wirklich Denkende). Reine Form ist nur der göttliche Geist. Das Einzelding ist weder je reine Anlage noch völlig verwirklichte Form. Die Hauptsache ist eben für Aristoteles die Beleuchtung des dazwischen liegenden Entwicklungsprozesses.




Benutzeravatar
AufDerSonne
Beiträge: 1294
Registriert: Do 1. Sep 2022, 19:44

Mo 8. Jan 2024, 20:32

1+1=3 hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 20:13
Damit kann ich sehr gut etwas anfangen. M.E. kann man materielle Dinge primär über ihre Eigenschaften unterscheiden. Und die hängen vor allem von ihrer Form ab (im "Zusammenspiel" mit der beteiligten Materie). Funktion und Zweck sehe ich als mögliche sozusagen Unterklassen von Form an (spezielle eben Spezial-/Sonder- oder Unterformen).
Was sagst du zu meiner Behauptung, dass keine zwei materielle Gegenstände genau gleich sein können?



Ohne Gehirn kein Geist!

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23565
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 8. Jan 2024, 20:50

Welchem Zweck dient die Einschränkung auf materielle Dinge?




Benutzeravatar
AufDerSonne
Beiträge: 1294
Registriert: Do 1. Sep 2022, 19:44

Mo 8. Jan 2024, 20:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 20:50
Welchem Zweck dient die Einschränkung auf materielle Dinge?
Ich dachte an die Geometrie, wo zum Beispiel zwei Kreise mit gleichem Radius, genau gleich sind.
Also man kann sie zur Deckung bringen. Oder zwei gleiche Dreiecke sind genau gleich.

Oder meinst du, dass überhaupt ein Ding nie genau gleich sein kann wie ein anderes?



Ohne Gehirn kein Geist!

1+1=3
Beiträge: 577
Registriert: Di 22. Jun 2021, 00:50

Mo 8. Jan 2024, 20:58

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 20:32
Was sagst du zu meiner Behauptung, dass keine zwei materielle Gegenstände genau gleich sein können?
Absolute Gleichheit wäre doch "Identität", oder? Vielleicht sind Elektronen "miteinander identisch" ... (?)




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23565
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 8. Jan 2024, 21:05

Zwei Dinge sind identisch, wenn sie alle Eigenschaften teilen, dann können es allerdings nicht mehr zwei Dinge sein.

Jedes Ding ist mit sich selbst identisch.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23565
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 8. Jan 2024, 21:23

Eigenschaften ermöglichen es uns, Dinge zu unterscheiden. Es gibt jedoch eine "Eigenschaft", die dabei nicht sehr hilfreich ist, nämlich die Eigenschaft zu existieren. Wenn ich etwas mitbringen soll, das grün und rund ist, dann weiß ich ungefähr, was ich zu tun habe, aber wenn ich etwas mitbringen soll, das existiert, dann kann ich alles mitbringen oder nichts. Alle Dinge haben schließlich gemeinsam, dass sie existieren.




1+1=3
Beiträge: 577
Registriert: Di 22. Jun 2021, 00:50

Mo 8. Jan 2024, 21:27

Eine - die? - "Grundeigenschaft". Ist (!) sie nicht gegeben (!), ist gar nichts (-> "Nichtexistenz", "Nichts") gegeben.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23565
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 8. Jan 2024, 21:49

Ein Blick in Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises könnte hier hilfreich sein. Sie ist mir aber nicht mehr präsent. Sein ist kein reales Prädikat heißt es dort wörtlich oder sinngemäß.




Benutzeravatar
AufDerSonne
Beiträge: 1294
Registriert: Do 1. Sep 2022, 19:44

Mo 8. Jan 2024, 22:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 21:05
Zwei Dinge sind identisch, wenn sie alle Eigenschaften teilen, dann können es allerdings nicht mehr zwei Dinge sein.

Jedes Ding ist mit sich selbst identisch.
Das ist aber ein schneller Gedanke (metaphorisch gemeint :D ). Wenn es keine zwei Dinge gibt, die genau gleich sind, also identisch, dann gäbe es ja extrem viele Dinge.
Zum Beispiel wäre auch kein Atom dem anderen genau gleich. Ist das deine Meinung, dass kein Atom und auch kein Elektron genau gleich sind?
Das finde ich interessant.



Ohne Gehirn kein Geist!

1+1=3
Beiträge: 577
Registriert: Di 22. Jun 2021, 00:50

Mo 8. Jan 2024, 22:14

Reale Dinge ("Materie-Form-Einheiten") sind praktisch niemals vollkommen gleich (außer mit sich selbst), ideale "Dinge" ("reine Formen") dagegen schon (etwa als "Archetypen" u.ä. idealistische "Konstrukte").




Benutzeravatar
AufDerSonne
Beiträge: 1294
Registriert: Do 1. Sep 2022, 19:44

Mo 8. Jan 2024, 22:17

1+1=3 hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 22:14
Reale Dinge ("Materie-Form-Einheiten") sind praktisch niemals vollkommen gleich (außer mit sich selbst), ideale "Dinge" ("reine Formen") dagegen schon (etwa als "Archetypen" u.ä. idealistische "Konstrukte").
Kannst du ein Beispiel für ein ideales Ding nennen?



Ohne Gehirn kein Geist!

1+1=3
Beiträge: 577
Registriert: Di 22. Jun 2021, 00:50

Mo 8. Jan 2024, 22:37

Ja:
AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 20:53
Ich dachte an die Geometrie, wo zum Beispiel zwei Kreise mit gleichem Radius, genau gleich sind.
Also man kann sie zur Deckung bringen. Oder zwei gleiche Dreiecke sind genau gleich.
😉




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23565
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 9. Jan 2024, 08:26

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 22:06
Das ist aber ein schneller Gedanke
Das ist mein "Schulwissen", wenn ich mich recht erinnere. Die Definition von Identität ist Pi mal Daumen von Leibniz. Wenn zwei Dinge A und B in allen ihren Eigenschaften übereinstimmen, dann sind A und B identisch. Und dass jedes Ding mit sich selbst identisch ist, stammt aus dem Grundkurs Logik :-) und ist trivial.




Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Sa 13. Jan 2024, 17:25

zur Unterscheidung von Dingen würde ich neben den phänomenalen Eigenschaften die räumliche und zeitliche Verortung noch hinzuzählen.



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23565
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Sa 13. Jan 2024, 20:39

Ja, das denke ich auch, wo sich ein Ding befindet im vierdimensionalen Raum, das gehört zu seinen Eigenschaften.




Timberlake
Beiträge: 1675
Registriert: Mo 16. Mai 2022, 01:29
Wohnort: Shangrila 2.0

Sa 13. Jan 2024, 21:13

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 22:06
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 21:05
Zwei Dinge sind identisch, wenn sie alle Eigenschaften teilen, dann können es allerdings nicht mehr zwei Dinge sein.

Jedes Ding ist mit sich selbst identisch.
Das ist aber ein schneller Gedanke (metaphorisch gemeint :D ). Wenn es keine zwei Dinge gibt, die genau gleich sind, also identisch, dann gäbe es ja extrem viele Dinge.
Zum Beispiel wäre auch kein Atom dem anderen genau gleich. Ist das deine Meinung, dass kein Atom und auch kein Elektron genau gleich sind?
Das finde ich interessant.
Vor dem Hintergrund , dass die Mathematik so rechnet ,als ob die zwei Dinge identisch wären, ist dieser schneller Gedanke allerdings interessant.

1Apfel + 1Apfel = 2 Äpfel

Führt dieser Gedanke doch diese Rechnung de facto ad absurdum.




Benutzeravatar
AufDerSonne
Beiträge: 1294
Registriert: Do 1. Sep 2022, 19:44

Sa 13. Jan 2024, 21:25

Was denkt ihr? Gibt es irgendwo im Universum zwei identische materielle Dinge? (Die sich nur durch den Ort, den sie einnehmen unterscheiden?)

Und wenn nicht. Wäre es theoretisch denkbar, dass es das gäbe?



Ohne Gehirn kein Geist!

Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 1885
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

So 14. Jan 2024, 07:39

Wenn sie nicht am gleichen Ort zur selben Zeit sind, sind sie nicht identisch, sondern besitzen bestenfalls eine gewisse Anzahl gleicher Eigenschaften. Auf bestimmte Eigenschaften bezogen mögen sie gleich sein, aber die Eigenschaft ihres Ortes ist ungleich, daher sind sie nicht identisch.

Wenn das "Atom-Sein" als Eigenschaft betrachtet wird, und dies auf viele Dinge zutrifft, so sind -- in dieser Eigenschaft -- jene vielen Dinge alle gleich, denn sie sind alle Atome ("Atom sein").

Wenn das "Mensch-Sein" als Eigenschaft betrachtet wird, und dies auf viele Dinge zutrifft, so sind -- in dieser Eigenschaft -- jene vielen Dinge alle gleich, denn sie sind alle Menschen ("Mensch sein").

Auf einem Bauernhof sehe ich Hühner und Menschen. Die Hühner sind alle Hühner, die Menschen sind alle Menschen. Wenn ich jetzt die Stimmfarben dieser Wesen vergleiche, höre ich Unterschiede. Der Eigenschaft des Huhnseins und des Menschseins addiere ich nun die Eigenschaft der Stimmfarbe. Jetzt betrachte ich Huhnsein plus Stimmfarbe als Gesamtkriterium. Auf diesem erweiterten Gesamtkriterium basierend kann ich jene Wesen nicht mehr als "gleich" bezeichnen. Huhn Berta krächzt anders als Huhn Frida. Mensch Bärbel klingt runder als Mensch Otto. Berta und Frida sind so betrachtet nicht mehr gleich. Sie sind nur gleich in ihrer Eigenschaft als Huhn. Identisch sind sie erst recht nicht, weil ihre Raumzeitkoordinaten verschieden sind.




Antworten