Person/Maske

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Jörn Budesheim
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Mo 8. Jul 2019, 06:01

Rilke, in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge hat geschrieben : [...] Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. [...]




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TsukiHana
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Mo 22. Jul 2019, 14:22

TsukiHana hat geschrieben :
Mo 22. Jul 2019, 13:26
...wie Jean Cocteau sagen würde:

Reflektiert der Spiegel schon, bevor er ein Bild zurückwirft...

Eine Art "Selfie" in einer Maske (Ausstellung Kunstmuseum Bonn) ;)
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Wozu die Tage zählen!?
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TsukiHana
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Mo 22. Jul 2019, 14:27

Die verschwundene Identität...

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Stefanie
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Mo 22. Jul 2019, 20:23

Das Video dazu konnte ich in der Ausstellung nicht ohne Pause anschauen. Ich bin raus, habe was anderes geschaut, dann wieder rein. Erst zu Hause habe ich das Video dazu an einem Stück geschaut. Zum einem war und ist es inhaltlich heftig, und zum anderen ist in der Ausstellung der Bildschirm groß, die Musik laut, die Farben grell, kurz Reizüberflutungsalarm. Am Tablet ist das nicht so.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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TsukiHana
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Mo 22. Jul 2019, 23:45

Stefanie hat geschrieben :
Mo 22. Jul 2019, 20:23
... kurz Reizüberflutungsalarm....
Ach, das ist ja interessant!
Bei mir war er eher umgekehrt:
da ich das Video ja schon kannte (ohne zu wissen, dass es ein Teil der Ausstellung ist) und genau wusste, was auf mich da gleich zukommt, konnte ich mir genau die Schlüsselszenen ansehen, die mich zuvor schon im Kleinformat heftig erschüttert haben...
Dabei kann ich es immer noch nicht wirklich verstehen, welche Motivationslage bei der gewalttätigen Frau diese brachiale Reaktion ermöglicht hat.
OK, es ist nicht ganz meine Welt! Dennoch würde ich es gerne verstehen. Die fehlende Identität einer Spiegelmaske kann zwar provozieren, doch fällt da ja ganz offensichtlich und völlig enthemmt eine Grenze.

Dazu war ich ganz alleine im Raum, nur mit meiner Kamera "bewaffnet"...

.
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Stefanie
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So 28. Jul 2019, 20:49

Wie kam dies denn an:



Ich war fasziniert, warum auch immer. Etwas bäh, und gruselig war es schon, aber faszinierend. Ich glaube, es liegt an der Machart.



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Friederike
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Mo 5. Aug 2019, 10:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 17. Mär 2019, 16:23
Es scheint in unseren Landstrichen eine ziemlich tiefe Prägung zu sein, bei Maske als erstes nach dem "dahinter" zu fragen und an eine Täuschung zu denken. Das hängt mit der ebenso tiefen und ebenso falschen Prägung zusammen, dass das Äußere stets täuscht.

Nach meinem Verständnis ist dieser (im wahrsten Sinne des Wortes einseitige) Blick auf Masken nur eine Fortführung oder Hochrechnung eines allgemeinen Verständnisses, was ein Ding ist, bzw wie wir es erkennen können, wie wir zu ihm stehen. Die uns umgebenden Dinge haben in der Regel so etwas wie eine Oberfläche. Nach einem gewissen (und vermutlich recht verbreiteten) Verständnis versperrt uns diese Oberfläche den Blick auf das wahre Wesen dieser Dinge. Die Oberfläche ist das, was und nur einen oberflächlichen Blick erlaubt, was unseren Blick also nicht erlaubt, ins Innere der Dinge, in ihr wahres Wesen vorzudringen. Kennt man nur die Oberfläche, kennt man (nach dieser Sicht der Dinge) die Dinge nur unzureichend, letztlich falsch.

Wenn man von der negativen Sichtweise des Wortes Maske (die unser christliches Erbe ist) absieht, dann sind in gewisser Hinsicht alle Dinge um uns herum maskiert.
Es ist ein wenig willkürlich, aber als ich gestern 2. Kor. 4 las, mußte ich sofort an diesen Beitrag von Dir denken; unser christliches Erbe.

16 Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. 17 Denn unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, 18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.

-eine jüngere Lutherübersetzung-




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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim
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Ein kleiner Hinweis: das ist ein Ausschnitt, bzw das Zentrum des berühmten Bildes "das Hoffräulein" von Velasquez. Michele Foucault hat mal einen berühmten Aufsatz, eine Interpretation dazu verfasst. ich meine sogar als Vorwort zu "les mots et les choses", sicher bin ich da nicht. Michele Foucault war ja bekanntlich homosexuell, deswegen schätze ich auch, dass er gar keine Tochter hat.




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Jörn Budesheim
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Kunst spiegelt gesellschaftliche Realitäten. Auch in der zeitgenössischen Kunst geniesst die Maske wieder höchste Aktualität. Nicht der Blick hinter die Maske, sondern auf die Maske und ihre Wirkung ist in der aktuellen Kunst zentral. (Quelle: Madeleine Schuplli vom Aargauer Kunsthaus)
Bei Masken denken wir an Fasnacht, Karneval,

an afrikanische Stammesriten oder Toten-

masken, an Theater, Film und Mode, aber auch
an Rollenspiel, Identitätswechsel, Verhüllung
und Schutz. Masken sind einer jener mensch-
lichen Kultgegenstände mit der längsten, be-
ziehungsreichsten und zugleich kontroversesten
Geschichte. Genauso eine lange Tradition
hat die Maske in der bildenden Kunst, etwa in
der Klassischen Moderne und deren Vorliebe
für afrikanische und ozeanische Masken. Doch
wie wird das Thema in der zeitgenössischen
Kunst behandelt? Die internationale Gruppenaus-
stellung MASKE. In der Kunst der Gegenwart
spürt dieser Frage nach.
Die Maske interessiert die zeitgenössischen
Künstler/innen nicht nur als Objekt, sondern
samt allen ihren inhaltlichen, gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Bedeutungen. Im
Spannungsfeld von Zeigen und Verhüllen und in
einer Gesellschaft, in der gekonnte Selbstdar-
stellung als Gradmesser des persönlichen Erfolgs
gehandelt wird, hat die Maske wieder höchste
Brisanz. Masken setzen wir auf, um in eine Rolle
zu schlüpfen. Sie bieten die Möglichkeit zum
Tausch des Selbst. Die Kunstschaffenden faszi-
niert weniger der psychologisierende Blick
hinter die Maske, denn der Blick auf die Maske:
Sie thematisieren die Maske als Kunstobjekt
und rituellen Gegenstand, als Mittel der (virtu-
ellen) Selbstinszenierung, als politisches
Ausdrucksmittel oder als Instrument zum Spiel
mit unterschiedlichen Identitäten.
In der medial breit angelegten Ausstellung
werden Arbeiten internationaler und nationa-
ler Künstler/innen zu sehen sein, die mehrheit-
lich in den letzten 10 Jahren entstanden sind.




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