Vernünftige Unvernunft

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Jörn Budesheim
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Mo 29. Jan 2018, 19:10

Friederike hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 17:55
Aber viel interessanter ist die Frage, ob Gründe rational sein müssen, um als Gründe zu gelten.
Mir ist nicht ganz klar, was das bedeutet. Das klingt für mich analog wie: Aber viel interessanter ist die Frage, ob Wasser H²O sein müsse, um als Wasser zu gelten. Was genau meinst du?




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Friederike
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Di 30. Jan 2018, 12:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 19:10
Mir ist nicht ganz klar, was das bedeutet. Das klingt für mich analog wie: Aber viel interessanter ist die Frage, ob Wasser H²O sein müsse, um als Wasser zu gelten. Was genau meinst du?
Wenn Gefühle als Gründe/Begründungen für Handlungen angesehen werden, dann ist die Frage beantwortet.




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Friederike
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Di 30. Jan 2018, 12:53

Alethos hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 13:18
[...] Begriffe wie Getriebenheit (amour de soi, amour des autres), Affekte, Gnade etc., sind meines Erachtens nicht nur Relikte einer Anthropologie, sondern distinkte Merkmale des Menschseins. Wenn wir im anderen Thread mit Cleverbot reden, wird ja deutlich, dass wir uns von künstlicher Intelligenz in vielem unterscheiden, auch und unter anderem dadurch, dass wir emotionale Tiefen- und Breitenstrukturen ausgebildet haben, durch die wir uns als fühlende Wesen überhaupt wahrnehmen. Dies hat sicherlich eine soziale Funktion, aber es hat doch in erster Linie eine Konsequenz auf den (unreflektierten) Selbstbezug. Nun mag man sagen, Gefühle hätten keinen vernünftigen Wert jenseits der Funktionen für die Gesellschaft, aber ich denke, diese Sichtweise unterschlägt den wichtigen Umstand, dass wir uns selbst als Iche nicht ausbalancieren könnten, wenn wir den Gefühlen nicht den nötigen Raum bieten, damit sie sich entfalten und produktiv werden können?
Ich zitiere Dich nochmal ausführlich, weil mir Dein Beitrag bzw. Deine Auffassung außerordentlich gefällt. Hinzufügen möchte ich, daß es mE auch Gefühle sind, die einem Menschen nicht alles gleich gültig = gleichgültig erscheinen lassen. Damit eine Situation oder eine Wahrnehmung überhaupt bedeutungsvoll werden kann, ist es notwendig, daß wir zunächst eine Beziehung herstellen, die -auf allgemeinste Art- eine der Ablehnung oder eine der Zustimmung ist. Besser paßt vielleicht noch "anziehend" vs. "abstoßend".




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jan 2018, 13:43

Friederike hat geschrieben :
Di 30. Jan 2018, 12:24
... dann ist die Frage beantwortet.
Für mich nicht. Ich frage mich immer noch, was du gemeint haben könntest.




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Friederike
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Di 30. Jan 2018, 18:43

Jörn Budesheim hat geschrieben : Für mich nicht. Ich frage mich immer noch, was du gemeint haben könntest.
Begründungen sind sind per definitionem rational. Eine irrationale Begründung ist also keine Begründung. Aber eine Handlung kann (rational) begründet werden mit einem irrationalen Grund, beispielsweise mit einem "Bauchgefühl", irgendeinem anderen Gefühl oder auch einer Stimmungslage.




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Alethos
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Di 30. Jan 2018, 20:37

Friederike hat geschrieben :
Di 30. Jan 2018, 12:53
Damit eine Situation oder eine Wahrnehmung überhaupt bedeutungsvoll werden kann, ist es notwendig, daß wir zunächst eine Beziehung herstellen, die -auf allgemeinste Art- eine der Ablehnung oder eine der Zustimmung ist. Besser paßt vielleicht noch "anziehend" vs. "abstoßend".
Ich denke, unter diesem Aspekt betrachtet (den der Anziehung und Abstossung), zeigt sich die anleitende Kraft von Gefühlen. Sie bewegen uns zu etwas hin oder von etwas weg, machen uns geneigt oder abgeneigt, noch bevor die Urteilskraft des Verstandes volle Wirkung entfalten kann. Gefühle begleiten unsere Entscheidungen, indem sie diesen vorgreifend den Weg bereiten oder ihnen einen Resonanzraum bieten. Sie dynamisieren unser Dasein durch abstossende und anziehende Kräfte und bringen dadurch etwas Tieferes in Bewegung, das sich auf der Oberfläche des reinen Gedankens nicht zeigen könnte, erschöpfte sich der Gedanke im reinen Gedachtsein. Motion und Emotion liegen nicht nur klanglich nahe beieinander, sondern wahrscheinlich auch begrifflich?

Ich meine, es ist richtig, wenn wir sagen, wir empfänden, was wir aus diesem oder jenem Grund tun oder getan haben. Und es wäre deshalb meines Erachtens falsch, wenn wir ausblendeten, dass wir dieses oder jenes entscheiden, weil wir in einer bestimmten emotionalen Weise verfasst sind, als wir es entscheiden. So gesehen gehören Gefühle zu unserem vernünftigen Dasein dazu als ein weiteres Vermögen nämlich überhaupt zu empfinden, was wir denken und tun, und in diesem Sinne nicht nur zu verstehen, was wir denken und tun, sondern es auch zu erleben.

Was ich zu sagen versuche: Etwas zu empfinden bedeutet, dass sich etwas gut anfühlen kann, und daraus ergeben sich Richtungen, in die man wirklich gehen will.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2018, 05:37

Friederike hat geschrieben :
Di 30. Jan 2018, 18:43
Jörn Budesheim hat geschrieben : Für mich nicht. Ich frage mich immer noch, was du gemeint haben könntest.
Begründungen sind sind per definitionem rational. Eine irrationale Begründung ist also keine Begründung. Aber eine Handlung kann (rational) begründet werden mit einem irrationalen Grund, beispielsweise mit einem "Bauchgefühl", irgendeinem anderen Gefühl oder auch einer Stimmungslage.
Alethos hat geschrieben :
Di 30. Jan 2018, 20:37
So gesehen gehören Gefühle zu unserem vernünftigen Dasein dazu
Gründe werden durch Tatsachen geliefert. Tatsachen, die für etwas sprechen. Solche Tatsachen können z.b. dafür sprechen, dass ich etwas Bestimmtes glaube, etwas Bestimmtes tue, irgendeinen Wunsch habe, ein Ziel verfolge oder eine bestimmte Emotion wie z.b. Angst oder Abscheu empfinde. Wenn ich mich beispielsweise plötzlich einem gefährlichen Fressfeind gegenüber sehe, dann ist meine Angst wohlbegründet. Die Angst ist also in diesem Fall nichts irrationales. Wenn in einem Krimi eine bestimmte Tatsachen-Konstellation bei dem Kommissar ein Bauchgefühl aus auslöst, "hier stimmt etwas nicht", dann kann dies durchaus begründet, also rational sein, denke ich.

Von Irrationalität würde ich z.b. dann sprechen, wenn jemand die offensichtlichen Tatsachen, die für offensichtliche Einstellung sprechen, sehenden Auges in den Wind schlägt. Auch Angst vor etwas völlig harmlosen wäre ein Beispiel für Irrationalität.

Ich glaube also nicht, dass wir zwei streng begrenzte Bereiche haben: Rationalität hier und Gefühle da. Gefühle gehören zu unserem vernünftigen Dasein dazu, wie sich Alethos ausdrückt. Allerdings nicht als Untermalung oder dergleichen, sondern sie können selbst vernünftig sein.




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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2018, 06:17

Es gibt ein berühmtes Gedankenexperiment, ich weiß leider nicht mehr von wem ist, dass diese Gedanken illustrieren soll. Wir stellen uns ein Roboter vor, der sich in einem Haus befindet, welches brennt. Die Tatsache, dass das Haus brennt, spricht für Wesen wie uns unmittelbar dafür zu fliehen. Die Roboter ist hingegen ein rein diskursives Wesen und berechnet die Folgen seiner Handlung soweit es ihm möglich ist. Als er gerade dabei ist, zu berechnen, welche Auswirkungen seine Flucht auf die Aktienkurse in Asien haben könnte, rafft es ihn darnieder. Gefühle können also nicht nur rational sein, sie zeigen uns ineins, dass es für uns immer um etwas geht und worauf es ankommt.

Die schiere Diskursivität wäre in diesem Fall höchst irrational.




Tosa Inu
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Mi 31. Jan 2018, 11:34

Scheint mir eher ein Argument für Hierarchie zu sein, nämlich zu erkennen, worauf es (hier und jetzt) primär ankommt.

Allerdings sind die Hierarchien nicht fix und absolut, sondern variabel, dynamisch. Das gilt auch für den Vorrang der Gefühle oder Affekte, im Fall eines Brandes vielleicht sogar Instinkte. All das ist nicht dasselbe. In Fällen basaler und schneller Entscheidungen scheint langes Grübeln ein Nachteil zu sein, aber in anderen, durchaus auch bedeutenden Fragen des Lebens: Wie sollte ich für meine Rente vorsorgen? Welche Vorsorgeuntersuchungen sind sinnvoll? Ist es Zeit den Beruf zu wechsen? und dergleichen ist es besser intenviv zu planen, zu recherchieren und nachzudenken, das Bauchgefühl oder der spontane Entschluss ist hier nicht immer die weiseste Entscheidung.

Allerdings dreht sich das noch mal um, wenn Intuitionen ins Spiel kommen, die m.E. eine aus dem Unbewussten kommende Fusion all unserer Prämissen emotionaler, affektiver und kognitiver Art dartellen. Sie sind es auch, die einen das Leben gelegentlich als sinnvoll erscheinen und eine Art roten Faden des Lebens druchschimmern lassen. Die Frage wie echt oder eingebildet dieser ist, ist insofern scheinkritisch, weil uns die Mittel fehlen die ideologisch motivierte Antwort abschließend begründen zu können.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2018, 11:34
Wie sollte ich für meine Rente vorsorgen?
Ich würde meinen, für ein Wesen für das es um nichts geht, stellt sich diese Frage nicht :-)




Tosa Inu
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2018, 15:00
Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2018, 11:34
Wie sollte ich für meine Rente vorsorgen?
Ich würde meinen, für ein Wesen für das es um nichts geht, stellt sich diese Frage nicht :-)
Das ist die Freiheit der Selbstmordattentäter.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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ChrisH hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 21:14
Vernünftige Unvernunft
Im Zusammenhang mit der "Machtfrage" hab ich ein ganz klein wenig Foucault geschnüffelt. Könnte für dich interessant sein. In einigen Texten schreibt es sehr ausführlich darüber, dass Vernunft und Unvernunft zu früheren Zeiten viel zwangloser neben- und miteinander leben konnten. Sehr vereinfacht gesagt: Irgendwann fing dann die Vernunft an die Unvernunft mehr und mehr auszugrenzen, auch um sich selbst zu profilieren.




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