Wer, wie, was ist "ich"?

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Madison
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Mi 6. Jun 2018, 19:06

Friederike hat geschrieben :
Mi 6. Jun 2018, 14:12
Ich kann mir unter dem "institutionalisierten Profil" schon nichts vorstellen, und was hat das Wörtchen "affektiv" da zu suchen?
Ich versuch´s mal:
Die gelungene Singularität resp. Einzigartigkeit hat eine narrative, ästhetische und gestalterische Qualität. Das Internet ist sozusagen eine Affektmaschine, denn der Kulturcharakter im Netz –Texte, Bilder – ist mit Affekten aufgeladen. Die digitale Kultur ist überwiegend eine Kultur der Visualität. Dies sieht man nicht nur auf Plattformen wie YouTube, sondern auch daran, dass andere soziale Medien (Facebook, Twitter) immer mehr auf Bilder umstellen. Der Geltungsbedarf im Internet schafft eine kulturelle Umwelt, welche Subjekte immerzu affiziert. Die Plattformen in der Netzkultur schaffen somit die institutionellen Rahmenbedingungen.




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Jörn Budesheim
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Mi 6. Jun 2018, 19:12

Wieso hat eine Singularität überhaupt Geltungsbedarf, als Singularität wäre doch das Leben der Einsiedler vorzuziehen?!




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Friederike
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Mi 6. Jun 2018, 19:15

Danke für Deine Beschreibung des Sachverhaltes @Madison. Ich war später schon in Zweifel, ob Du den Satz überhaupt ernst gemeint hattest. Gut, ich verstehe - ob ich Dir zustimme, weiß ich -noch- nicht. :lol:




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Madison
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Mi 6. Jun 2018, 19:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 5. Jun 2018, 06:05
In dieser Sicht ist das Ich kaum etwas anderes als ein Selbstdarsteller auf dem digitalen Markt der Eitelkeiten?!
Das wäre gewissermaßen eine Kurzversion. Der Kampf um Sichtbarkeit und Selbstrepräsentation, -produktion war zwar immer schon da. Nur heute ist es krasser; als Folge der Medientechnologie bedeutet die Unsichtbarkeit bzw. das Scheitern der Selbstfabrikation den digitalen Tod.




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Madison
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Mi 6. Jun 2018, 19:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 6. Jun 2018, 19:12
Wieso hat eine Singularität überhaupt Geltungsbedarf, als Singularität wäre doch das Leben der Einsiedler vorzuziehen?!
Als Einsiedler würde ihm doch die Beifallskulisse fehlen...Singularität meint hier die Herausstellung der Einzigartikeit und Originalität um nicht unter Konformitätsverdacht zu geraten. Performative Selbstverwirklichung hat nur Sinn auf dem Attraktivitätsmarkt der Außergewöhnlichkeiten.




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Jörn Budesheim
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Mi 6. Jun 2018, 19:53

Das macht allerdings den Ausdruck Singularität problematisch, denn eine Position im sozialen Netz ist eben durch das Soziale und das Netz gekennzeichnet und damit keine Singularität, oder?




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Jörn Budesheim
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Mi 6. Jun 2018, 20:24

Die Idee der Singularität ergibt einen interessanten Konflikt mit etwas was wir an anderer Stelle diskutiert haben, daß nämlich Leute um der Gruppenzugehörigkeit Willen im Netz sogar die Wahrheit beugen. Hier steht die Gruppe im Vordergrund.

https://www.dialogos-philosophie.de/viewtopic.php?t=450




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Madison
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Do 7. Jun 2018, 19:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 6. Jun 2018, 19:53
Das macht allerdings den Ausdruck Singularität problematisch, denn eine Position im sozialen Netz ist eben durch das Soziale und das Netz gekennzeichnet und damit keine Singularität, oder?
Ich glaube hier besteht ein Begriffsmissverständnis. Singularität hat nichts mit dem klassischen Single-Dasein zu tun, sondern damit, dass ich eine Selbstmodellierung betreibe und zwar derart, dass ich unverwechselbar, einzigartig bin. Singularität ist eine Art Querschnittsbegriff für sämtliche Einheiten des sozial-kulturellen Bereiches. Er umfasst praktisch den gesamten Lebensstil der umfassend kulturalisiert wird, also die Art des Wohnens, Bildung, Essen, Beruf, Reisen, Körper, Erziehung usw. Diese Kulturpraktiken haben über ihren funktionalen Nutzen hinaus einen eigenen Wert, den Prestigewert, nämlich wenn ich die Singularisierungsarbeit erfolgreich betreibe. Hauptvertreter ist hier die neue, akademische Mittelklasse.




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Friederike
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Fr 8. Jun 2018, 14:07

Madison hat geschrieben :
Do 7. Jun 2018, 19:26
[...] Diese Kulturpraktiken haben über ihren funktionalen Nutzen hinaus einen eigenen Wert, den Prestigewert, nämlich wenn ich die Singularisierungsarbeit erfolgreich betreibe.
Ich überlege, worin sich der Erfolg oder Mißerfolg zeigen könnte ... in der Anzahl der Klicks auf den Blog, bei fb? Die Anerkennung muß öffentlich erfolgen, andernfalls wäre der Erfolg überhaupt nicht einzuschätzen. Genaugenommen weiß ich gar nicht, wer die neue akademische Mittelklasse vertreten soll? Gehören dazu die selbständigen "Coaches", die alles und jeden "coachen"? Lehrerinnen, It-lerInnen mit kleinen Unternehmen, die superinnovative Projekte in Szene setzen? Und bilden die SingularistInnen auch eine "Blase"? Gut, falls es sich dabei u.a. um selbständige Gewerbetreibende handelt, dann sind natürlich die Anzahl der Aufträge ein Indiz für den Erfolg.




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Jörn Budesheim
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Sa 9. Jun 2018, 06:57

Madison hat geschrieben :
Do 7. Jun 2018, 19:26
Ich glaube hier besteht ein Begriffsmissverständnis. Singularität hat nichts mit dem klassischen Single-Dasein zu tun, sondern damit, dass ich eine Selbstmodellierung betreibe und zwar derart, dass ich unverwechselbar, einzigartig bin. Singularität ist eine Art Querschnittsbegriff für sämtliche Einheiten des sozial-kulturellen Bereiches. Er umfasst praktisch den gesamten Lebensstil der umfassend kulturalisiert wird, also die Art des Wohnens, Bildung, Essen, Beruf, Reisen, Körper, Erziehung usw. Diese Kulturpraktiken haben über ihren funktionalen Nutzen hinaus einen eigenen Wert, den Prestigewert, nämlich wenn ich die Singularisierungsarbeit erfolgreich betreibe. Hauptvertreter ist hier die neue, akademische Mittelklasse.
Das hab ich schon so oder so ähnlich verstanden. Und genau daraus ergibt sich ja der "Widerspruch". Wenn die Einzigartigkeit an ihre soziale Anerkennung gekoppelt ist, dann ist sie vielleicht etwas anderes als das, wofür sie sich selbst hält, nämlich gerade nicht einzigartig. Wenn schon die Werbung darauf setzt, dass alle "verrückt" sind ...

Das ist ja ein altes Problem, was nicht nur begrifflichen schwierig in den Griff zu bekommen ist: das Verhältnis von ich und wir. Die starke "Ich-Betonung" geht einerseits zu Lasten eines "Wir-Gefühls" und ist andererseits (übertrieben gesagt) ein Produkt des "Wir", man ist superindividuell, weil das halt der allgemeine Stil ist. Offensichtliches/öffentliches "Normalsein" wäre dann schon unnormal und eine Form des "Widerstands" :-)




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Jörn Budesheim
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Mo 11. Jun 2018, 18:14

Friederike hat geschrieben :
Mi 30. Mai 2018, 08:13
Die Referenz auf "Ich" kann niemals fehlgehen.
Aber dennoch ist (umgekehrt) nicht jede Referenz auf sich selbst, eine "richtige" "ich-Referenz". Hier ein klassisches Beispiel, wie jemand sich auf sich selbst bezieht, ohne "richtige" "Ich-Referenz": Als Ödipus sagte, "Laius' Mörder soll geächtet sein" bezog auf sich selbst, da er Laius' Mörder war. Das Beispiel zeigt, dass "ich" nicht ausreichend erläutert ist mit "Bezug auf sich selbst". Ödipus bezieht sich auf sich selbst, ohne richtigen "Ich-Bezug".




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Madison
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 9. Jun 2018, 06:57
Das hab ich schon so oder so ähnlich verstanden. Und genau daraus ergibt sich ja der "Widerspruch". Wenn die Einzigartigkeit an ihre soziale Anerkennung gekoppelt ist, dann ist sie vielleicht etwas anderes als das, wofür sie sich selbst hält, nämlich gerade nicht einzigartig. Wenn schon die Werbung darauf setzt, dass alle "verrückt" sind ...
Das zeigt aber, dass die Werbung nur als weiterer Akteur im Wettbewerb um Alleinstellungsmerkmale auf dem sozialen Attraktivitätsmarkt agiert. Dies ist letztlich eine Wechselbeziehung; der Prozess der Selbstmodellierung und Fremdsteuerung gehen Hand in Hand: Die Einzigartigkeit und die soziale Anerkennung bedingen sich gegenseitig.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 9. Jun 2018, 06:57
Das ist ja ein altes Problem, was nicht nur begrifflichen schwierig in den Griff zu bekommen ist: das Verhältnis von ich und wir. Die starke "Ich-Betonung" geht einerseits zu Lasten eines "Wir-Gefühls" .....

Ob das „Wir-Gefühl“ Schaden nimmt bei zu starker „Ich-Betonung“ weiß ich nicht. Wenn im Bewertungsdiskurs die Solidarität gegenüber z. B. Flüchtlingen, sozial Schwachen eine hohe Wertschätzung erfährt, wäre es doch Teil eines erfolgreichen Heterogenitätsmanagements. Ich sehe als Gefahr eher die Überforderungserkrankungen und die soziale Marginalisierung von Wettbewerbsverlierern.




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Jörn Budesheim
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Fr 15. Jun 2018, 19:28

MD hat geschrieben : ich hätte da mal ne frage:
duzt ihr euch, oder ichzt ihr euch in selbstgesprächen?
Habe dieser Frage heute bei Facebook gelesen, finde ich ganz witzig, was ist eure Antwort?




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Jörn Budesheim
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Fr 15. Jun 2018, 19:28

"Ich" sage ich innerlich nur, wenn ich Worte an andere probeweise aufführe, gewissermaßen als Probegespräch.

Ansonsten kommt das nicht vor. Ich sage weder zu mir selbst "ich gehe jetzt einkaufen" noch zu mir selbst "du gehst jetzt einkaufen."

Manchmal (als hörbarer, lauter Fluch) sage ich sowohl "ich" als auch "du" zu mir. Z.b. "das glaube ich jetzt nicht". Oder "du Trottel".




anahi
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So 17. Jun 2018, 12:34

Ich bin ein Nebenprodukt meines Gehirns.

Und übrigens, nur so nebenbei:
Ich habe kein Gehirn; mein Gehirn hat mich.



Ich habe kein Gehirn. Mein Gehirn hat mich.

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Jörn Budesheim
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anahi hat geschrieben :
So 17. Jun 2018, 12:34
Ich bin ein Nebenprodukt meines Gehirns.
Das dürfte zu einer interessanten mereologischen Verschachtelung führen. Denn wenn du von deinem Gehirn sprichst, dann bist du das Ganze und das Gehirn ist ein Teil davon. Wenn du jedoch dann sagst du seist ein Produkt des Gehirns, dann ist das Gehirn das ganze und du selbst ein Teil davon.




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Herr K.
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So 17. Jun 2018, 13:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 17. Jun 2018, 13:14
Denn wenn du von deinem Gehirn sprichst, dann bist du das Ganze und das Gehirn ist ein Teil davon.
Nach der Logik müsste dann auch gelten, dass, wenn jemand von seinen Eltern redete, er dann meinte, dass er das Ganze sei und seine Eltern ein Teil davon.




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Jörn Budesheim
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So 17. Jun 2018, 13:59

Nach deiner Logik müsste ich dann der Besitzer meiner Frau sein, weil ich ja auch von meinem Geld, meinem Auto etc. spreche. Von dem Wort "mein" gibt es jedoch nicht nur einen Gebrauch. Und nach meiner Einschätzung heißt "mein Gehirn" so wie "mein Arm", "meine Lunge", dass all dies Teil von mir ist.




anahi
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So 17. Jun 2018, 14:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 17. Jun 2018, 13:59
Nach deiner Logik müsste ich dann der Besitzer meiner Frau sein, weil ich ja auch von meinem Geld, meinem Auto etc. spreche. Von dem Wort "mein" gibt es jedoch nicht nur einen Gebrauch. Und nach meiner Einschätzung heißt "mein Gehirn" so wie "mein Arm", "meine Lunge", dass all dies Teil von mir ist.
Ich habe noch einen Satz hinzugefügt, aus dem ersichtlich wird, dass das Possesivpronomen in "mein Gehirn" nicht in dem Sinne von Besitz oder Teil, sondern von Verwandschaft oder Beziehung zu verstehen ist:

Ich habe kein Gehirn; mein Gehirn hat mich.



Ich habe kein Gehirn. Mein Gehirn hat mich.

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Jörn Budesheim
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anahi hat geschrieben :
So 17. Jun 2018, 14:14
[...] mein Gehirn hat mich.
Wie setzt du denn den zweiten Teil in den ersten ein, wenn von "meinem Gehirn" nicht die Rede sein kann? (Was du ja im zweiten Statement übrigens auch gebraucht hast.) So?: "Das Gehirn produziert das Ich." Wie machst du dann kenntlich, von wem oder was überhaupt die Rede ist? Angenommen, du willst deinem Gegenüber erklären, dass ein Gehirn ihn produziert. Welches denn?




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