Da bin ich wirklich sehr erleichtert, dass es nicht nur mir so geht.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Sa 6. Jun 2020, 06:48Wittgenstein hat sinngemäß gesagt, einen Satz verstehen, heißt verstehen, was der Fall ist, wenn der Satz wahr wäre. Und an dieser Stelle hänge ich offensichtlich fest. Ich kann mir wirklich noch nicht ausmalen, was eigentlich gemeint ist.
Wir stimmen überein darin, dass der Satz "der Berg denkt" wohl nicht wörtlich zu nehmen ist (also im Sinne von: "Der Berg hat ein denkendes Bewusstsein").
Was also kann gemeint sein?
Verschiedene Sachen kamen mir in den Sinn.
Zuerst meinte ich es sei gemeint, dass wir uns den Berg einfach nur denkend vorstellen sollen. Es geht also gar nicht darum ob der Berg nun wirklich denkt oder nicht, sondern sich gewissermaßen hineinzuversetzen in einen Berg. Irgendwie liegen mir Berge bei der Übung nicht so, aber Bäume fallen mir leichter.
Ich habe schon das eine oder andere Mal versucht mir vorzustellen ein Baum zu sein. Ein großer. Mit einer riesigen Krone. Und dann versuchte ich mir vorzustellen wie es sich wohl als Baum lebt. Wie muss das sein, wenn der Wind durchs Geäst streicht. Stell Dir das vor. Hunderttausende Blätter und jedes einzelne wird vom Wind bewegt, gibt den Reiz der Windberührung an den Baum weiter. Das muss ein phantastisches Gefühl sein. Auch die Sonne müsste ich als Baum viel intensiver spüren können, einfach weil ich viel mehr Fläche zur Verfügung hätte um die Sonnenstrahlen aufzufangen. Und wie ist es als Baum wohl im Wald? Als einer unter vielen Bäumen? Und im Sturm, und als Behausung für die Vögel, usw. Sich in andere Dinge gedanklich hineinzuversetzen ist eine Übung die ich durchaus gerne mache. Ich wäre auch gerne mal eine Frau. Wie muss das wohl sein, schwanger zu sein? Wenn man fühlt wie das Leben in einem wächst? Für diese Verbindung können wir die Frauen doch einfach nur beneiden.
Und so neide ich dem Baum auch ein bißchen seine Krone. Können mir solche Gedanken ein größeres Verständnis für die Natur bescheren? Vielleicht.
Dann habe ich versucht den Weg über die Bedeutung zu gehen. Gemeint ist nicht, dass der Berg denkt, sondern dass er prägender Teil des Denkens ist.
Ich bin in der Stadt aufgewachsen und diese Erfahrung prägt mein Denken. Ich denke urban.
Jemand der am Hang oder Fuß eines Berges aufgewachsen ist, dessen Denken ist von den Erfahrungen eines Lebens an und mit dem Berg geprägt.
Das trifft umso mehr zu, wenn der Berg nicht nur einfach die Heimstätte, sondern auch Lebensgrundlage ist. Dann hat er Bedeutung als Ernährer und ihn zu verstehen, kann (über-)lebenswichtig sein.
Oder wenn er das Leben ständig bedroht (wie zum Beispiel ein aktiver Vulkan). Auch dann ist es umso wichtiger die "Bestie Berg" genau zu kennen und stets zu wissen "was der Berg denkt".
Für die Gemeinschaft am Fuße des Berges ist der Berg der Ort der sie ernährt, oder der Ort an dem die Geister der Ahnen wohnen, wo sie hingehen, wenn sie sich nach ihnen sehen oder Rat suchen. Für Andere ist der Berg der Ort, wo ihnen ihre Gottheit zehn Gebote überbrachte. Welch ungemein wichtiger Ort.
Alles Denken dreht sich um den Berg, so wie sich bei mir als Stadtkind alles um die Stadt dreht.
Zum Schluß hab ich versucht mich "aus meiner Hülle zu lösen" um Teil meiner Umgebung zu werden, bzw die Umgebung Teil meiner Selbst werden zu lassen.
Wenn ich in meinem Arbeitszimmer sitze, dann sehe ich, dass dieses Zimmer irgendwie auch "Ich" ist. So wie das Haus die Handschrift des Architekten trägt, ist mein Arbeitszimmer voll von allem was ich bin. Und es ist gestaltet nach meinem Willen und meinen Vorstellungen. Wenn ich mich in den Zimmer aufhalte, dann ist die Grenze, die meine "Hautbarriere" normalerweise darstellt gedanklich schnell überschritten und sie kommt mir dann willkürlich vor. Wieso endet denn mein "Ich" an meiner Hautgrenze? Warum nicht an dem Regal da drüben wo alle meine Urlaubserinnerungen stehen? Das bin doch auch ich, oder?
Von dort aus ist die Vorstellung nicht mehr weit, dass auch das Haus in dem ich lebe ein Stück weit zu mir gehört und irgendwann auch der Baum und der Berg und "meine" Stadt.
Diesen Gedanken musste ich dann aber aufgeben, weil ich einsehen musste, dass diese "Ausdehnung" meines Ichs zu Recht auch als übergriffig empfunden werden kann.
Denn wenn mein Kollege in den Raum kommt, wird der darauf bestehen, dass mein Ich spätestens an seiner "Hautgrenze" ein Ende findet.
Und umgekehrt natürlich auch. Ich bin ich. Und Du bist Du. Da bestehen wir wahrscheinlich beide drauf. Diese Grenzen haben für uns durchaus existenzielle Bedeutung.
Fazit: Ich kann mir vorstellen, dass solche Übungen den Geist erweitern. Sie schärfen das Bewusstsein für alles was uns umgibt. Das ist, so würde ich meinen, eine wichtige Voraussetzung für einen Naturforscher. Vielleicht ist ja das mit dem "denkenden Berg" gemeint. Sich einfach zu öffnen und aufnahmebereit zu sein. Weil einem sonst vielleicht das Wichtigste entgeht?
Wohl nicht. Für Poesie braucht man andere Rezeptoren. Ich kann mich erinnern, dass ich von den Gedichtsanalysen im Deutschunterricht immer angewidert war. Ich hatte immer das Gefühl man täte dem Autor des Gedichts Unrecht, wenn man es auf Versmaße reduziert. Denn das worauf so ein Gedicht abzielt (oder wo es hinzielt) liegt doch ganz woanders.Was ein Gedicht W. C. Williams bedeutet oder ein Lächeln oder ein wilder Tanz - das können uns die Naturwissenschaften nicht sagen.
Andererseits ist auch die Frage wie es sich umgekehrt verhält. Liefern uns Poesie und Lyrik einen eigenen Zugang zur Natur?
Doch. Ich würde sagen ja. Einen anderen, sicher. Aber doch einen wertvollen. Als Beispiel nenne ich mal Hemmingways "Der alte Mann und das Meer". Keine Poesie, aber auch keine Naturwissenschaft. Und dennoch: Die Sichtweise Hemmingways, der die Natur in seinem Roman als brutal und erbarmungslos beschreibt, die einem Fischer auch das letzte Stück Fisch nicht gönnt, war mir vorher fremd. So hatte ich die Natur vorher nie betrachtet. Und ja, es steckt Wahrheit darin. Es ist eine Seite der Natur, auch wenn sich das Erbarmungslose an ihr sicher nicht messen lässt.