Was ist denn Kitsch?

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Stefanie
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Mi 11. Okt 2023, 19:35

Irgendwie verwirrend dieses Camp.
Wem "gehört" denn nun diese spezielle Form des Kitsch nun? Oder anders, woran lässt sich erkennen, dass, wenn Camp draufsteht, auch Camp drin ist?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Mi 11. Okt 2023, 21:02

Camp war auch eine Art überspitzter ("strategischer") Pseudokonventionalismus, damit man sich als Nichtzugelassener in der unmarkierten, definitionsgemäß unhinterfragten Normalität als eben scheinbar ebenso Normaler - jedenfalls formal - ungestraft und unerkannt bewegen und (früher tlw.: über-)leben konnte. "Oberflächlich"-formal den gesellschaftlich vorgegeben Normen genügend, während "nach innen" man "man selbst" bleiben konnte. D.h. solange man es nicht explizit machte, dass man irgendwie "abwich" und anders war, konnte man ziemlich weit gehen und übertreiben in Sachen Pseudokonventionalität. Wenn es einfach niemals zur Sprache kam, wurde es meist öffentlich geduldet und war höchstens so etwas wie ein offenes Geheimnis. (Noch ein Freddie Mercury bestritt bis zuletzt seine komplette Karriere damit.) Heutzutage im Zeitalter des Outings (zumindest in den liberalen Ländern) ist's nur noch eine Ästhetik des (gerne vermeintlich kitschigen) Stilisierens von eigentlich als minderwertig Geltendem, um es so erst recht herauszustellen und aufzuwerten und schließlich aus diesem Nutzen zu ziehen (was auch längst vom berühmten "Mainstream" goutiert wird und z.T. auch schon völlig banalisiert wurde). Erkennen kann man es am ostentativen Bekenntnis zum Trivialem. Man erkennt es, wenn man es sieht... 😉

@Stefanie
Wahrscheinlich bist du jetzt nicht schlauer als vorher. Es ist schwer greifbar. Etwas Ästhetisches und ein Lebensgefühl. Und eine Frage des (schlechten) Geschmacks. Man muss es mögen, oder man mag es - traditionell vor allem als Hetero - überhaupt nicht. Allerdings ist es heutzutage schon derart liberalisiert, dass es die (zumindest nichtschweigende) Mehrheit wohl nicht mehr so arg stört und z.T. sogar gefeiert wird.


Der Künstler Jeff Koons zusammen mit Ilona Staller ("Cicciolina") hat sehr "campe" Kunst gemacht (und dabei etwa Kitsch und Porno gekreuzt, platt gesagt). Andy Warhol war unter anderem auch sehr "camp". Überhaupt "Pop Art"...




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Quk
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Do 12. Okt 2023, 10:09

1+1=3 hat geschrieben :
Mi 11. Okt 2023, 21:02
... den gesellschaftlich vorgegeben Normen genügend ...
Meinst Du damit Normen des spießbürgerlichen Alltags? Oder diejenigen Normen, welche die Spießbürger zulassen im Karneval und auf Opernbühnen?

Beide Normen sind traditionell: Die Alltags-Normen als auch jene Normen innerhalb des zeit- oder ortsspezifischen Faschings oder Opernhauses.




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Do 12. Okt 2023, 19:03

Heteronormativität in jeglicher Darreichungsform und jeden Härtegrad. Die (vor)herrschenden Normen eben.




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Stefanie
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Do 12. Okt 2023, 19:31

Die Met Gala 2019 hatte als Motto "Camp: Notes on Fashion". Die Bilder kenne ich, nur das Motto hatte ich überhaupt nicht registriert. Da waren schon ein paar coole, witzige, grelle und kitschige Klamotten dabei. Und auch tragbare Sachen. Diese Gala ist dann wohl Mainstream Camp?

Dazu auch ein interessanter Artikel
https://www.monopol-magazin.de/met-gala-camp
In dem Artikel steht übrigens auch das:
Mit der Wahl des diesjährigen Ausstellungsthemas hat Met-Kurator Andrew Bolton präzise den Nerv der Zeit getroffen: Donald Trumps Selbstbräuner-Orange auf der Haut, seine übergroßen Anzüge, die trashige Opulenz der Trump Towers – all das ist Camp in Reinform und steht emblematisch für eine US-Politainment-Kultur, die hinsichtlich ihrer schrillen Hysterie locker mit einem John-Waters-Film mithalten kann.
Der Fotograf und Filmemacher Bruce LaBruce nennt jene neue, reaktionäre Form der artifiziellen Übertreibung "Conservative Camp". In seinen "Notes on Camp / Anti Camp" fordert er eine erneute Radikalisierung des Konzepts.

Was ich mich fragte, ist folgendes.
Wenn Camp ein Teil der Kultur einer Gruppe war/ist, die aufgrund deren Situation gelebt wurde, und jetzt von denjenigen übernommen werden, die die andere Gruppe ausgrenzte, ist das sowas wie kulturelle Aneignung?



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Do 12. Okt 2023, 19:44

Toller Artikel!

"Camp" gehört niemanden. Oder jeden/jeder. Es ist eine (ursprünglich eher "Untergrund"- oder Subkultur-)Ästhetik (oder ästhetischer Fetisch), ein Lebensgefühl oder einfach nur ein knallbunter Spaß. (Am besten ist vielleicht wirklich unfreiwillig "camp" - Trump sieht ja wirklich unfassbar aus...* - und ist es in jeder anderen Hinsicht ja auch.)

(* Wie der berühmte schreckliche Unfall, bei dem man aber einfach nicht wegsehen kann. 😉)




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Okt 2023, 08:30

Camp ist vielleicht auch eine Reaktion auf die "feinen Unterschiede", von denen Bourdieu spricht (ohne dass ich wirklich weiß, was er im Detail meint.) In Bourdieus Konzept der "feinen Unterschiede" geht es (soweit ich weiß) oft um soziale Hierarchie und die Bewertung von Geschmack. Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten haben unterschiedliche Vorlieben, von denen einige als höherwertig und andere als minderwertig angesehen werden. Im Gegensatz dazu betont "Camp" die Ironie und das Spiel mit Werturteilen. Camp zielt darauf ab, das Konzept von "gutem" und "schlechtem" Geschmack zu "dekonstruieren" und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Exzentrische und Absurde. Man könnte vielleicht sagen, dass man mit Camp einen Unterschied macht, der aber "das Feine" der Unterschiede ins teilweise Groteske wendet.




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Quk
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Fr 13. Okt 2023, 09:47

Was bedeutet das eigentlich, wenn eine Person einen "guten Geschmack" hat?

Bedeutet das, dass die Person sensibel ist hinsichtlich so etwas wie "harmonischen Gesetzen"?

Kurzer Nebenkommentar: Eine Harmonie braucht meines Erachtens immer mehr als ein einziges Element, weil Harmonie eine Zusammenstellung ist. Eine Zusammenstellung braucht Elemente -- plural. Selbst ein komplett blaues Bild von Yves Klein ist mehr als nur ein einziges Element: Es hat neben dem Blau eine rechteckige Begrenzung. Das ergibt schon mal mehr als zwei Elemente. -- Nun gibt es nicht nur innerhalb eines schönen oder hässlichen Gegenstands mehrere Elemente, die in einer harmonischen oder zerstörerischen Art zusammengestellt sind; auch der zu beurteilende Gegenstand selbst befindet sich in einer Zusammenstellung; nämlich in der Zusammenstellung mit den Menschen, die den Gegenstand konsumieren. Wenigstens da muss eine Harmonie bestehen. So kann auch ein in sich subversiver Gegenstand harmonieren mit in sich subversiven Menschen, obwohl das Subversive doch die Harmonie stören soll. Will sagen: Am Ende siegt immer die Harmonie. Auch wenn Subversive sich einig sind, entsteht Harmonie statt Subversivität. -- Soviel zur Harmonie.

Da das Urteil "Guter Geschmack" teilweise wiederum vom individuellen Geschmack des Urteilenden abhängt, bleibt nicht viel Begründungsfläche übrig für ein objektives "Guter Geschmack"-Urteil.

Könnte diese Einschränkung ein Zeichen dafür sein, dass ein "Guter Geschmack"-Urteil nicht universal sein kann, sondern immer nur modebezogen? Eine Dame im übergroßen Sakko hat also bezogen auf die Anti-Sexismus-Mode einen guten Geschmack, und bezogen auf die Großstadt-Mode der 90er Jahre hat die im übergroßen Sakko versunkene Dame einen schlechten Geschmack?

Also, was ist das, "guter Geschmack"? Ist das universal oder modebezogen?




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Fr 13. Okt 2023, 10:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Okt 2023, 08:30
Camp ist vielleicht auch eine Reaktion auf die "feinen Unterschiede", von denen Bourdieu spricht (ohne dass ich wirklich weiß, was er im Detail meint.) In Bourdieus Konzept der "feinen Unterschiede" geht es (soweit ich weiß) oft um soziale Hierarchie und die Bewertung von Geschmack. Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten haben unterschiedliche Vorlieben, von denen einige als höherwertig und andere als minderwertig angesehen werden. Im Gegensatz dazu betont "Camp" die Ironie und das Spiel mit Werturteilen. Camp zielt darauf ab, das Konzept von "gutem" und "schlechtem" Geschmack zu "dekonstruieren" und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Exzentrische und Absurde. Man könnte vielleicht sagen, dass man mit Camp einen Unterschied macht, der aber "das Feine" der Unterschiede ins teilweise Groteske wendet.
Ja, "feine Unterschiede", die den Unterschied ums Ganze machen können. Bei Bourdieus Ansatz oft nur auf den Konkurrenzvorteil des Individuums unter heutzutage neoliberalen Verhältnissen reduziert (von Rezeptionsseite). Aber von diesem selbst viel weiter und allgemeiner gefasst. Diese "feinen" Unterschiede können auch eine Form Kommunikation unter "Eingeweihten" sein, die eben von "Ahnungslosen" noch nicht einmal bemerkt wird. Das ggf. Überdrehte an Camp ist dagegen gerade nicht mehr "fein" & sophisticated, sondern offensiv bis z.T. schon provokant.


(Ich muss jetzt leider weg...)




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Stefanie
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Fr 13. Okt 2023, 11:27

Was ist Anti-Sexismus-Mode?



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Quk
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Fr 13. Okt 2023, 12:37

Zum Beispiel ein übergroßer Blazer, der die weibliche Brustausformung am Sichtbarwerden hindert und die schmalen weiblichen Schultern versteckt.

Vielleicht sind diese übergroßen Blazer jetzt nicht mehr modisch, aber sie waren es ein paar Jahre lang innerhalb des letzten Jahrzehnts.




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Eiwa
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Fr 13. Okt 2023, 13:22

Mir fällt da spontan Billie Eilish ein, mit ihrem ganz starken Video "Not my responsibility".

In dem oben verlinkten Artikel heißt es übersetzt:
"Ihr damaliger Modestil, insbesondere ihre Entscheidung, weite Kleidung zu tragen, erregte in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und wurde kritisch beäugt. Sie trug solche Kleidung, um sexuelle Objektivierung zu vermeiden, da sie sich als Teenager, die seit ihrem 11. Lebensjahr mit ihrem Selbstbild zu kämpfen hatte, ihres Körpers sehr bewusst war. Eilish sah sich mit mehreren Kommentaren konfrontiert, die sie als unerwünscht und unweiblich bezeichneten und ihr sagten, sie müsse sich wie eine Frau verhalten", um attraktiver zu sein."




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Stefanie
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Fr 13. Okt 2023, 13:29

Ja nun...hach ja...
Das nennt sich jetzt Oversized Blazer. Geht auch mit Blusen.

Anti-Sexismus- Mode ist für mich Mode, die dafür da sein soll, nicht zu vermeintlich sexy zu sein, damit Frauen nicht sexistisch behandelt werden. Was natürlich Blödsinn ist, dass Frauen sich so kleiden, damit sie nicht zu sexy rüberkommen. Sie können tragen, was sie tragen wollen, wer das als Aufforderung in welche Richtung auch immer versteht, ist selber schuld und somit ist dann Anti-Sexismus-Mode im Grunde wieder sexistisch.

Wie der jetzige "Trend", in dem Frauen und Mädchen über ihre Sommerkleidung in UBahnen, Bahnen und Bussen ganz weite Shirts tragen, damit sie nicht angegrapscht werden. Falscher Ansatz.

.. und zurück zur Frage "Was ist guter Geschmack".



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Quk
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Fr 13. Okt 2023, 13:33

Billie Eilish, genau. Mir fiel diese Mode zuerst aber nicht bei ihr auf, sondern bei Fernsehshow-Moderatorinnen, und zwar bei solchen, die keine Körperprobleme hatten und auch sonst selten ihre Weiblichkeit versteckten. Irgendwann wurde mir klar, dass diese Mode wohl hauptsächlich von Billie Eilish eingeführt wurde. Nur hatte eben die "Botschaft" dieser Mode keine entsprechenden "echten" Repräsentantinnen mehr; es ging dann nur noch darum, "neumodisch" aufzutreten, ungeachtet des ursprünglichen Kontexts.




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Fr 13. Okt 2023, 20:10

Und nochmal unfreiwillig Camp (gerade gefunden):



Aber es wird wohl nicht echt sein, also doch nicht unfreiwillig... 😉




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Jörn Budesheim
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Sa 14. Okt 2023, 10:47

Quk hat geschrieben :
Fr 13. Okt 2023, 09:47
Was bedeutet das eigentlich, wenn eine Person einen "guten Geschmack" hat?
Wenn der Ausdruck "guter Geschmack" einen Sinn haben soll, muss er sich vom "schlechten Geschmack" unterscheiden. Wenn der so verstandene Geschmack nicht nur eine Frage des Geschmacks ist, dann muss er in irgendeiner Weise objektiv sein.

Der Direktor unserer Kunsthalle hat nach meinem Geschmack einen guten Geschmack, weil er in der Lage ist, gute von schlechter Kunst zu unterscheiden.




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Quk
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Sa 14. Okt 2023, 11:48

Negation erklärt nicht :-)




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Jörn Budesheim
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?




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Sa 14. Okt 2023, 13:18

Nebenbei: Camp ist ja (auch) so etwas wie "instrumentalisierter schlechter Geschmack/Kitsch & Co.".




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Quk
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Sa 14. Okt 2023, 14:19

Naja, wenn ich nicht weiß, was schlechter Geschmack ist, kann ich auch nicht wissen, was guter Geschmack ist.

Ich verspüre einen wachsenden Drang, zu behaupten, dass Geschmack ohne speziellen Bezug ein leerer Begriff ist.
Er braucht einen Bezug, und der ist nicht universal.




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