François Jullien: "Es gibt keine kulturelle Identität"

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Jörn Budesheim
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Mo 12. Mär 2018, 18:48

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 10:21
kulturelle Eigenarten
Hi tosa inu,

Wir gehen die Sache sozusagen von zweit verschiedenen Enden an. Ich mehr von der theoretischen Seite, du mehr von der praktischen. Aber treffen wir uns in der Mitte? Ich bin mir da nicht so sicher. Mir ist nicht klar, wo und wie sich die zentralen Pointen von Jullien in deinen Antworten niederschlagen. Die Sache mit dem Zwischen, der Spannung, dem Abstand, der Nähe und Ferne ... wo finde ich das in deinen Überlegungen? Was denkst du dazu? Wie verstehst du das?




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Friederike
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Mo 12. Mär 2018, 19:07

Das ist eine gute Vorlage für mich @Jörn. Die praktische Seite, der Du Aufmerksamkeit gibst @Tosa Inu, das finde ich gut und richtig. Nur habe ich den Eindruck, daß mit allen Problemen, die Du ansprichst, Du immer in den alten Spurrillen läufst. Klarer kann ich im Augenblick nicht benennen, wovon ich meine, daß es mir Schwierigkeiten macht, Deine Gedankengänge nachzuvollziehen bzw. zu verstehen.




Tosa Inu
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Mo 12. Mär 2018, 21:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 18:48
Die Sache mit dem Zwischen, der Spannung, dem Abstand, der Nähe und Ferne ... wo finde ich das in deinen Überlegungen? Was denkst du dazu? Wie verstehst du das?
Der Abstand ist ja ungefähr als die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Position definiert, ich glaube, laut TAZ.
Und dadurch, dass Europa bspw. tatsächlich beides ist, nämlich religiös und laizistisch, hätte man die Möglichkeit sich als Europäer eben mit der typischen, daraus resultierenden Spannung, dass z.B. dieses Ringen eben etwas ist, was Europa ausmacht und das eigene kulturelle Erbe eben nicht die Betonposition: christlich, atheistisch oder laizistisch zu sein bedeuten muss, sondern auch die Möglichkeit bietet, sich mit dem Prozess des Ringens und der daraus resultierenden Spannung zu identifizieren.
Ich sehe es übrigens auch so, dass das eine originär europäische Leistung ist und vielleicht gelingt es sogar Menschen, sich genau damit zu identifizieren, aber ich glaube, dass diejenigen, die Identifikation am dringendsten brauchen, genau das nicht verarbeiten können.
Und der Weg sie dahin zu führen es irgendwann zu können, geht nur über eindeutigere Identifikationen, vor denen so viele Linksliberale (Jullien soll ja gar keiner sein), so eine Heidenangst haben, zu unrecht.
Aus dieser Angst heraus möchte vielen den schlimmen ersten Schritt in eine eindeutige Identifikation gerne verhindern, weil sie denken, wenn man einmal dort ist, kommt man von da nie wieder weg. Dabei ist das Gegenteil richtig, irgendwann erkennt man hoffentlich, dass man mit groben Rastern nicht sehr weit kommt.
Viele die hier aufwachsen bekommen keine positiven Werte vermittelt, sondern oft gesagt, wie sie nicht zu sein haben. Damit kann man viel falsch, aber kaum etwas richtig machen. Da Pädagogen das irgendwann spitz gekriegt haben, haben sie auch eine Gegenstrategie entworfen, inflationäres Loben. Denn loben, so weiß man, kann man nie zuviel.
Es gibt sehr viele Theoretiker und Praktiker, die das extrem problematisch und gefährlich finden.
Jemandem der gefestigt ist, kann das Dazwischen nichts anhaben, der findet diese Aufforderung aber ohnehin bei Habermas. Was ist der Diskurs anderes, als wenigstens vorläufig die Position des anderen einzunehmen und sich so gut es geht in seine Haut zu versetzen? Jemandem, dem nur eine weitere Ebene der Identität entzogen wird, der wird m.E. davon nicht profitieren.

An wen richtet sich Deiner Meinung nach das Buch? In der jungle world wird dem Autor ja auch politische Naivität unterstellt.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
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Mo 12. Mär 2018, 22:18

Friederike hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 19:07
Das ist eine gute Vorlage für mich @Jörn. Die praktische Seite, der Du Aufmerksamkeit gibst @Tosa Inu, das finde ich gut und richtig. Nur habe ich den Eindruck, daß mit allen Problemen, die Du ansprichst, Du immer in den alten Spurrillen läufst. Klarer kann ich im Augenblick nicht benennen, wovon ich meine, daß es mir Schwierigkeiten macht, Deine Gedankengänge nachzuvollziehen bzw. zu verstehen.
Ich kann es vielleicht klarer benennen.
Das ist zu ungefähr 100% von Wilber geklaut, der den Linksliberalen (in seiner Sprache: den Boomern oder dem mean green meme) vorwirft, sie hätten keine Ahnung von Entwicklungspsychologie und würden sich daher in einen fortwährenden performativen Widerspruch begeben. Sie erkennen entweder tatsächlich nicht oder leugnen, dass ihre pluralistische Position, die Wilber ausdrücklich als sehr reif, sehr weit entwickelt und überaus wünschenswert ansieht, eben genau das ist ... sehr weit entwickelt. Damit würde man aber zweierlei tun, was Linksliberale so offen niemals machen würden, nämlich sich erstens, zu einer Hierarchie zu bekennen (weil das in ihrer Blase immer irgendwie was Faschistisches hat. Kommentar: was grundfalsch ist) und zweitens, sich nun auch noch dazu bekennen müssten, dass sie höher entwickelt sind. Und zwar weil sie empathisch sind, mitfühlen können, nicht nur nicht auschließlich an sich, sondern auch nicht nur an ihre Gruppe denken. Das sind, in der Blüte der Entwicklung wirklich sympathische Menschen, mit dem Herz am rechten Fleck, die im anderen die Potentiale sehen und Freude daran haben, diese mit ihnen zu verwirklichen. Und in aller sympathischen Demut würden sie auch noch sagen, dass sie selbst doch gar nichts Besonderes sind, das vermutlich sogar ernst meinen, zudem wollen sie niemanden düpieren oder gar kränken.
Dieses ganze besser/schlechter Dings ist ihnen zuwider und niemals wollen sie, dass ihre Kinder das erst durchlaufen müssen, warum erst etwas in die Psyche einbringen, was man nachher sowieso wieder vergessen sollte?
Darum ist ihr Programm Buntheit von Anfang an und genau das funktioniert nach Ansicht von Wilber und ungefähr aller Entwicklungspsychologen einfach nicht.
Die Psyche funktioniert beleidigend stur in Stufen, man muss sie alle nacheinander gehen, man kann nicht oben anfangen und auch keine Stufe überspringen.
Und der Verzicht auf Identifikationsangebote ist der Verzicht auf ein Wertesystem und wenn man nicht irgendwann lernt sich in ein Wertesystem einzufügen, bastelt man sich sein eigenes, an dessen Spitze man selbst steht und das nennt sich psychologisch Narzissmus. Und aus diesem Grund hält Wilber das grüne Mem, die Stufe des empfindsamen und mitfühlenden Selbst für einen Supermagneten für Narzissmus.
Das ist tatsächlich steinalt, also etlche Jahrzehnte, aber ich glaube, dass es ganz einfach wahr ist.

Nun ist die Preisfrage, ob wir tatsächlich ein Zeitalter des Narzissmus erleben? Die Datenlage ist sehr kontrovers, mit einer Tendenz in Richtung Zunahme.
Meine These ist, dass wir gerade in Deutschland ein soziales Großexperiment hinter uns haben und den roten Faden zwischen den Bausteinen nicht sehen, die ich oben beschrieben habe. Keine Identität haben, das ist mal nicht kontrovers, sondern das diagnostische Hauptkriterium, ist der Indikator für eine schwere PST, wovon der Narzissmus eine ist.

Einer derjenigen, die ein rapides Ansteigen des Narzissmus sehen und in eine ähnliche Kerbe schlägt, ist Raphael Bonelli der ein lesenswertes Buch mit dem Titel Männlicher Narzissmus geschrieben hat. Wahllos hierzu: link und link. Mit dem Buch stimme ist zu 80% überein, mit drei Punkten nicht, aber das würde zu weit führen.

Alles noch mal anders, aber ähnlich findet sich in dem Artikel: Das Lob: Zuviel des Guten?

Völlig unabhängig davon, ob Du den Gedankengang teilst, würde mich besonders interessieren, ob Du die Verbindung zwischen den Themen siehst?
Mich schreit das geradezu an, aber ich bin diesen Weg auch zig mal gegangen, darum weiß ich manchmal nicht mehr, ob, das was mir sonnenklar erscheint für andere überhaupt nachvollziehbar ist.



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Jörn Budesheim
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Di 13. Mär 2018, 05:51

Alethos hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 10:49
Ich müsste mich nochmal vertieft mit Julliens Ressource-Begriff auseinandersetzen, um hier auf ihn eingehen zu können.
Alethos hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 13:27
Der Turm zu Babel wäre ja eigentlich eine gute städtebauerische Vorlage gewesen, das war aber zu Zeiten, als es deepl noch nicht gab. :) Heute haben wir bessere Voraussetzungen
Dazu vielleicht ein oder zwei Zitate...
Jullien in Kapitel 5 hat geschrieben : Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur

Daher werde ich auch keine kulturelle Identität, sei es nun eine französische oder eine europäische, verteidigen, würde dies doch voraussetzen, dass man sie durch Unterschiede definieren, in ihrem Wesen fixieren oder in Begriffen der Zugehörigkeit bestimmen kann, also dass ich »meine« Kultur besäße. Ich werde vielmehr die kulturelle Fruchtbarkeit Frankreichs und Europas verteidigen, wie sie sich durch erfinderische Abstände/Abweichungen entfaltet hat. Ich verteidige sie, weil ich ihr das wegen meiner Erziehung schulde und weil ich folglich für ihre Entfaltung und Weitergabe mitverantwortlich bin. Und dennoch werde ich sie niemals besitzen. Ist es nicht offensichtlich, dass es oft Fremde sind, die für diese Ressourcen und diese Fruchtbarkeit ein besonders gutes Gespür haben? Sind sie nicht mehr auf die Ressourcen der französischen Sprache und ihre Korrektheit bedacht als viele sogenannte »gebürtige« Franzosen? Dennoch ist es, wie schon Nietzsche betont hat, richtig, dass eine Kultur stets in einem bestimmten Gebiet, in einem bestimmten Milieu entsteht und sich entwickelt. Sie ereignet sich stets lokal, in einer Nähe und in einer Landschaft: in einer Sprache und einer Atmosphäre, die ihre Prägnanz ausmachen. Noch passender als lokal erscheint mir dabei der Begriff fokal: Kultur entfaltet sich stets von so etwas wie einem »Herd« (foyer) aus, durch das Singuläre hindurch – denn nur das Singuläre ist kreativ.
Ich werde diese Ressourcen umso leidenschaftlicher verteidigen, als sie heute bedroht sind. Es gilt, Widerstand zu leisten, und zwar an den beiden von mir bereits aufgezeigten Fronten: da, wo das Uniforme als scheinbar Universelles missverstanden wird; und dort, wo das Gemeinsame nicht mehr vom Universellen getragen wird und sich in sein Gegenteil verkehrt: die Abkapselung kulturell oder auf andere Weise definierter Gemeinschaften. Man muss einerseits gegen die Verarmung der Kulturen, ihre durch die globale und kommerzielle Uniformisierung hervorgerufene Verflachung ankämpfen. Es ist schließlich der Markt, der die »Welt macht«. Derselbe Harry Potter findet sich stapelweise in jedem Winkel der Welt und formt die Phantasie der Jugend überall auf dieselbe Weise – und das zunehmend in der neuen Einheitssprache Globisch. So ist dieser Widerstand zunächst einer der Sprachen: Wenn wir nur noch eine Sprache sprechen, wenn die fruchtbaren Abstände zwischen den Sprachen verloren gehen, können diese sich nicht länger wechselseitig reflektieren. Sie werden ihre jeweiligen Ressourcen nicht mehr zu erkennen geben. Wir denken dann nur noch in standardisierten Begriffen, die uns dazu verleiten, das für universell zu halten, was eigentlich nur Stereotype des Denkens sind. »Babel« ist in Wirklichkeit eine Chance für das Denken.




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Friederike
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Di 13. Mär 2018, 10:16

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 12. Mär 2018, 21:18
Ich sehe es übrigens auch so, dass das eine originär europäische Leistung ist und vielleicht gelingt es sogar Menschen, sich genau damit zu identifizieren, aber ich glaube, dass diejenigen, die Identifikation am dringendsten brauchen, genau das nicht verarbeiten können. Und der Weg sie dahin zu führen es irgendwann zu können, geht nur über eindeutigere Identifikationen, vor denen so viele Linksliberale (Jullien soll ja gar keiner sein), so eine Heidenangst haben, zu unrecht.
Aus dieser Angst heraus möchte vielen den schlimmen ersten Schritt in eine eindeutige Identifikation gerne verhindern, weil sie denken, wenn man einmal dort ist, kommt man von da nie wieder weg. [...]Es gibt sehr viele Theoretiker und Praktiker, die das extrem problematisch und gefährlich finden. Jemandem der gefestigt ist, kann das Dazwischen nichts anhaben, der findet diese Aufforderung aber ohnehin bei Habermas.
Du hattest es von Anfang an gesagt, es ist also nicht Dein Versäumnis, sondern meine Langsamkeit (vielleicht auch mein minderbemittelter Geist), aber jetzt kapiere ich überhaupt erst Deinen Standpunkt (der Ort, von dem aus Du argumentierst): Identität ist eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, die für ihre Herausbildung notwendigen Grenzziehungen wieder durchlässiger machen zu können. Man kann die Identitätsbildung, die ein Umweg zu sein scheint, nun aber nicht einfach streichen, weil ohne diesen ersten Schritt gar keine Offenheit und Beweglichkeit möglich sind. Du argumentierst daher für die kulturelle Identität, d.h. dafür, die Bedeutung der Identität zu erkennen und anzuerkennen. Und ja, da trifft sich Deine kritische Argumentation zumindest teilweise mit dem in der "jungle world" vorgetragenen Einwand, Jullien übersähe die Machtkonstellationen, die Identitätsentwicklungen gelegentlich geradezu herausfordere. "Teilweise", weil Du grundsätzlich davon ausgehst, daß kulturelle Identität Bestandteil jeder individuumsbezogenen Identität ist, und Identität wiederum für die Entwicklung zu einem reifen Individuen unerlässlich ist.




Tosa Inu
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Di 13. Mär 2018, 11:57

Friederike hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 10:16
Identität ist eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, die für ihre Herausbildung notwendigen Grenzziehungen wieder durchlässiger machen zu können.
Exakt!
Friederike hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 10:16
Man kann die Identitätsbildung, die ein Umweg zu sein scheint, nun aber nicht einfach streichen, weil ohne diesen ersten Schritt gar keine Offenheit und Beweglichkeit möglich sind.
Ja.
Friederike hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 10:16
Du argumentierst daher für die kulturelle Identität, d.h. dafür, die Bedeutung der Identität zu erkennen und anzuerkennen. Und ja, da trifft sich Deine kritische Argumentation zumindest teilweise mit dem in der "jungle world" vorgetragenen Einwand, Jullien übersähe die Machtkonstellationen, die Identitätsentwicklungen gelegentlich geradezu herausfordere. "Teilweise", weil Du grundsätzlich davon ausgehst, daß kulturelle Identität Bestandteil jeder individuumsbezogenen Identität ist, und Identität wiederum für die Entwicklung zu einem reifen Individuen unerlässlich ist.
Genau und vielen Dank!

Das gibt mir das angenehme Gefühl verstanden worden zu sein, der nächste Schritt ist dann die Diskussion darüber, welcher Standpunkt der zutreffende ist.
Du hattest das treffend formuliert, die ausführlichere Variante ist die, dass Identifikation natürlich einerseits die nie endende Frage "Wer bin ich?" ist.
In der Frühphase der Entwicklung ist natürlich für so ziemlich jeden klar ersichtlich, dass man schlicht nicht wissen kann, wer man ist. Durch das Erlernen der Sprache und der damit verbundenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, durch die indiviuierenden Hinweise anderer wer ich überhaupt erst zu jemandem.
Als Kind nimmt man die Werte der eigenen Familie als Normalfall und Meßlatte vollkommen unkritisch auf und verinnerlicht diese. Auch das ist gesichert. Wenn da nichts kommt, oder die explizitien und impliziten Aussagen und damit verbundenen Handlungen, widersprüchlich, chaotisch oder sadistisch sind ist das schlecht und ein normales Wertesystem kann nicht errichtet werden.
Wird ein normales Wertesystem/Über-Ich/Gewissen errichtet, so steht das ja in irgendeiner Verbidung zu den Werten der Gesellschaft in der man lebt, d.h. heißt, selbst wenn die Werte in der Interpretation der Eltern abgelehnt werden, erfahre ich was über diese Werte, auch über "die doofen Politiker" geschimpft wird, erfahre ich dadurch implizit etwas, da diesen offenbar ein besonderer Status zukommt.
Und so werden nach und nach mehr Informationen über die Gesellschaft in der man lebt aufgenommen und es bildet sich eine kulturelle Identität als normaler Teil der individuellen Identität. Indem ich sage, dass ich männlich und aus dem Ruhrpott bin, sage ich ja auch etwas, über meine kulturellen Wurzeln und dass es eben etwas anderes ist, wenn man einem Ballungsraum aufwächst, als in der niedersächsischen Steppe oder einem Südtiroler Bergdorf.
Mein Verhältnis zum Begriff Nationalstolz ist sicherlich komplizierter als das von Alethos, mein Verhältnis zu Recht und Rolle von Frauen ist ein anderes als das eines Menschen aus einer hart patriarchalen Kultur, mein Verhältnis zu Autoriätspersonen ist ein anderes, als das meiner Oma, aber auch als das eines heutigen Teenagers.

Kulturen sind zwar der Wandlung unterworfen, aber eben durchaus auch, über viele Jahre, in vielen Bereichen stabil.
Fällt der Bereich einer persönlichen Identität weg, kann man sich kompensatorisch an die Identifikation mit einer Gruppe oder in einer stärker regressiven Form, an eine starke Führerfigur anlehnen, bzw. sich mit dieser identifizieren. Kommt dies aber nun auch noch ins Wanken, so entwickelt sich eine durchaus problematischde regressive Dynamik, die umso mehr Menschen mitreißt, je stärker die kulturellen Traumatisierungen sind.
„Zahlreiche Faktoren, ob einzeln oder in Verbindung miteinander wirksamen, können den Wechsel einer herrschenden gesellschaftlichen oder politischen Ideologie in Richtung eines paranoiden Fundamentalismus beschleunigen, insbesondere in einer Kultur in der es eine große Bereitschaft für Rassismus und kriegerische religiöse Auseinandersetzungen gibt. Zu diesen Faktoren gehören schwere gesellschaftliche Traumata, wie z.B. die Niederlage in einem Krieg oder der Verlust nationaler Territorien, wirtschaftliche Krisen, die Bedrohung durch feindliche Gruppierungen im Innern oder durch äußere Feinde, die Zugehörigkeit zu einer sozial benachteiligten oder unterdrückten Klasse. All diese Bedingungen können die Regression der Gruppe zu einem gewalttätigen Mob oder einer Massenbewegung machen.

Zusammenfassend können wir festhalten: Zu den vielen verschiedenen Faktoren, die die massive Regression einer Bevölkerungsgruppe auslösen können und gesellschaftlich sanktionierte Gewalt sowie den Zusammenbruch aller bislang gültigen Moralvorstellungen und zivilisierten menschlichen Umgangsformen nach sich ziehen, gehören
  • unverarbeitete soziale Traumata,
  • fundamentalistische Ideologien,
  • primitive, insbesondere maligne narzisstische Führung,
  • eine effiziente, rigide Bürokratie sowie
  • die durch eine Finanzkrise oder gesellschaftliche Revolution hervorgerufene Auflösung herkömmlicher gesellschaftlicher Strukturen und der damit verbundenen Aufgabensysteme.
Bracher (1982) hat dargelegt, dass staatliche Kontrolle der Wirtschaft, der Streitkräfte und insbesondere der Medien, die Machtübernahme durch eine totalitäre Führung zusätzlich fördert.“
(Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 331)
Das heißt mit anderen Worten, dass man die dynamische Beziehung zwischen Ich und Kultur auch insofern nutzen kann, als man jemandem, der unter einer Ich-Schwäche oder Identitätsdiffusion leidet, kulturell helfen kann, indem man ihm einen Platz in der Gesellschaft zuweist und er weiß, was er tun kann und soll. Freudianisch ausgedrückt ist das die Stärkung der Liebes- und Arbeitsfähigkeit oder einfach: Das gute Gefühl gebraucht zu werden. Oder die soziale Rolle.
Das zu schnell aufzuweichen halte ich eher für brandgefährlich, als für eine gute Idee.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Di 13. Mär 2018, 13:11

Friederike hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 10:16
Identitätsbildung
Ob man sich mit einer Kultur identifiziert und ob diese Kultur selbst eine Identität hat, sind zwei verschiedene Dinge, meine ich. Insofern ist auch der Ausdruck "kulturelle Identität" doppeldeutig. So viel en passent, weil ich heute kaum Zeit zum Schreiben finden werde.




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Di 13. Mär 2018, 13:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 13:11
Ob man sich mit einer Kultur identifiziert und ob diese Kultur selbst eine Identität hat, sind zwei verschiedene Dinge, meine ich. Insofern ist auch der Ausdruck "kulturelle Identität" doppeldeutig. So viel en passent, weil ich heute kaum Zeit zum Schreiben finden werde.
Gut, daß Du diesen Punkt aufgreifst, weil ich schon bemerkt habe, wie ich jedesmal ins Schwimmen komme, wenn ich den Ausdruck "kulturelle Identität" benutze. Ich muß erst überlegen und meine Gedanken sortieren, Du bist heute knapp mit Zeit ... ich mache einen Erinnerungsknoten ins Taschentuch, denn daß wir die Sache klären, ist mir wichtig.




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Di 13. Mär 2018, 18:17

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 13:11
Ob man sich mit einer Kultur identifiziert und ob diese Kultur selbst eine Identität hat, sind zwei verschiedene Dinge, meine ich. Insofern ist auch der Ausdruck "kulturelle Identität" doppeldeutig. [...]
Vielleicht ist es die Frage nach der Gewichtung zwischen Struktur und Indiviuum. Die Struktur einer Kultur ist aus dem Handeln von Individuen erwachsen, wie anderherum jedes Individuum in eine vorgebene Struktur hineingeboren wird und in ihr handelt. Eine kulturelle Identität ohne Akteure ist praktisch! nicht denkbar. Ein Individuum, das nicht mehr oder weniger teilhat an einer Kultur, dessen Identität daher nicht auch kulturell geprägt ist, ist ebenfalls nicht denkbar. Dies meine erste Idee von heute Nachmittag. Aber ich bin gespannt, wo und wie Du ansetzen wirst.




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Jörn Budesheim
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Mi 14. Mär 2018, 08:28

Friederike hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 18:17
Vielleicht ist es die Frage nach der Gewichtung zwischen Struktur und Indiviuum.
Friederike hat geschrieben :
Di 13. Mär 2018, 18:17
vorgebene Struktur
Ja, so sehe ich es auch. Man kann es vielleicht mereologisch aufdröseln an einem vereinfachten Märchenbeispiel. Nehmen wir die natürlichen Zahlen. Wir können nicht verstehen, was die 5 (Individuum/Teil) ist, ohne zu verstehen, was die natürlichen Zahlen (Struktur/Ganzes) sind. Stellen wir uns das Märchenszenario vor, dass natürliche Zahlen geistbegabte Wesen seien. Dann ist die 5 so ein "Zwitterwesen". Auf der einen Seite ist sie ganz und gar "einzigartig", keine andere Zahl besetzt die Stelle zwischen 4 und 6. Das gibt der 5 das Gefühl etwas ganz besonderes zu sein. Auf der anderen Seite verdankt sich die 5 einfachen Regeln, der sich alle Zahlen verdanken. Das gibt der 5 das Gefühl, nichts als eine Nummer zu sein und gerade nichts besonderes. Wir können uns weiter vorstellen, dass die natürlichen Zahlen auf gewisse Kollegen herabschauen, was allen Nummern ein gutes Gefühl gibt: "Brüche? Das sind doch keine ganzen Kerle!" Oder: "Irrationale Zahlen? Igitt - das ist wider die Natur!"

Nach meinem Gefühl wendet sich Jullien gegen dieses einfache Bild, was "uns" gefangen hält, um es mit Wittgenstein zu sagen. Kulturen lassen sich nicht nach diesem Muster begreifen. Weder nach innen: sie sind kein Set von Regeln, dass sich ermitteln ließe. Noch nach außen: sie sind von anderen Kulturen nicht in dieser Manier klar unterschieden.

Die Rede von der kulturellen Identität ist jedoch zweideutig. Sie bezieht sich sowohl auf ein teil als auch auf sein Ganzes. Sie kann sich also einerseits auf die 5 (das Individuum) beziehen, die ihren Platz in der Reihe hat und daraus ihren Selbstwert bezieht sowie ihr Gefühl, nicht einzigartig zu sein, was durch die Überlegenheit der Gruppe als Ganzer gegenüber den Brüchen und irrationalen Zahlen "kompensiert" wird. Die Rede von der kulturellen Identität kann sich andererseits auf die Reihe der natürlichen Zahlen in ihrer psotiven sowie negativen Bestimmung in Abrenzung zu Brüchen etc. beziehen. Diese beiden Bezüge sind verschieden, wenn sie auch zusammenhängen mögen.

Nun ist es nach meiner Ansicht so, dass Individuen wie wir nicht nach dem Muster der 5 leben und denken müssen :-) Weder müssen wir uns als bloße Nummer verstehen. Noch ist unser Identifizierung mit einer bestimmten Kultur davon abhängig, dass wir Kulturen "identitär" verstehen und in klarer Abgrenzung zu anderen Kulturen. Ohne Identifikation mag es nicht gehen, aber daraus folgt nicht, dass die Identifikation noch dem obigen Muster geschieht.

Zu sagen "Es gibt keine kulturelle Identität" heißt nicht zugleich zu sagen "Es gibt keine kulturelle Identifikation".

Ich selbst kann mich viel besser mit der europäischen Kultur "identifizieren", wenn ich ihre inneren Spannungen, Metamorphosen in Rechnung stelle und auch ihre Abhängigkeiten, ihre Auseinandersetzungen sowie ihre Liebeleien mit anderen Wolkengebilden u.v.m.

---------------------

Das Zahlenmärchen von mir entspricht wohl im Großen und Ganzen der Startsequenz des taz-Artikels über Jullien:
Von der prinzipiellen Überlegenheit der deutschen oder der westlichen Kultur haben die neurechten Vordenker] sich verabschiedet. Und ersetzt haben sie das durch eine Theorie der Gleichwertigkeit homogener Völker in ihren jeweiligen Lebensräumen, also von afrikanischen Völkern in Afrika, europäischen Völkern in Europa, arabischen Völkern in Arabien usw. Eine Kultur sei dort stark, wo sie entstanden ist, und sie verliere an Kraft, wenn sie diesen Raum verlässt. Das läuft unter Ethnopluralismus.

[...] Im Kern haben wir es mit einem stillgestellten Huntington zu tun. Statt um einen Kampf der Kulturen geht es hier um ihr gegenseitig abgeschottetes Nebeneinander. Aber das Statische bleibt, und wie die einzelnen Kulturen beschrieben werden, hat mehr mit eigenen Projektionen als mit Realitäten zu tun. [...]

Abwertung der eigenen Kultur
Im Umfeld der Neuen Rechten mag es also viel Gewese um „Zustand unseres kulturellen Daseins“ (Götz Kubitscheck) geben. Doch wenn man genau hinsieht, werten die Neuen Rechten nicht nur die sogenannten fremden Kulturen eben doch ab, sondern auch die sogenannte eigene Kultur. Indem sie sie identitär festnageln wollen, nehmen sie ihr die Kraft.




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Jörn Budesheim
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Mi 14. Mär 2018, 09:18

Sofern ich Jullien richtig deute, kann man es auch "paradox" ausdrücken: "Es gibt keine kulturelle Identität" ist sowohl richtig als auch falsch. Je nach dem auf welchen Aspekt des Begriffes man sich bezieht.

Richtig ist es, weil es identische Kulturen nicht gibt. (Im oben wiederholt erläuterten Sinne)
Falsch ist es, weil Menschen in Regel ihre Kultur als Teil ihrer Identität verstehen.

Aber das eine schließt das andere eben nicht aus.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 14. Mär 2018, 08:28
Nach meinem Gefühl wendet sich Jullien gegen dieses einfache Bild, was "uns" gefangen hält, um es mit Wittgenstein zu sagen. Kulturen lassen sich nicht nach diesem Muster begreifen. Weder nach innen: sie sind kein Set von Regeln, dass sich ermitteln ließe. Noch nach außen: sie sind von anderen Kulturen nicht in dieser Manier klar unterschieden.
Halte ich für blödsinnig. Also, nicht Deine Darstellung, Jörn, sondern Julliens These, von der ich annehme, dass Du sie korrekt wiedergegeben hast.
M.M.n. ist Freuds Das Unbehagen in den Kultur, einer der wichtigsten Texte unserer Kultur. ;)
Hier der komplette Text.
Hier eine ansprechende Wikipedia Zusammenfassung.
Die Zusammenfassung zu lesen, fände ich nicht schlecht, im Kontext unseres Thema.

Freud hatte zwar das Phänomen der Kultur, in Abgrenzung zur Natur als Ganzes im Blick, er spricht aber doch mehr von unserer europäiden Kultur.
Ich denke, dass bei der Lektüre der Zusammenfassung klar wird, dass es sehr wohl ein Set von Regeln ist, dass sich ermitteln lässt, unbedingt erwartet wird nämlich der Triebverzicht auf allen nur erdenklichen Ebenen und die Abgrenzung zu anderen Kulturen ist m.E. auch erkennbar.

Da heute ich derjenige mit der wenigen Zeit bin, dies als Impuls.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Mi 14. Mär 2018, 16:23

Nach der ersten Lesung der "Zusammenfassung" muß ich einfach damit reinplatzen - was für eine grandiose Theorie! Ich bin schwer beeindruckt. Danke für den Hinweis. Was die Zähmung des Animalischen angeht, d.h. die Umsetzung des Kultur"programms" konkret im europäischen Raum und über einen langen Zeitraum betrachtet, dazu nehme ich später eine zweite Lesung vor.




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Mi 14. Mär 2018, 16:36

Der Übersichtlichkeit halber habe ich dafür einen neuen Thread eröffnet, denn das ist natürlich ein ganz neues Thema: Das Unbehagen in den Kultur




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Mi 14. Mär 2018, 18:27

Jörn hat geschrieben : Der Übersichtlichkeit halber habe ich dafür einen neuen Thread eröffnet, denn das ist natürlich ein ganz neues Thema: Das Unbehagen in der Kultur.
Ich möchte dennoch meine Bedenken hier notieren und zwar deswegen, weil sie sich direkt auf Julliens Ansatz beziehen.
Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 14. Mär 2018, 10:40
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 14. Mär 2018, 08:28
Nach meinem Gefühl wendet sich Jullien gegen dieses einfache Bild, was "uns" gefangen hält, um es mit Wittgenstein zu sagen. Kulturen lassen sich nicht nach diesem Muster begreifen. Weder nach innen: sie sind kein Set von Regeln, dass sich ermitteln ließe. Noch nach außen: sie sind von anderen Kulturen nicht in dieser Manier klar unterschieden.
M.M.n. ist Freuds Das Unbehagen in der Kultur, einer der wichtigsten Texte unserer Kultur. ;)
Freud hatte zwar das Phänomen der Kultur, in Abgrenzung zur Natur als Ganzes im Blick, er spricht aber doch mehr von unserer europäiden Kultur. Ich denke, dass bei der Lektüre der Zusammenfassung klar wird, dass es sehr wohl ein Set von Regeln ist, dass sich ermitteln lässt, unbedingt erwartet wird nämlich der Triebverzicht auf allen nur erdenklichen Ebenen und die Abgrenzung zu anderen Kulturen ist m.E. auch erkennbar.
Dem "Unbehagen in der Kultur" liegt eine "große" Theorie zugrunde. Dröselt man die "kulturelle Identität" nicht vom Triebverzicht her auf, dann fallen die Sets von Regeln (wie Jörn sinngemäß Julliens Auffassung umschrieben hatte), gegen deren Fehlen Du das Freud'sche System hier reingebracht hast, weg. Es sei denn, man könnte zeigen, daß diese Sets von Regeln auch ohne die "Trieb"-Theorie" existieren und entscheidener noch, zu erklären sind. Soweit ich die "Zusammenfassung" verstanden habe, folgen die Unterschiede oder "Abgrenzungen" (zit. Ausdruck) der europäischen zu anderen Kulturen ebenfalls unmittelbar aus der Triebverzicht- Voraussetzung.




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Jörn Budesheim
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wiki über Freuds Aufsatz hat geschrieben : Am Anfang der Kulturentwicklung stand der aufrechte Gang
Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 14. Mär 2018, 10:40
Ich denke, dass bei der Lektüre der Zusammenfassung klar wird, dass es sehr wohl ein Set von Regeln ist, dass sich ermitteln lässt, ...
Friederike hat geschrieben :
Mi 14. Mär 2018, 18:27
Sets von Regeln
Ich habe den Aufsatz von Freud (noch) nicht gelesen und auch den Wikipedia-Artikel bisher nur überflogen. Ich gehe jedoch davon aus, dass Freud hier nicht über eine bestimmte Kultur spricht, sondern über die Entwicklung von Kultur generell. Oder? Ansonsten würde ich mich über ein Zitat freuen.

Also: Geht es in dem Aufsatz von Freud an irgendeiner Stelle wirklich um Kulturen (im Plural), deren unterschiedliche Bestimmungen im Positiven, wie im Negativen, etwa im Sinne von Samuel P. Huntingtons Kulturen (»chinesische«, die »islamische«, die »westliche«)? Meine Metapher weiter oben vom Regel-Set bezog sich auf Kulturen und ihre (angeblich) klar bestimmbaren Eigenheiten und Unterschiede am Beispiel der Zahlen und nicht auf den Oberbegriff Kultur und was ihn ausmacht und wie er sich bestimmen lässt.

Deswegen ist mir der Einwand von Tosa Inu, dass es sehr wohl ein Regelwerk gibt, nicht klar. Denn diese Metapher bezog sich ja nicht darauf wie (und ob) sich Kultur ganz generell bestimmen lässt, sondern wie sich die spezifischen, unterschiedlichen Kulturen (»chinesische«, die »islamische«, die »westliche«) positiv und\oder negativ bestimmen lassen. Wenn man dabei an das Diagramm vom Angelfischer denkt, sind wir also zumindest eine Stufe unterschieden. (Also etwa bei der Unterscheidung Natur/Kultur und nicht bei der Unterscheidung europäische/afrikanische Kulturen z.b.)

Und ich möchte ehrlich gesagt nicht den gesamten Aufsatz von Freud lesen müssen, um die fraglichen Stellen zu finden. Wenn wir den Ansatz von Freud für diesen Thread hier fruchtbar machen wollen, dann finde ich es also nicht schlecht, zumindestens für den Beginn, auf die Bereiche zu verweisen, die sich direkt mit dem Thema hier beschäftigen, also Kulturen im Plural mit ihren Unterschieden, Differenzen, Abständen, Nähen et ceteraetc pp.




Tosa Inu
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Do 15. Mär 2018, 10:56

Es geht im Unbehagen um mehrere Themen, ganz generell auch darum, wie es zu dem Unbehagen in der Kultur kommt. Dieses Unbehagen hat eine Wurzel, die sich dann schnell verzweigt, je nach Lesart sind auch mehrere Wurzelstränge denkbar.

Kurz und gut ist die Kultur immer eine Gemeinschaft zum Schutz gegen die Natur, die uns eigentlich nur Scherereien macht. Weil dies so ist, wundert sich Freud über viele gesellschaftliche Strömungen, die die Natur geradezu verherrlichen, während von der Kultur niemand so recht begeistert ist und er forscht, warum dies so ist. Seine Antwort:

Der Preis der Kultur ist der Triebverzicht, bzw. der Triebaufschub, in eine moderne Form gebracht die Impulskontrolle. Also ein Set von Regeln, was von uns verlangt, uns zu benehmen und zu beherrschen. Vornehmlich natürlich die von Freud ausgemachten Grundtriebe der Aggression und der Sexualität.

Da das Ich sich im Grunde nicht beherrschen will, empfindet es dieses Regelset der Gesellschaft als unbehaglich, allerdings bietet die Gesellschaft zum Ausgleich Schutz an. Vor der Natur, aber auch vor Übergriffen durch andere. Dennoch bleibt eine konstante Spannung zwischen Ich und Gesellschaft bestehen.

Aus der Mixtur der einzelnen Bausteine und dem Grad ihrer Hemmung ergeben sich nun aber abgrenzbare Gesellschaften, z.B. individualistische, wie die europäoiden und eher kollektivistische. Wir finden einen unterschiedlichen Umgang mit den Komponenten Aggression und Sexualität, Religion, Mono- oder Polygamie usw.

Die Lösung ist die Sublimation, was im Grunde bedeutet, die Triebe aufzuschieben, nicht zu beseitigen und die Spannung auszuhalten. Das macht ein reifes Ich aus, dass es Ambivalenzen ertragen kann, also den inneren Konflikt, dass der Mensch, den man liebt, gleichzeitig auch der ist, der einen am meisten auf die Palme bringen und am tiefsten verletzen kann. Klingt theoretisch einfach, ist aber schwer zu ertragen. Ein Versagen dieser Ambivalenzfähigkeit ist ein Abrutschen in die alternierenden Pole der Idealisierung und Entwertung.

Etwas an sich analoges beschreibt Huntington für die Kulturen. Meistens sind Kulturen, Huntington zufolge, recht homogen, auch wenn sie sich alle mit der Zeit verändern, einige aber sind seiner Meinung nach zerrissen. Die Türkei, weil sie einerseits in die EU wollte/will und auf dem Weg in die Säkularisierung war, andererseits gibt es islamische Wurzeln. Erdogan stärkt nun wieder diese Wurzeln, macht das insofern richtig, auch wenn es uns nicht gefällt und auch nicht jenen Teilen der türkischen Gesellschaft die offener leben wollten.

Eine ähnliche Situation finden wir in Russland, wo Putin, nach der Demütigung als Regionalmacht bezeichnet zu werden nun für viele das Land zu alter „Stärke“ zurückgeführt hat, auch das braucht nicht ausgeführt zu werden. Nur kann ein Staat nicht auf die Couch gelegt werden und eine der Thesen, wie es dennoch gelingen kann, Ambivalenzen kollektiv zu tolerieren, ist, wenn eine kritische Masse kulturell Kreativer, diesen Schritt macht. Ein breiter Rest der Gesellschaft ist es gewohnt sich anzupassen und diese Bewegung mitzumachen.

Nur erleben wir gerade im fortschrittlichen Europa, die viele verstörende Tendenz, dass regressive Gruppen, die ein Einheit des Volkes beschwören an Kraft gewinnen, also eine merkwürdig kollektivistische Sehnsucht, vielleicht aber auch eine Reaktion auf einen Pluralismus, den immer mehr auch an sich differenzierte Menschen nicht mehr als gesund empfinden.

Das Regelset ist zwar noch einmal unterschiedlich innerhalb einer Gesellschaft – was man noch näher betrachten kann – aber entscheidend ist hier wie der gemeinsame, immer etwas ideale Mythos des Landes gelesen wird. So gelten Deutsche als fleißig, pünktlich, gründlich, Bier trinkend und weltoffen.

Ich glaube, dass es in Europa zwei Trends gibt. Nachdem Europa als gemeinsames Ideal im Grunde bröckelt, weil niemand so recht etwas damit anfangen kann, gibt es die eine Richtung, die versucht eine europäische Identität stärker zu beschwören, während es andere gibt, die eher die nationale Einheit betont. Jullien will ja, soweit ich das verstehe, sagen, dass nicht die kulturelle Einheit das entscheidende Moment ist, sondern die Spannung zwischen diesen Einheiten, der Übergang, der Prozess der wechselseitigen Integration, aber auch die Möglichkeit sich Versatzstücke aus entfernten Kulturen herauszugreifen und Buddhist zu werden.

Der Kern des Problems der Spannungen, die wir um das Thema Migration und der Umgang damit derzeit haben, liegt glaube ich in zwei konträren Thesen. Die eine besagt, dass, wenn man sich auf eine eigene nationale oder eben kulturelle Identität beruft, automatisch intolerant wird.

Die andere These besagt, dass man Toleranz und ein echtes Interesse an anderen, überhaupt erst auf dem Boden einer gesicherten eigenen Identität stattfinden kann.


Verkompliziert wird das durch zwei neuere Positionen. Erstens, durch eine linken Pluralismus, der die Unterschiede feiert, aber sich selbst und die eigenen Werte vergisst.
Was will man auch diskutieren, wenn man selbst nichts einzubringen hat und einfach nur alles gut, super, bereichernd findet und toleriert? Das Problem ist, dass wenn man alles bei sich toleriert, man irgendwann in der Situation ist, dass die Positionen, die man zu tolerieren bereit ist, einander nicht ausstehen können. Der Lösungsvorschlag der linken Pluralisten ist, allen anderen vorzuschlagen, die anderen doch auch zu tolerieren, wie man das selbst macht, an der Stelle wird man aber hegemonial und stülpt anderen über, was diese auch bei besten Willen nicht verstehen können, freilich ohne den Weg dahin zu weisen und zur Behauptung der Überlegenheit der eigenen Position zu stehen. Das hatte ich bereits näher ausgeführt.

Zweitens, wird das durch eine neue Rechte verkompliziert, die sich nicht mehr in stumpfer Manier mit den alten Nazis identifiziert, sondern modern, bestens vernetzt, in Teilen gebildet und onlineaffin ist, die im Grunde auch etwas befürworten, was wie ein Pluralismus aussieht und diesen deshalb erfolgreich kopieren kann, weil die meisten, die sich Pluralismus auf die Fahnen schreiben eigentlich auch keine Pluralisten sind, sondern eine pluralistische Pose einnehmen. Die neue Rechte sagt: Menschen anderer Kulturen sind voll super, sollen nur bitte bleiben, wo sie sind, denn wir passen nicht zusammen. Die lassen sich nicht mehr festnageln auf grölende Glatzen, die die Überlegenheit der weißen Rassen besingen. Sie sind smart, für bio Lebensmittel, gegen Globalisierung ...

Weiter verkompliziert und um die Anschluss an den Beginn wieder zu finden, wir das von einer Linken und einer oberflächlichen postmodernen Einstellung, die der Meinung ist, der Mensch sei an sich überhaupt nicht aggressiv, sondern erst die Kultur habe ihn dazu gemacht.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Alethos
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Do 15. Mär 2018, 13:07

Ich sehe in der Zusammenfassung gewisse Verbindungen zum Thema, insbesondere beim Themenkomplex der Kulturkonstituenten oder bei der Analyse des Verhältnisses von Individuum und 'seiner' Kultur. Ich sehe aber nicht, dass uns Freuds Ansatz hier etwas über die interkulturellen Spannungen aufzeigen könnte. Vielleicht könnt ihr das mit einem oder zwei Sätzen auf den Punkt bringen, wie sich die Idee der Kultur als Regelwerk, das das Individuum einerseits limitiert, andererseits schützt, auf die Problematik der Konfliktlinien zwischen den Kulturen anwenden lässt? Freud scheint mir auf intrakulturelle Phänomene an der Trennlinie zwischen Kultur und Natur zu verweisen und nicht interkulturelle Phänomene zu meinen, die zum Gegenstand die Näheverhältnisse unterschiedlicher Kulturen haben. Vielleicht irre ich mich.



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Jörn Budesheim
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Do 15. Mär 2018, 13:12

Alethos hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 13:07
Freud scheint [...] nicht interkulturelle Phänomene zu meinen
Ja, das würde mich auch interessieren.




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