"Wahrheit ist nicht schnell zu haben" - Essay über die Literatur

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Friederike
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Mi 18. Okt 2017, 09:55

Zum gemächlichen Lesen verlinke ich einen kleinen Essay von Sasha Marianna Salzmann, "Lob der Langsamkeit, "in: Jüdische Allgemeine/11.10.2017, aus dem ich auszugsweise einige kurze Passagen zitiere. Es sind die, die mich an Themen haben denken lassen, die hier im Forum derzeit mehr oder weniger philosophisch erörtert werden. Was ist Wahrheit oder die poetische Philosophie, insbesondere auch die Poesie, die die Philosophie als "Lehrerin der Menschheit" überdauern wird (wie es "Das älteste Systemprogramm" prophezeit). Und die Passagen, in denen große Worte und umstürzlerische Gedanken in bescheidendem Kleid auftreten.
Salzmann hat geschrieben : Literatur ist ein aktiver Bestandteil der Weltmetamorphose, weil sie die subjektive Wahrheit eines oder mehrerer Menschen auf eine Weise festschreibt, wie wir sie in Geschichtsbüchern nicht finden können.

Literarische Bücher schärfen wie kein anderes Medium unsere Wahrnehmung, weil sie uns zur Aufmerksamkeit über längere Strecken zwingen. Konsequent teilnehmendes Lesen funktioniert nicht mit einem Handy in der Hand. Dem selbstauferlegten Zwang, spontan Stellung zu nehmen zum Alltagsgeschehen, widerspricht der Roman von seinem Wesen her. Er verlangt Konzentration – und dass wir Stille aushalten.

Die Unverbindlichkeit der Meinungsäußerungen in sozialen Netzwerken fördert die Ungenauigkeit der Gedanken, die auch die Kommunikationswege im Alltag immer unpräziser macht. Es scheint immer weniger notwendig, einen Satz zu Ende zu denken. Wir werden immer ungeduldiger. Wir sind unzufrieden. Es geht uns zu langsam. Wir wollen Ergebnisse – jetzt gleich sofort.

Aber die kindliche Enttäuschung darüber, dass man die Einlösung gegebener Versprechen oft genug nicht direkt erlebt, ist Unsinn angesichts des Laufs der Geschichte: Wo wäre die Menschenrechtsbewegung, ließe sie nach jeder nichterfüllten Forderung die Schultern hängen? Jüngst verwies die US-Bürgerrechtlerin Angela Davis beim Oakland Book Festival darauf, dass allein die Tatsache ihrer Präsenz auf einem prominent besetzten Podium dieses Festivals die Folge jener Kämpfe sei, die seit Hunderten von Jahren geführt werden. Wir müssen anfangen, damit Frieden zu schließen, dass wir für einen Fortschritt kämpfen, den wir womöglich nicht mehr erleben werden.

Nicht umsonst sind die Schreibenden oft genug die Ersten, die von autokratischen Regimen verfolgt werden. Die Feder ist ein gefährliches Werkzeug, weil sie nicht verhandelbare Wirklichkeiten herstellt – Literatur schuldet der Realpolitik keine Rechenschaft.

Die verlässlichste Quelle der Menschheitsgeschichte ist seit jeher die Poesie. Man kann sie nicht updaten. Man kann sie nicht liften und photoshoppen. Gedichte, Dramen, Romane und Erzählungen sind die Veranschaulichung aller Nuancen menschlichen Empfindens, und sie sind in der Behauptung dieser existenziellen Befindlichkeiten immer wahr.




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Alethos
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Do 19. Okt 2017, 22:26

Ich bin nicht sicher, und auch nicht wirklich unsicher: Ich bin ein wenig gleichgültig eingestellt zur Wahrheit: Für mich ist Wahrheit lediglich ein Instrument, un zu sagen: Ja, es ist so! Sieh her, das sagte ich, und sieh hier, das belegt es. Ich bin ein Indiziensuchender, ein Korrespondenztheoretikerchen. Hier und da, da frage ich mich: Ja, was ist denn Wahrheit, aber dann überkommt mich die Lust, in die Welt zu tauchen und in ihr versunken zu sein, wie ein ahnungsloser Fisch, und in diesem Meer an Fülle ganz aufzugehen. Und dann habe ich auch keine Angts vor den Haien, vor Generälen und von grossen Männern und Frauen, die die Wahrheit auf ihrer Zunge tragen wie Harpunen...



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novon
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Do 19. Okt 2017, 23:20

@alethos
Sprich: Du unterscheidest nicht zwischen Wahrheitskonzept und Erkenntnismöglichkeit...?




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Alethos
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Do 19. Okt 2017, 23:30

Ich denke, dass es eine ganz euhige Wahrheit gibt, die sich nicht überall aufdrängen muss und ich denke, dass diese die literarische ist.



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Alethos
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Fr 20. Okt 2017, 19:50

Und ja, ich habe auch einen etwas literarischen Touch reinbringen wollen. Dass dies missraten ist, ist ja auch witzig :)
Man darf auch scheitern.



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Nauplios

Mi 25. Okt 2017, 20:37

Sasha Marianna Salzmann (zitiert von Friederike im Eingangsbeitrag dieses Threads) schreibt:

Die verlässlichste Quelle der Menschheitsgeschichte ist seit jeher die Poesie. Man kann sie nicht updaten. Man kann sie nicht liften oder photoshoppen. Gedichte, Dramen, Romane und Erzählungen sind die Veranschaulichung aller Nuancen menschlichen Empfindens und sie sind in der Behauptung dieser existentiellen Befindlichkeiten immer wahr.
Dazu ein Zitat von Roland Barthes, welches das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft auf eine noch etwas radikalere Weise anspricht:

"Die Literatur besitzt alle sekundären Merkmale der Wissenschaft, das heißt, alle Attribute, die sie nicht definieren. Ihre Inhalte sind die der Wissenschaft: Es gibt sicherlich keinen einzigen wissenschaftlichen Stoff, der nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Weltliteratur behandelt wurde: Die Welt des Werks ist eine totale Welt, in der jegliches Wissen (das gesellschaftliche, psychologische, historische) Platz hat, so daß die Literatur für uns jene große kosmogonische Einheit besitzt, deren sich die alten Griechen erfreuten, die uns der aufgesplitterte Zustand der Wissenschaften heutzutage jedoch versagt. Zudem ist die Literatur, wie die Wissenschaft, methodisch: Sie hat ihre Forschungsprogramme, die je nach Schulen und Epochen variieren (wie übrigens die der Wissenschaft), ihre Untersuchungsregeln und mitunter sogar ihre experimentellen Ansprüche. Die Literatur hat, wie die Wissenschaft, ihre Ethik, eine bestimmte Art und Weise, aus ihrem Selbstverständnis die Regeln ihres Tuns abzuleiten und folglich ihre Unternehmungen einem gewissen Geist des Absoluten zu unterwerfen.
Ein letzter Zug vereint Wissenschaft und Literatur, trennt sie zugleich aber auch zuverlässiger voneinander als jeder andere Unterschied: beide sind Diskurse (was in der Idee des antiken logos gut zum Ausdruck kam), aber zur Sprache, die beide konstituiert, stehen, oder wenn man lieber will, bekennen sich die Wissenschaft und die Literatur auf je andere Weise. Für die Wissenschaft ist die Sprache lediglich ein Instrument, das es so transparent, so neutral wie möglich zu gestalten und der wissenschaftlichen Materie (Operationen, Hypothesen, Resultate) zu unterwerfen gilt, die, so heißt es, außerhalb von ihr existiert und ihr vorgängig ist: Es gibt einerseits und zuerst die Inhalte der wissenschaftlichen Mitteilung, die alles sind, andererseits und danach die verbale Form, die diese Inhalte auszudrücken hat und nichts ist. [...]
Für die Literatur hingegen, zumindest für die von Klassik und Humanismus losgelöste, kann die Sprache nicht mehr das bequeme Instrument oder der luxuriöse Dekor einer gesellschaftlichen, gefühlsbewegten oder poetischen ˋRealität´ sein, die ihr vorgängig wäre und deren Ausdruck sie mittels Unterwerfung unter Stilregeln zusätzlich zu besorgen hätte: Die Sprache ist das Wesen der Literatur, ihre eigentliche Welt: Die gesamte Literatur ist im Schreibakt enthalten, und nicht mehr in dem des ˋDenkens´ , des ˋAusmalens´, des ˋErzählens´ oder des ˋFühlens´." (Roland Barthes; Das Rauschen der Sprache; S. 9f) -

Literatur und Wissenschaft haben ein unterschiedliches Verhältnis zur Sprache; das der Wissenschaft ist ein instrumentelles, das der Literatur ein inclusives, das sich im Akt des Schreibens ereignet. Abgesehen davon, daß die These vom bequemen Instrument der Sprache für die Wissenschaft fragwürdig ist - auch die Wissenschaft bleibt angewiesen auf Rhetorik - stellt sich die Frage nach der "poetischen Philosophie" auf eine Weise, die in den inneren Bezirk letztlich auch der Philosophie führt. Poetische Philosophie ist ja nicht Philosophie - nur poetisch "ausgedrückt"; Philosophie dürfe man eigentlich nur dichten, schreibt Wittgenstein; und Heidegger geht bekanntlich in die Anfänge der griechischen Dichtung zurück. Nietzsche schrieb Aphorismen, Montaigne Essais, Peter Fuchs schreibt Lehrgedichte ... und der Verbanner der Dichter aus dem idealen Staat, Platon, zeichnet sich vor allem durch Mythen aus, die er immer dann erzählt, wenn es um philosophisch Wesentliches geht. Und zu den Mitteln der Rhetorik greifen Philosophen fast immer dann, wenn sie für Rhetorik-Verbote kämpfen. Man könnte meinen, man hätte die Wahl zwischen Philosophie und Poesie/Rhetorik. Aber die hat man nicht.




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Jörn Budesheim
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Do 2. Nov 2017, 06:23

Die Behauptung der Autorin, dass die Zahl der Buchleser zurückgeht, wollte ich eigentlich nicht glauben... Aber die Statistiken und Prognosen für Deutschland geben ihr Recht, leider > https://de.statista.com/statistik/daten ... seit-2003/




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