Gabriel wendet sich natürlich nicht gegen die Wissenschaften. (Immerhin ist die Philosophie ihrerseits eine Wissenschaft, wenn natürlich auch keine Naturwissenschaft.) Gabriel bemängelt in dem Podcast ganz im Gegenteil, dass nach seiner Einschätzung in der Krise vieles gerade eben nicht wissenschaftlich angepackt wurde. Wobei er ganz klar deutlich macht, dass der "wissenschaftlichste" Erfolg war, dass wir "erfreulicherweise Impfstoffe entwickelt haben". Aus diesen Gründen ist Gabriel auch kein Joker für Herbert.WDR hat geschrieben : "Die sozialen Netzwerke können den Impfstoff diskreditieren", sagt der Philosoph Markus Gabriel. Der Austausch in solchen Netzen sei eine große Gefahr für den Erfolg der Corona-Impfungen, so der Professor der Uni Bonn. Es werde das Gerücht verbreitet, dass der Impfstoff gesundheitliche Risiken berge. Gabriel wünscht sich eine noch bessere Kommunikation der Politik und der Wissenschaft sowie eine "Informationsoffensive der seriösen Qualitätsmedien"
Aber man kann politische Entscheidungen nicht einfach an die Wissenschaft delegieren, auch wenn "die Objektivität der Wissenschaften der Schlüssel" (Gabriel in dem Podcast) zur Lösung der Krise sein sollte. Die Frage, was zu tun ist, kann man nur über die Disziplinen hinweg gemeinschaftlich beantworten. Das ist eine Sichtweise, die sich aus der Sinnfeld-Ontologie zwingend ergibt: da es viele verschiedene Bereiche gibt, gibt es auch viele verschiedene Wissensbereiche mit vielen verschiedenen Arten und Weisen der Wissensgenerierung. Daher kann man ein komplexes Problem, dass viele verschiedene Teilsysteme umfasst, nicht an einen einzigen Wissensbereich delegieren.
Deswegen macht Gabriel (nach meiner Einschätzung in Übereinstimmung mit Doll) in dem Podcast "transdisziplinäre" Ansätze stark, wie sie in der Universität in Bonn, wo Gabriel lehrt, mit viel Erfolg praktiziert werden, wo viele Vertreter der verschiedenen Wissens-Bereiche (Ökonomen, Soziologen, Virologen, Mathematiker, Mediziner, Ethiker, Juristen, Philosophen, Geisteswissenschaftler...) gemeinsam an einem Tisch sitzen, auch mit dem Ziel, das Wissen aus dem Elfenbeinturm Universität in die Gesellschaft hinein zu tragen. Das ist gelebte Sinnfeld-Ontologie. Denn "die Welt ist unendlich", wie Gabriel mit Doll am Ende noch einmal deutlich macht. Das ist nur eine andere Formulierung für den bekannten Slogan Gabriels, dass es die Welt nicht gibt, für die eine einzige Disziplin zuständig sein und in welcher Form auch immer eine Deutungshoheit in Anspruch nehmen könnte. Denn als Philosoph sollte man nicht die Komplexität der Welt nicht reduzieren (alles ist x) sondern "ertragen".
Ein großes Problem zur Bewältigung der Krise sind aus Sicht von Gabriel und Doll hingegen viele der digitalen Kommunikationsstrukturen und insbesondere die sozialen Netzwerke, die in ihrer Eigenlogik oftmals nicht Wissen, sondern Desinformationen befördern. [Wir kennen das in einer gewissen Form auch hier aus dem Forum: Jede:r kann in den dunkelsten Ecken des Netzes diejenigen fake-news finden und verbreiten, die zu seiner oder ihrer Weltsicht passen. Alle Warnschilder, so offensichtlich sie auch sein mögen, werden ignoriert, sobald einem die Meldung schmeckt.] "Jeder pickt sich raus, was ihm gerade so gefällt" macht Alexander Doll in dem selben Podcast geltend: "die digitale Wissensgesellschaft hat nicht funktioniert." Aus demselben Grund fordert Gabriel eben auch bessere Kommunikation von Wissenschaft und Politik. Das ist auch ein Teil des transdisziplinären Ansatzes, würde ich meinen.