François Jullien: "Es gibt keine kulturelle Identität"

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 11. Mär 2018, 13:51

Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
in einem gewissen Abstand
Bild
François Jullien in "Es gibt keine kulturelle Identität hat geschrieben : Ist dieser Ansatz geeignet, um sich der Vielfalt der Kulturen zu nähern? Immerhin lässt die Differenz ja einen Term beiseite, sobald sie einmal einen Unterschied bestimmt hat. Wenn ich zum Beispiel – wie dies Platon auf pädagogische (ironische) Weise macht – den Angelfischer definieren will, so werde ich damit beginnen, zwischen produzierenden und erwerbenden Tätigkeiten zu unterscheiden, um dann im nächsten Schritt die Produktion fallenzulassen und mit dem Erwerb fortzufahren ...
Der Autor entwickelt seine Idee auch im Unterschied zu diesem (oben dargestellten) definitorischen Verfahren. Bei diesem Verfahren wird jeweils der Bereich, der nicht gemeint ist, weg gestrichen und - einfach gesagt - vergessen. Das ist, wenn man so sagen darf, ein Entweder-Oder Verfahren. Die Identität wird durch das bestimmt, was sie nicht ist. Und das was sie nicht ist, wird "durchgestrichen". Ein Zwischen kann es hier nicht wirklich geben. Dieses Verfahren ist für die Frage nach der kulturellen Identität daher nicht brauchbar.

Die Idee des Abstandes ist anders, nach Julliens Dafürhalten. Die Idee besteht (wenn ich den Autoren richtig verstehe) darin, das Verschiedene gemeinsam im Spiel und im Blick zu behalten und nicht das Eine auf Kosten des Anderen zu "eliminieren", sondern das Verschiedene füreinander offen und in produktiver Spannung zu halten. Bei der Idee des Abstands verkapseln sich die Terme nicht und ruhen sich nicht in sich aus, deshalb ist Abstand, wie der Autor glaubt, auch für ethische und politische Fragen der bessere Ausdruck, aber nicht nur das...

Das Phänomen, von dem wir sprechen, wenn wir von kultureller Identität sprechen, will der Autor nicht einfach leugnen, wenn er sagt dass es so etwas wie kulturelle Intensität nicht gibt. Sein Vorschlag ist nach meinem Verständnis, die Sache in einer anderen Art und Weise zu rekonstruieren, zu verstehen. Doch indem wir das tun, ändern wir das Phänomen zugleich, da aus diesem anderen Verständnis auch eine andere Praxis werden könnte. Der Geist ändert sich, wenn er sich anders beschreibt.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

So 11. Mär 2018, 14:48

Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 13:14
Friederike hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 12:54
... die öffentliche Auseinandersetzung sowieso dominiert haben: "Identität", "Werte", "Moral".
Ich wäre ja froh gewesen, habe aber keine Auseinandersetzung dieser Art gefunden. Wo war die und wie war das Ergebnis?
Hm, in Verbindung mit der Aufnahme von Flüchtlingen, d.h. Menschen aus anderen Kulturkreisen: Geschlechterrollen, Familienstrukturen, Sprachbedeutung, Gerechtigkeit, Staatsverständnis, Sitten und Gebräuche (u.a..Umgangsformen, Bekleidung), Solidarität, Toleranz, Identifikationsstufen.




Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

So 11. Mär 2018, 14:56

Tosa Inu hat geschrieben : Ich weiß, das hatten "drüben" schon mal. Ich hoffe ja immer noch Stillen, Dir das irgendwann austreiben zu können. ;)



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

So 11. Mär 2018, 15:06

Friederike hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 12:54
Verhakelungen aufzubrechen
Um neue Kontexte denkbar werden zu lassen. Der Begriff 'Ressource' ist in diesem kulturphilosophischen Zusammenhang auch deshalb so fruchtbar, weil er auf Chancen und Potenziale verweist, vielmehr als auf Gefahren.

Die Annahme ist nicht die, dass es keine Konflikte gäbe, wenn man bloss die richtigen Ressourcenkonfigurationen wählt, aber im Begriff steckt doch auch die Vorstellung, dass Diversität Quelle eines neuen, eines produktiven Verständnisses des Miteinanders sein kann. Und dadurch setzt Jullien einen Kontrapunkt in einer Debatte, die sich vorwiegend mit den Problemen und Schwierigkeiten des Miteinanders befasst.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

So 11. Mär 2018, 15:12

@T.I. entschuldige, ich habe in Deinem Beitrag herumgefuhrwerkt, als ich Dir antworten wollte. Ich bin im Moment überfordert mit der Herstellung des ursprünglichen und richtigen Zustandes. :oops:




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

So 11. Mär 2018, 15:14

:)



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

So 11. Mär 2018, 15:16

Friederike hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 14:48
Hm, in Verbindung mit der Aufnahme von Flüchtlingen, d.h. Menschen aus anderen Kulturkreisen: Geschlechterrollen, Familienstrukturen, Sprachbedeutung, Gerechtigkeit, Staatsverständnis, Sitten und Gebräuche (u.a..Umgangsformen, Bekleidung), Solidarität, Toleranz, Identifikationsstufen.
Ja, das wurde da immer wieder angetäuscht und anfangs dachte ich noch die Dresdner Spaziergänger hätten wenigstens die reflektorisch positive Funktion, dass man sich mal tatsächlich über Werte unterhält und diese definiert. Wohlgemerkt, Werte, nicht Rechte, diie gibt es ja schon.
Nachdem das Thema Werte, aber keine Diskussion darüber dann wochenlang durch den Wolf gedreht wurde, war es als einer von vielen Jakob Augstein, der dann beschloss, es sei nun genug über Werte geredet worden, nun müsse politisch gehandelt werden. Aha, dachte ich.
Die eine wollen einen Schweinefleisch-Tag, verpflichtend, die anderen eine konservative Revolution, Augstein (der auch große Momente haben kann) hatte während eines Besuchs in der Semper-Oper ein Erleuchtungserlebnis, als er plötzlich bemerkte, dass nicht alle Dresdner Nazis seien und die grenzenlos sexistische und/oder rassistische #aufschrei Debatte ging durch das Land und ließ meinen Glauben an den neuen Feminismus zerschellen und so las ich dies und das, aber ich meinte, eigentlich, dass wir in einem breiten Stil mal alle, also jeder der will, uns darauf einigen, wir wir zukünftig zusammen leben wollen, vor dem Hintergrund von Spannungen und Ängsten, die ich persönlich gar nicht habe, aber ernst nehme.

Was geht, was geht nicht? Wo ist die Grenze, des Anßtandes, um das schöne hanseatische Wort zu verwenden? Das zog mal - und zieht noch - nicht unterhalb, sondern um das Gesetz herum. Dieser kulturellen Kraft sollte man sich wieder bewusst werden und sie reinstallieren. Der Download dauert ein paar Jahre, aber wenn man wenigstens ein Ziel hat, außer Schlimmmeres zu vermeiden, dann ist das schon mal nicht schlecht, weiß man obendrein noch was schief gelaufen ist, und ich glaube, die Indizien sprechen eine halbwegs klare Sprache, ist das noch besser.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

So 11. Mär 2018, 15:18

Friederike hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 15:12
@T.I. entschuldige, ich habe in Deinem Beitrag herumgefuhrwerkt, als ich Dir antworten wollte. Ich bin im Moment überfordert mit der Herstellung des ursprünglichen und richtigen Zustandes. :oops:
Kein Problem.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

So 11. Mär 2018, 15:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 13:51
Der Geist ändert sich, wenn er sich anders beschreibt.
Finde ich grundsätzlich bedenkenswert, ich frage mich aber, wie man es schaffen will (und auch warrum man es sollte?), da nicht an Grenzen zu stoßen.
Ich kann ja sagen, dass ich zwar gerne Klöße esse, aber auch Falafeln, aber wie sollte man nun bspw. die Brücke zwischen sich diametral widersprechenden Positionen brauen?

Ist ja nicht so, dass ich nicht eigene Vorschläge hätte, aber ich würde dazu gerne auch mal was von anderen hören.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

So 11. Mär 2018, 18:24

Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 15:25
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 13:51
Der Geist ändert sich, wenn er sich anders beschreibt.
Finde ich grundsätzlich bedenkenswert, ich frage mich aber, wie man es schaffen will (und auch warrum man es sollte?), da nicht an Grenzen zu stoßen. Ich kann ja sagen, dass ich zwar gerne Klöße esse, aber auch Falafeln, aber wie sollte man nun bspw. die Brücke zwischen sich diametral widersprechenden Positionen brauen?
Wenn ich Dich richtig verstehe, dann verfährst Du im von mir unterstrichenen Satz genau in der Art, von der Jullien meint ( wie unten von Jörn referiert), es funktioniere nach dem Muster des Ausschlußverfahrens (von mir unten fett markiert). Dem "Geist-Satz", den Du bedenkenswert findest, geht allerdings noch ein Sätzchen voran, der mir entscheidend zu sein scheint. Das Phänomen selbst wird durch eine andere Beschreibungsweise verändert. Deswegen denke ich, daß die von Dir aufs Tablett gelegten "diametral widersprechenden Positionen" an Julliens Vorschlag vorbeilaufen. Es kommt mir unstimmig vor, wenn Du einerseits den sich durch Beschreibung verändernden Geist bedenkenswert findest und andererseits als Einwand vorbringst, was doch in die Kiste mit dem Identitätsinstrumentarium gehört?
Jörn hat geschrieben : Der Autor entwickelt seine Idee auch im Unterschied zu diesem (oben dargestellten) definitorischen Verfahren. Bei diesem Verfahren wird jeweils der Bereich, der nicht gemeint ist, weg gestrichen und - einfach gesagt - vergessen. Das ist, wenn man so sagen darf, ein Entweder-Oder Verfahren. Die Identität wird durch das bestimmt, was sie nicht ist. Und das was sie nicht ist, wird "durchgestrichen". Ein Zwischen kann es hier nicht wirklich geben. Dieses Verfahren ist für die Frage nach der kulturellen Identität daher nicht brauchbar. [...]Das Phänomen, von dem wir sprechen, wenn wir von kultureller Identität sprechen, will der Autor nicht einfach leugnen, wenn er sagt dass es so etwas wie kulturelle Intensität nicht gibt. Sein Vorschlag ist nach meinem Verständnis, die Sache in einer anderen Art und Weise zu rekonstruieren, zu verstehen. Doch indem wir das tun, ändern wir das Phänomen zugleich, da aus diesem anderen Verständnis auch eine andere Praxis werden könnte. Der Geist ändert sich, wenn er sich anders beschreibt.




Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

So 11. Mär 2018, 19:09

Wenn man nun bspw. eine Kultur hätte bei der die Gleichberechtigung der Geschlechter gelebt wird und die Todesstrafe abgelehnt und dann eine, die ein Ungleichgewicht der Geschlechter propagiert und die Todesstrafe, wie sähe da bspw. eine Position der befruchtenden Spannung des sowohl-als auch aus?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

So 11. Mär 2018, 20:13

Man kann natürlich extreme Kontraste zeichnen, um ein Entweder-oder zu provozieren und die Unversöhnlichkeit zu unterstreichen. So kann man weiterhin behaupten, das Eigene sei gut und das Andere schlecht (was du nicht tust, aber Programm jedes Kulturkampfes ist).
Vielleicht fokussiert man besser auf die Gegensätze, die sich versöhnen lassen durch Annäherung und Kompromisse. Es ist ja nicht so, dass interkulturelles Zusammenleben bestimmt wäre durch diese Art von extremen Gegensätzen, wie du sie hier überspitzt darstellst.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

So 11. Mär 2018, 22:40

Ja, sowas in der Art wäre tatsächlich auch mein Vorschlag. Ich würde, wie erwähnt, über Werte diskutieren, durchaus hart, aber ich würde versuchen der ziemlichen Asymmetrie die Spitze zu nehmen, indem man den "anderen" nicht nur vorschreibt, wo sie Verbesserungsbedarf haben, sondern uns auch selbstkritisch erzählen lassen, was bei uns nicht gut läuft, wie man hört, gibt es da manches.

In puncto Familienzusammenhalt und vielleicht auch Glaube, können wir wenigstens zuhören, wie das erlebt wird, was wir oft verloren haben.
Ich glaube auch, dass unser Umgang mit den tatsächlichen Wendeverlierern noch mal aufgearbeitet gehört, aber das ist sicher am wenigsten Dein Thema.

Ich mag mich irren, aber nach allem was ich bisher dazu gelesen habe, ist jemandem eine soziale Rolle und damit auch kulturelle Identität zu verweigern irgendwie das Schlimmste, was man tun kann, in Deutschland tut man das leider sehr häufig. Ich bin auch offen dafür, dass man auf expilizite Rollen oder kulturelle Identität verzichten kann, kann mir aber nicht so recht vorstellen, wie das gehen soll.

Vor allem weiß ich nicht, wie man das denen erklären soll, die nach diesen Rollen lechzen und das sind am wenigsten die gut trainierten Pluralisten der Mittelschicht, im 68er Fahrwasser. Die können mit der kulturellen Unverbindlichkeit vielleicht noch was anfangen, aber ich glaube, andere ziemlich sicher nicht. Und ich glaube weiter, dass dies den grenzenlos offenen Raum überhaupt nicht spannend finden, denn in der Tat, den hätten sie oft auch jetzt.
Wer hier gut oder auch nur irgendwie klar kommt, ist ja an der Sonne, der aber sein Glück nicht in Eigenverantwortung macht, muss irgendwas falsch gemacht haben und wird schnell aussortiert. Und ich bin ausdrücklich für Eigenverantwortung, nur eben nicht dafür dort hinein gestoßen zu werden, wenn man noch nicht in der Lage dazu ist.

Die Rechtsruck ist m.E. abermals ein Ringen im Rollen, um kulturelle Identität. Dann ist man eben rechts, Nazi, egal, immerhin ist man dann wer, statt niemand. Oder eben Moslem mit all dem negativen Beiklang, von "Ehrenmord" bis Terror. Die, denen man nicht nur nicht das Gefühl gibt, dass sie aktuell nicht zu uns gehören, sondern, dass sie es auch nie tun werden, den Dunkeldeutschen (Synonym für manche Ostdeutschen) und Migranten der wievielten Generaton auch immer, die eben immer noch etwas anders aussehen, die können für ihre Herkunft und ihr Aussehen nun nichts, vor allem können sie sie nicht ändern. Daher sollte das kein Kriterium dafür sein, wer einer von uns ist. Aber Kriterien brauchen wir, weil man sich m.E. dann und erst dann, auch positiv daran ausrichten kann. Verzichtet man darauf, kommen andere und füllen dieses Vakuum und m.E. haben radikale Rechte und Moslems genau das erkannt. Die kümmern sich und das inzwischen hochprofessionell.

Darum hätte ich gerne erklärt, was Jullien dem ostdeutschen Wendeverlierer oder dem perfekt deutsch sprechenden türkischstämmigen Migranten der dritten Generation, der auf einmal den Moslem in sich entdeckt, zu bieten hat. Nur vor dem Hintergrund, nicht um provokativ eine Gegenposition einzunehmen.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 12. Mär 2018, 08:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 13:51
Das Phänomen, von dem wir sprechen, wenn wir von kultureller Identität sprechen, will der Autor nicht einfach leugnen, wenn er sagt dass es so etwas wie kulturelle Intensität nicht gibt. Sein Vorschlag ist nach meinem Verständnis, die Sache in einer anderen Art und Weise zu rekonstruieren, zu verstehen. Doch indem wir das tun, ändern wir das Phänomen zugleich, da aus diesem anderen Verständnis auch eine andere Praxis werden könnte. Der Geist ändert sich, wenn er sich anders beschreibt.
Das ist womöglich etwas missverständlich formuliert. Ich will weiter unten noch mal klarer machen, was damit nach meinem Verständnis gemeint ist.
Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 22:40
Darum hätte ich gerne erklärt, was Jullien dem ostdeutschen Wendeverlierer oder dem perfekt deutsch sprechenden türkischstämmigen Migranten der dritten Generation, der auf einmal den Moslem in sich entdeckt, zu bieten hat. Nur vor dem Hintergrund, nicht um provokativ eine Gegenposition einzunehmen.
Du bist schon an einer anderen Stelle als ich. Du fragst (einfach gesagt), wie die Dinge, die du oben nennst, im Lichte der Theorie Julliens aussehen, während ich noch dabei bin, das Licht langsam hoch zu dimmen :-) Vielleicht bringt die folgende Skizze ein wenig Licht ins Dunkel.

Wenn man versucht, die Vielfalt der Kulturen nach dem von mir weiter oben skizzierten “Ausschlussverfahren” zu verstehen, fixiert man sie und stellt sie fest. Man versteht sie dann (unter der Hand) gleichsam als Monolithe; also als einerseits in sich selbst einheitlich und andererseits streng voneinander getrennt. In diesem Sinn meint Jullien "es gibt keine kulturelle Identität" wortwörtlich. Denn Kulturen sind nichts, was in sich selbst “identisch” ist. Verwandlungen, Mutationen, Transformationen machen das “Wesen” der Kultur aus. In diesem Sinne ist es ganz falsch, kulturelle Charakteristiken zu fixieren oder überhaupt von der Identität einer Kultur zu sprechen.

Jullien zeigt das an verschiedenen Beispielen. Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen ist für ihn ein "denkwürdiges" Beispiel. Nach Jullien bringt Huntington die vermeintlich wichtigsten Kulturen der Welt (die »chinesische«, die »islamische«, die »westliche«) gewissermaßen in eine einfach Listenform. Und arbeitet streng nach der Logik der Unterschiede, die Jullien selbst kritisiert. Die Auflistung von Huntington funktioniert im Grund so, dass er die verschiedenen Kulturen in ihrer Identität beschreibt und dabei ihre charakteristischen Züge aufzählt. So als könne man so etwas wie eine kulturelle Identität Punkt für Punkt abarbeiten und in einer Tabelle anordnen, so dass am Ende dabei eine einfache Typisierung herauskommt. Das Ergebnis dieser Methode ist nach Jullien ziemlich verheerend:

“Indem er sie [die verschiedenen Kulturen] auf Banalitäten reduziert, indem er sie voneinander isoliert und in das einmauert, was vermeintlich ihre Besonderheiten, ihre am klarsten konturierten Unterschiede ausmacht, indem er sie auf ihre Identität zusammenschrumpfen lässt, können die Beziehungen zwischen ihnen eigentlich nur in einem »Zusammenstoß« enden, in einem clash, wie es im amerikanischen Originaltitel heißt.“

Ein weiteres Beispiel Julliens ist Europa. Seinen Punkt erläutert er an der Entstehung der Europäischen Verfassung. Es sollte seinerzeit eine Präambel geschrieben werden, die gewissermaßen in Kurzform unsere europäische Identität festhalten sollte. Doch das Vorhaben scheiterte. Es gab am Ende keine Präambel. Warum? Da man vermutlich auf die Logik der Identität fixiert war, konnte es keine Einigung geben: Die einen behaupteten zum Beispiel, Europa sei christlich. Die anderen insistierten darauf, Europa sei in erster Linie laizistisch. Fragt man nach Entweder-Oder kommt man hier natürlich zu keinem Ergebnis. Jullien: “Was Europa in Wirklichkeit ausmacht, ist natürlich der Umstand, dass es zugleich christlich und laizistisch (und Weiteres) ist. Es hat sich nämlich im Abstand zwischen den beiden entwickelt: in dem großen Abstand von Vernunft und Religion, von Glauben und Aufklärung.”

Dabei hat Jullien keinen Kompromiss im Sinn oder so etwas wie ein Mittelding. Ihm kommt es (wie schon wiederholt gesagt) an darauf an, das “Zwischen” (von Christlichem und die Laizistischem) zu denken. Ich würde das ein Spannungsfeld nennen, ein Begriff den Jullien aber nicht nutzt, soweit ich sehe. Der laizistische Pol und der Vernunft-Pol sind für Europa in ihrem Spannungsverhältnis “bestimmend”: “So kommt es, dass sich die Anforderungen des Glaubens im Abstand zu den Anforderungen der Vernunft geschärft haben und umgekehrt (und das sogar in ein und demselben Geist: Pascal): Von daher rühren der Reichtum oder die Ressourcen dessen, was Europa ausmacht. Oder besser: dessen, was »Europa macht«. Vor diesem Hintergrund ist jede Definition der europäischen Kultur, jede identitäre Annäherung an Europa nicht nur schrecklich vereinfachend und denkfaul. Sondern sie lässt verkümmern, führt zu Enttäuschungen und demobilisiert.”




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 12. Mär 2018, 08:37

Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 15:06
Ressource
Der Begriff verleitet zu einem Missverständnis. (Zumindest mich hat er dazu verleitet) Man könnte dabei nämlich an einen "gemeinsamen Fundus" denken. Aber von diesem Begriff grenzt sich Jullien ebenso ab. Der Fundus wäre dann so etwas wie der gemeinsame Weinkeller, aus dem sich jeder eine Flasche nach eigenem Geschmack holen könnte. Diese Sicht ist aber, wenn Julien recht hat, immer noch dem Identitätsdenken verhaftet und hat keine Ressourcen die Idee des Zwischen, des Spannungsverhältnisses oder des "Abstandes" zu erfassen.




Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

Mo 12. Mär 2018, 10:21

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 08:24
Wenn man versucht, die Vielfalt der Kulturen nach dem von mir weiter oben skizzierten “Ausschlussverfahren” zu verstehen, fixiert man sie und stellt sie fest. Man versteht sie dann (unter der Hand) gleichsam als Monolithe; also als einerseits in sich selbst einheitlich und andererseits streng voneinander getrennt. In diesem Sinn meint Jullien "es gibt keine kulturelle Identität" wortwörtlich. Denn Kulturen sind nichts, was in sich selbst “identisch” ist. Verwandlungen, Mutationen, Transformationen machen das “Wesen” der Kultur aus. In diesem Sinne ist es ganz falsch, kulturelle Charakteristiken zu fixieren oder überhaupt von der Identität einer Kultur zu sprechen.
Also, das verstehe ich soweit und dem stimme ich auch zu. Kulturen sind wandelbar und in sich auch in der Momentaufnahme nicht homogen, ja.
Dennoch gibt es ja insoweit kulturelle Eigenarten, die sich nicht nur auf Essen und Bauweisen beziehen, sondern auf Arten und Weisen im Umgang miteinandern. Direkt sein. Hier verstehen Europäer oft nicht, warum Chinesen freundlich lächeln, man aber nicht weiß, ob das Geschäft nun zustande kommt,. oder nicht. Sich im 13:00 Uhr zu treffen kann im arabischen Raum schon mal sehr breit interpretiert werden. Sein Herz auf der Zunge zu tragen, den anderen zu berühren ... alles Dinge, bei denen manches schief gehen kann.
Und da sind wir noch gar nicht bei der Weitergabe von Narrativen angekommen.

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 08:24
Jullien zeigt das an verschiedenen Beispielen. Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen ist für ihn ein "denkwürdiges" Beispiel. Nach Jullien bringt Huntington die vermeintlich wichtigsten Kulturen der Welt (die »chinesische«, die »islamische«, die »westliche«) gewissermaßen in eine einfach Listenform. Und arbeitet streng nach der Logik der Unterschiede, die Jullien selbst kritisiert. Die Auflistung von Huntington funktioniert im Grund so, dass er die verschiedenen Kulturen in ihrer Identität beschreibt und dabei ihre charakteristischen Züge aufzählt. So als könne man so etwas wie eine kulturelle Identität Punkt für Punkt abarbeiten und in einer Tabelle anordnen, so dass am Ende dabei eine einfache Typisierung herauskommt. Das Ergebnis dieser Methode ist nach Jullien ziemlich verheerend:

“Indem er sie [die verschiedenen Kulturen] auf Banalitäten reduziert, indem er sie voneinander isoliert und in das einmauert, was vermeintlich ihre Besonderheiten, ihre am klarsten konturierten Unterschiede ausmacht, indem er sie auf ihre Identität zusammenschrumpfen lässt, können die Beziehungen zwischen ihnen eigentlich nur in einem »Zusammenstoß« enden, in einem clash, wie es im amerikanischen Originaltitel heißt.“
Huntingtons Buch habe ich gelesen und kann im Grunde die Kritik nicht bestätigen. Die Tragik des Buches liegt darin, dass es an sich kenntnisreich und lesenswert ist, aber um eine Kernthese herum gestrickt ist, diei schon bei der Fertigstellung widerlegt war. Bei Heinsohn hört sich das so an:
„Huntington wusste selbst, schon vor Erscheinen des Buches, dass er falsch liegt und schwenkte auf die Youth Bulge These von Gary Fuller und später Gunnar Heinsohn um. An die gelangte er, laut Heinsohn, „erst während der Schlussredaktion, seines 1996er Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations). Während die Öffentlichkeit seinen „alten“ Hauptgedanken religiös-kultureller Konfliktpotenziale heftig diskutiert und die Theologen fragt, was denn wirklich In Koran und Bibel stehe, hat der berühmte Autor sich längst einem anderen Gedanken verschrieben.“
(Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, Orell-Füssli 2003, S.30)
Bei Huntington so:
"Ein letzter und der wichtigste Punkt: Die Bevölkerungsexplosion in islamischschen Gesellschaften und das riesige Reservoir an oft bechäftigungslosen Männern zwischen 15 und 30 sind eine natürliche Quelle der Instabilität und der Gewalt innerhalb des Islam und gegen Nichtmuslime. Welche anderen Gründe auch sonst noch mitspielen mögen, dieser Faktor allein erklärt zu einem großen Teil die islamische Gewalt der achtziger und neunziger Jahre."
(Samuel Huntington, Kampf der Kuturen, Europa Verlag 1996, S. 433)
Ansonsten verweist gerade Huntington auf die Zerrisenheit mancher Staaten und die damit zusammenhängende Gefahr, er nennt hier Russland, die Türkei, Mexiko und Australien, bei denen zumindest Russland und die Türkei nun das Problem auf ihre Art gelöst haben, in dem die Führung wieder deutlich autoritärer wurde, in Mexiko tobt seit langen Jahren ein ausgedehnter Bürgerkrieg, Australien scheint da bislang recht unbeschadet zu sein. Nach Jullien sollte doch das, was Huntington als Zerrissenheit ansieht, eine große Möglichkeit sein, da hier schon gelebt wurde, was ihm attraktiv erscheint, mindestens so, wie ich ihn bislang verstehe.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 08:24
Ein weiteres Beispiel Julliens ist Europa. Seinen Punkt erläutert er an der Entstehung der Europäischen Verfassung. Es sollte seinerzeit eine Präambel geschrieben werden, die gewissermaßen in Kurzform unsere europäische Identität festhalten sollte. Doch das Vorhaben scheiterte. Es gab am Ende keine Präambel. Warum? Da man vermutlich auf die Logik der Identität fixiert war, konnte es keine Einigung geben: Die einen behaupteten zum Beispiel, Europa sei christlich. Die anderen insistierten darauf, Europa sei in erster Linie laizistisch. Fragt man nach Entweder-Oder kommt man hier natürlich zu keinem Ergebnis. Jullien: “Was Europa in Wirklichkeit ausmacht, ist natürlich der Umstand, dass es zugleich christlich und laizistisch (und Weiteres) ist. Es hat sich nämlich im Abstand zwischen den beiden entwickelt: in dem großen Abstand von Vernunft und Religion, von Glauben und Aufklärung.”
Dem stimme ich insofern zu, als ich glaube, dass Europa nie mehr als eine Wirtschaftsunion war und vermutlich auch längere Zeit nichts anderes sein wird. Die Europabegeisterung fiindet man in Brüssel, aber sonst ist das gemeinsame Haus Europa doch ein sehr virtuelles Konstrukt. Sprachliche und kulturelle Barrieren und Unterschiede, so weit das Auge reicht, natürlich sind da Freundschaften und Austausch möglich, aber ich finde man kann die Widerlegung der These einer gemeinsamen Identität nicht an etwas demonstrieren, was nie auch nur um Ansatz eine gemeinsame Identität hatte. Die Identität ist vielleicht der Krieg gegeneinander. Kommunistische Sphären im Osten, demokratische im Westen, ein tendenziell ärmerer katholischer Süden und eine eher reicherer protestantischer Norden, mal mehr, mal weniger Atheismus usw., das war doch immer ein Papiertiger, auch wenn man heute in Bulgarien feiert, in Holland studiert und in Norwegen arbeitet, es bleiben gravierende Unterschiede in so ziemlich allem.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 08:24
Dabei hat Jullien keinen Kompromiss im Sinn oder so etwas wie ein Mittelding. Ihm kommt es (wie schon wiederholt gesagt) an darauf an, das “Zwischen” (von Christlichem und die Laizistischem) zu denken. Ich würde das ein Spannungsfeld nennen, ein Begriff den Jullien aber nicht nutzt, soweit ich sehe. Der laizistische Pol und der Vernunft-Pol sind für Europa in ihrem Spannungsverhältnis “bestimmend”: “So kommt es, dass sich die Anforderungen des Glaubens im Abstand zu den Anforderungen der Vernunft geschärft haben und umgekehrt (und das sogar in ein und demselben Geist: Pascal): Von daher rühren der Reichtum oder die Ressourcen dessen, was Europa ausmacht. Oder besser: dessen, was »Europa macht«. Vor diesem Hintergrund ist jede Definition der europäischen Kultur, jede identitäre Annäherung an Europa nicht nur schrecklich vereinfachend und denkfaul. Sondern sie lässt verkümmern, führt zu Enttäuschungen und demobilisiert.”
Es ist in Europa sicher gelungen dass die Religion, vor allem natürlich das Christentum und ein gewachsener Atheismus (den ich von einem verordneten, wie im Kommunismus unterschieden würde) sich gegenseitig großzügig ignorierten, deshalb wundderte mich auch das Aufblitzen dieser kurzen Dawkins-Begeisterung hier in Europa, in den Staaten mag das anders aussehen. Redet zurecht kaum mehr einer von, aber weitere Teile der post68er Gesellschaft sind, genau wie ich ganz 'natürlich' religionskritisch geprägt, Religionen standen für alles Reaktionäre. Ich bin ja auch mit Drewermann, Ranke-Heinemann usw. aufgewachsen und religiöse Menschen sonderbar bis zurückgeblieben zu finden, war normal für mich. Nicht mal boshaft, sondern mit der "Wie kann man nur?" Attitüde, weil man es doch heute besser wissen kann und weiß. Das sehe ich heute sehr deutlich anders, obwohl ich kein religiöser Mensch bin. Sowohl historisch als psychologisch oder philosophisch ist da vieles neu und deutlich anders zu bewerten. Es wäre zu viel da näher drauf einzugehen.

Ich frage mich aber, wie man Verständnis für religiöse Kulturen haben will, wenn man keines für die eigenen religiösen Wurzeln hat? Dann kann man nur auf der Basis kommunzieren, dass die anderen eben noch nicht so weit sind und schreibt ihnen mal schroff mal total einfühlsam vor, wie sie ihren Irrtum ablegen können. Ich glaube aber, dass die Krise des Naturalismus keinesfalls nur eine ist, die sich auf kosmologische Modelle und Gehirn/Geist Erklärungen bezieht, sondern, dass sie viel breiter ist und man erkennen muss, dass all die Vernünftelei zwar irgendwo gut ist, aber emotional nicht satt macht.
Europa ist einfach nicht zu vermarkten, auch wenn ich mal eine ziemlich beeindruckende Schilderung der Vorzüge des Klein-Klein gelesen habe, da werden nie im Leben alle mitgehen.
Die Nichthomogenität, die ich auch sehe, würde ich aber nicht zu einem Programm machen, da die Blocks selbst schon homogen sind. Und die Abspaltung des Rationalen, auf was wir uns seit der Aufklärung fokussieren, vom Emotionalen ist das Problem, was wir heute auf sehr vielen Ebenen haben.
Am Eklatantesten vielleicht auf der Ebene der Moral. Aber auch das wäre gesondert zu diskutieren. Dass wir aber eine Krise der Moral haben, die ihren Höhepunkt m.E. darin findet, dass sehr viele, sehr ernsthaft glauben, man könne und solle doch komplett drauf verzichten ist glaube ich was, was man sehen kann, oder?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Mo 12. Mär 2018, 10:49

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 08:37
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 15:06
Ressource
Der Begriff verleitet zu einem Missverständnis. (Zumindest mich hat er dazu verleitet) Man könnte dabei nämlich an einen "gemeinsamen Fundus" denken. Aber von diesem Begriff grenzt sich Jullien ebenso ab. Der Fundus wäre dann so etwas wie der gemeinsame Weinkeller, aus dem sich jeder eine Flasche nach eigenem Geschmack holen könnte. Diese Sicht ist aber, wenn Julien recht hat, immer noch dem Identitätsdenken verhaftet und hat keine Ressourcen die Idee des Zwischen, des Spannungsverhältnisses oder des "Abstandes" zu erfassen.
Das ist ein sicherlich guter Einwand, auch das Bild des gemeinsamen Weinkellers ist gut gewählt. Ich müsste mich nochmal vertieft mit Julliens Ressource-Begriff auseinandersetzen, um hier auf ihn eingehen zu können.

Aber dennoch denke ich, dass man mit Ressource einen Fundus bezeichnen kann, von dem unsere Zusammenleben zehren können, ähnlich einem Markt, wo man sich auch eindeckt an je verschiedenen Ständen. Das Gemeinsame ist nicht der Fundus, sondern der Wille, voneinander das zu entlehnen oder zu beziehen, das man für die jeweilige soziale Konfiguration braucht. Dass dies eher zu pragmatisch gedacht ist, ist mir bewusst: Gesellschaften lassen sich nicht wie Lego-Städte zusammenbauen.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Mo 12. Mär 2018, 13:27

Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 22:40
kulturelle Unverbindlichkeit
Ich bin nicht sicher, ob du hier Unverbindlichkeit im Sinne eines Relativismus meinst? Das wäre meines Erachtens überhaupt nicht Ziel des Vorschlags von Jullien, sofern ich ihn überhaupt richtig verstanden habe. Vielmehr wäre das Gegenteil zielführend, also Verbindlichkeit herzustellen zwischen Positionen, so dass sie nebeneinander zur Geltung gelangen können und in ihrer Bezogenheit aufeinander diese produktive Spannung erzeugen können - die eine Spannung des Unterschieds ist und produktiv nur sein kann, wenn sie im Bewusstsein des Unterschieds die Auseinandersetzung sucht, die in ihrem Fortgang alle Seiten stärken kann.

Man kann sich ja auseinandersetzen als Atheist mit Gläubigen oder viceversa, so dass am Ende einer darnieder liegt und belächelt wird, ärmer als zuvor, oder andererseits mit dem Ziel in die Auseinandersetzung gehen, dass die Reichtümer der entgegengesetzten Meinungen Grundlage des vereinigten Vermögens werden, so dass beide reicher aus der Auseinandersetzung gehen.

Und das ist meiner Ansicht nach dann besonders erfolgversprechend, wenn die Einsicht gediehen ist, dass es mit den Ansichten, kulturellen Praktiken und Meinungen so ist wie mit dem Städtebau: Wenn Kulturen als raumeinnehmend dargestellt werden können, benötigt man vielleicht auch hier Konzepte des verdichteten Wohnens, so dass das Zusammengehen der verschiedenen Kulturen unter dem Zeichen der neuen Nähe gelingen kann.

Der Turm zu Babel wäre ja eigentlich eine gute städtebauerische Vorlage gewesen, das war aber zu Zeiten, als es deepl noch nicht gab. :) Heute haben wir bessere Voraussetzungen



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 12. Mär 2018, 13:34

Alethos hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 13:27
Relativismus
Zu Universalismus hat der Autor auch einiges interessantes zu sagen. Universalismus ist für ihn eher so etwas wie ein offenes Projekt. Ich kann mal schauen, ob ich in den nächsten Tagen Zitate dazu finde.




Tosa Inu
Beiträge: 2300
Registriert: Mo 31. Jul 2017, 19:42
Kontaktdaten:

Mo 12. Mär 2018, 18:35

Alethos hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 13:27
Man kann sich ja auseinandersetzen als Atheist mit Gläubigen oder viceversa, so dass am Ende einer darnieder liegt und belächelt wird, ärmer als zuvor, oder andererseits mit dem Ziel in die Auseinandersetzung gehen, dass die Reichtümer der entgegengesetzten Meinungen Grundlage des vereinigten Vermögens werden, so dass beide reicher aus der Auseinandersetzung gehen.
Ja, es war ja auch eine Frage von mariaboiler, ob nicht der 'Verlierer' einer Diskussion der eigentliche Gewinner ist und es ist immer schön, wenn man eine Diskussion reicher verlässt.
Aber um das zu empfinden braucht man eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur und die hat nicht jeder. Ich kann eine Niederlage ja auch als solche empfinden, als Blamage, Schmach oder was auch immer und ich lese eher selten, dass sch jemand beim anderen dafür bedankt, dass er nun wieder etwas dazu gelernt hat.
Alethos hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 13:27
Und das ist meiner Ansicht nach dann besonders erfolgversprechend, wenn die Einsicht gediehen ist, dass es mit den Ansichten, kulturellen Praktiken und Meinungen so ist wie mit dem Städtebau: Wenn Kulturen als raumeinnehmend dargestellt werden können, benötigt man vielleicht auch hier Konzepte des verdichteten Wohnens, so dass das Zusammengehen der verschiedenen Kulturen unter dem Zeichen der neuen Nähe gelingen kann.

Der Turm zu Babel wäre ja eigentlich eine gute städtebauerische Vorlage gewesen, das war aber zu Zeiten, als es deepl noch nicht gab. :) Heute haben wir bessere Voraussetzungen.
Also, ich lebe im Ruhr-Pott, da ist das mit den Städten nicht so das beste Beispiel. In unsere Städte zieht man nur, wenn man nicht anders kann. Es ist ein Tanz auf der Rasierklinge, denn einerseits ist die Integrationskraft des Ruhrpotts geradezu sprichtwörtlich und berechtigt, andererseits dreht hier der Wind und die ganze Geschichte hat das Potential der neue Osten zu werden. Die AfD hat in einigen Teilen von Gelsenkirchen (bekannter der Stadtteil Schalke) Zustimmungswerte wie sonst nur im tiefen Bayern und tiefen Osten, nur mit dem Unterschied, dass das hier nicht in Regionen mit 0,3% Ausländerteil sind, sondern in solchen im deutlich zweistelligen Bereich.
Früher erkannte man, wenn man von uns in den Osten gefahren ist, das vor allem an den Straßen, eine Kraterlandschaft im Osten. Heute ist das auch noch so, nur haben wir jetzt die Krater. Da könnte ich jetzt noch viel zu schreiben, aber das gefährdet alles meine potentielle Ehrenbürgerschaft. :mrgreen:
Zuletzt geändert von Tosa Inu am Mo 12. Mär 2018, 19:00, insgesamt 1-mal geändert.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Antworten