François Jullien: "Es gibt keine kulturelle Identität"

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Friederike
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Sa 24. Feb 2018, 11:14

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 08:30
Natürlich sind die Erkenntnisse von Volkan ein Einwand. Jullien möchte sagen, dass es kulturelle Identität eigentlich nicht gibt, weil wir, wenn wir wollen, auch mit Stäbchen essen und Djembé spielen können. These: Alles steht für jeden potentiell zur Verfügung, daher ist der Begriff kulturelle Identität brüchig und irgendwie obsolet.
Die Antwort von mir, auf die Du Dich beziehst, hatte ich noch unter einer Annahme geschrieben, die ich inzwischen selber bereits, gestern, korrigiert hatte. Aus diesem Grunde kann ich Dir jetzt zustimmen.

Das Blöde ist, daß wir alle, außer Jörn, das Buch von Jullien nicht gelesen haben. Wir sprechen auf der wackeligen Grundlage der kurzen Rezensionen, den Podcast habe ich immer noch nicht gesehen. Es ist also ein Gespräch über "etwas", das außer einer Person, keiner kennt. 8-)




Tosa Inu
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Sa 24. Feb 2018, 11:48

Friederike hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 11:14
Wir sprechen auf der wackeligen Grundlage der kurzen Rezensionen, den Podcast habe ich immer noch nicht gesehen.
Man kann sich ja unabhängig davon ein Bild über die kulturelle Identität machen.

Ich híelte es kurz gesagt, für ein Fiasko würde man auf die kulturelle Identität nun auch noch verzichten.

Es wundert mich, wie relativ offensichtliche Zusammenhänge nicht erkannt werden. Das Hauptkriterium schwerer Persönlichkeitsstörungen ist die sog. Identitätsdiffusion. Kurz, man weiß nicht so recht, wer man ist, was man will, wofür man steht. Hat kein kohärentes Bild von sich und/oder wichtigen Bezugspersoenen. Die vermutlich drastische Zunahme narzisstischer PST (Datenlage kontrovers, Tendenz: tatsächliche Zunahme) ist eine (aber nicht die einzige) Folge der Identitätsdiffussion. Viel von dem was unter Burnout/Depression läuft (gestern neue Zahlen der Barmer, Tendenz 76% mehr diagnostizierte Depris bei Studenten) ist eine Folge unserer Selbstoptmierungsideen und der daraus resultierenden Überforderung. Auf das ist eher narzisstisch, Depressionen gehören zu den Sekundärsymptomen der narz. PST.

Dass die Forderungen von Seiten Arbeitswelt (meinetwegen des Kapitalismus/Neoliberalismus) da sind, kann man verstehen, die Frage ist doch, wieso man den Unsinn (Selbstpotimierung) mitmacht. Antwort aus der noch immer gleichen Argumentationslinie: Durch den Wegfall des Odipuskomplexes, der vor den Einflüsterungen anderer dadurch schützt, das der Vater das letzte Wort hat(te). Jetzt halt irgendwer. Die Arbeit den Ödipuskomplex zu überwinden besteht darin, den Vater in sich zu töten und irgendwann seinen eigenen Weg zu gehen.

Solange schützt der väterliche Einfluss vor den Chor aus verschiedensten Stimmen, ein weiteres, aber schwächeres Bollwerk ist das Wissen fest in einer bestimmten Kultur verwurzelt zu sein, was man, gerade wenn das gelungen ist, gar nicht ständig und besonders betonen muss, sondern einfach ein solides Grundgefühl ist. Verzichtet man auch darauf noch, kann das gemäß dieser Argumentation nicht gut sein, womit ich wieder beim zweiten Satz bin.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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Sa 24. Feb 2018, 18:33

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 11:48
Man kann sich ja unabhängig davon ein Bild über die kulturelle Identität machen. Ich híelte es kurz gesagt, für ein Fiasko würde man auf die kulturelle Identität nun auch noch verzichten. [...] Dass die Forderungen von Seiten Arbeitswelt (meinetwegen des Kapitalismus/Neoliberalismus) da sind, kann man verstehen, die Frage ist doch, wieso man den Unsinn (Selbstpotimierung) mitmacht. Antwort aus der noch immer gleichen Argumentationslinie: Durch den Wegfall des Odipuskomplexes, der vor den Einflüsterungen anderer dadurch schützt, das der Vater das letzte Wort hat(te). Jetzt halt irgendwer. Die Arbeit den Ödipuskomplex zu überwinden besteht darin, den Vater in sich zu töten und irgendwann seinen eigenen Weg zu gehen.

Solange schützt der väterliche Einfluss vor den Chor aus verschiedensten Stimmen, ein weiteres, aber schwächeres Bollwerk ist das Wissen fest in einer bestimmten Kultur verwurzelt zu sein, was man, gerade wenn das gelungen ist, gar nicht ständig und besonders betonen muss, sondern einfach ein solides Grundgefühl ist. Verzichtet man auch darauf noch, kann das gemäß dieser Argumentation nicht gut sein, womit ich wieder beim zweiten Satz bin.
Wieso fällt der Ödipuskomplex weg? Abgesehen davon, daß ich nicht verstehe, warum Du das meinst - der Begriff gehört doch einem psychologischen Erklärungsmodell an und ist insofern kein Sachverhalt, von dem man sagen kann, er bestehe oder er bestehe nicht?




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novon
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Sa 24. Feb 2018, 22:12

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 06:23
novon hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 00:56
Kultur [meint,] dass natürliche Bedingtheiten überwunden sind
Spontan fallen mir drei Versionen des Begriffs "Kultur" ein, es gibt sicher mehr. Wobei ich denke, dass die verschiedenen Gebrauchsweisen sich ziemlich überschneiden.

Bei dem Begriff (1) kulturelle Evolution ist Kultur sicherlich so (oder so ähnlich) gemeint, wie du es vorschlägst. Wenn man jedoch davon spricht, dass eine Person (2) Kultur hat, dann geht man sicherlich auf etwas anderes aus. Im ersten Fall ist der Begriff neutral gebraucht, er besagt hier im Grunde lediglich, dass der Mechanismus der Vererbung durch genetische Reproduktion seine Alleinherrschaft verloren hat und durch Lernen, Tradition etc. ergänzt/ersetzt wird. Im zweiten Fall ist der Begriff wertend gemeint, er unterstellt der fraglichen Person irgendwie hochstehende Umgangsformen, ein besonderes Wissen etc. pp. Wenn man jedoch von verschiedenen (3) Kulturkreisen oder ähnlichem spricht, dann ist wiederum etwas anderes gemeint, denke ich. Dann geht es eher darum, dass verschiedene Gemeinschaften verschiedene Kulturtechniken, Traditionen, Selbstverständnisse, Ressourcen oder eben verschiedene Identitäten haben.
Na ja... Mein knapper Definitionsversuch oben versucht aufs Allgemeine an Kultur zu kommen und wollte beanspruchen, dass er in Bezug auf sämtliche möglichen Begrifflichkeiten diesbezüglich zutreffend angewendet werden könnte. "Person" z. B. wäre bereits als kulturell determiniert zu begreifen, sofern "Person" bereits auf eine Rolle im kulturellen Kontext verweist, die Aussage also, dass eine Person Kultur habe bereits selbstbezüglich auf das verweist, woraus "Person" (kulturell determiniert) eigentlich erst hervorgehen kann. Ohne Kultur (in obigem Sinne) keine "Person".
Ich - bare metal bottom up, wie ich eben gestrickt bin ;) -, gehe immer vom Individuum aus, was hier eben bedeutet, dass Individuum eben durch Kultur geprägt ist, daheraus aber das Individuelle nicht kulturell wird, Identität also zwar kulturell geprägt ist, aber niemals derart im Kulturellen aufgeht, dass von kultureller Identität als Gegenstand die Rede sein könnte. Wäre es so, dass Identität ineins mit Identifikation mit dem eingeborenen Kulturkreis ginge, müsste entweder Kultur als statisch gedacht werden, kulturelle Entwicklung als unmöglich, oder wir hätten quasi soviele Kulturen auf der Erde, wie es Individuen gibt.
Kultur konstituiert sich imo aus Individuen, individuellem agieren, deren Individualität nicht kulturell determiniert ist, sondern eben individuell.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 08:29
novon hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 00:56
Eine wiederum darauf rekurrierende Behauptung kultureller Identität ist eigentlich vollkommen nichtssagend und somit belanglos.
Ich finde das nicht. Dennett meint, man solle sich das "Ich" als "narrativen Schwerpunkt" vorstellen. Wer oder was jeder einzelne ist, das hängt immer auch an den Bildern und Geschichten, die er von sich hat und erzählt. Aber auch das "Wir" kann man sich als "narrativen Schwerpunkt" vorstellen. Das kann das kleine "Wir" einer Freundschaft sein, das "Wir" einer Liebe bis hin zum "Wir" größerer Gruppen.
Du verstehst dich als Narrativ?!?
Ich verstehe mich als Manifestation meiner persönlichen Historie. Ein etwaiges "Wir" konstituiert sich - bottom up - aus gemeinsamen Zielen oder Interessen etc.




Tosa Inu
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So 25. Feb 2018, 09:57

Friederike hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 18:33
Wieso fällt der Ödipuskomplex weg?
Weil die soziokultuelle Rolle der Männer und Väter sich stark verändert hat.
Friederike hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 18:33
Abgesehen davon, daß ich nicht verstehe, warum Du das meinst - der Begriff gehört doch einem psychologischen Erklärungsmodell an und ist insofern kein Sachverhalt, von dem man sagen kann, er bestehe oder er bestehe nicht?
Jede Behauptung hat als Hintergrund einen theoretischen Kontext. Es geht auch selten darum, ob etwas tatsächlich so ist, oder nicht, sondern, ob etwas in einen bestimmten Kontext, von einer bestimmten Theorie her erklärt werden kann.

Diese Veränderung der Rollen geht natürlich mit einer Veränderung der kulturellen Identität einher. Die Grundthese ist: Wenn wir immer weinger haben, am dem wir uns orientieren können, ist das kein Fortschritt, sondern ein Nachteil.

Dass man mit diese Rollenvorgaben im gelungenen Fall nachher spielen und sie nach eigenem Gutdünken variieren kann, ist richtig, aber das ist das Resultat eines in Stufen ablaufenden Prozesses, was nicht funktioniert, ist vermeindlich störende Elemente von vorn herein auszuschließen. Dieses soziokulturelle Großexperiment erleben wir ja seit Jahrzehnten, wobei die eine Seite immer schon die Gefahren betonte und die andere die Fortschritte feierte.

Seit man meint uns vorrechnen zu müssen, dass es uns viel besser geht, als wir uns fühlen, ist wohl in breiteren Schichten angekommen, dass irgendwo der Wurm drin ist.



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Friederike
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So 25. Feb 2018, 12:26

Zu Deinem "Fiasko"-Szenario, @T.I., lese ich gerade diesen Satz aus der Rezension im "Spiegel":
Spigel hat geschrieben : Jullien sieht durchaus die Gefahr einer Homogenisierung und Verflachung von Kulturen. Diese Gefahr aber gehe nicht von einem Kampf zwischen verschiedenen Lebens- und Denkweisen aus, sondern von der homogenisierenden Kraft eines globalisierten Marktes.
Dies widerspräche nicht nur der Annahme, Jullien ginge es um eine Einebnung von Unterschieden, sondern auch der Annahme, der Grund für Identitätsschwächen oder Identitätsdiffusionen läge in der Abkehr von klaren und starken Identifizierungskonzepten. Die Wurzel des "Übels" wäre Julliens Auffassung nach die globalisierte ökonomische Entwicklung. Ich schreibe im Konditional, weil ich die Richtigkeit des Referierten nicht beurteilen kann.




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Jörn Budesheim
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So 25. Feb 2018, 12:38

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 11:48
Ich híelte es kurz gesagt, für ein Fiasko würde man auf die kulturelle Identität nun auch noch verzichten.
Ich melde mich aus dem Thread ab. Es übersteigt im Moment meine Kräfte.




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So 25. Feb 2018, 13:21

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Feb 2018, 12:38
Ich melde mich aus dem Thread ab. Es übersteigt im Moment meine Kräfte.
Das finde ich natürlich sehr bedauerlich, weil Du als einziger, der die Quelle kennt, Julliens Thesen und Gedankengänge noch ein wenig hättest entfalten können.




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So 25. Feb 2018, 14:26

Friederike hat geschrieben :
So 25. Feb 2018, 12:26
Dies widerspräche nicht nur der Annahme, Jullien ginge es um eine Einebnung von Unterschieden, sondern auch der Annahme, der Grund für Identitätsschwächen oder Identitätsdiffusionen läge in der Abkehr von klaren und starken Identifizierungskonzepten. Die Wurzel des "Übels" wäre Julliens Auffassung nach die globalisierte ökonomische Entwicklung.
Diese Sicht ist typisch für die politische Linke. Der Neoliberalismus ist das ideale Feindbild, der ja zu einem Teil auch ein Verursacher und/oder Verstärker ist, dennoch bleibt die Frage, warum er denn auf einmal so dominant werden konnte und alle Gewehr bei Fuß stehen, um mitzumachen. Da kommt ja dann der Zusammenbrch des psychischen ödipalen Schutzpanzers ins Spiel, aber dieser Gedanke ist für Linke - obwohl er explizit von ihren Theoretikern stammt! - inzwischen so weit weg, dass sie sich gegen jeden anderen Gedanken immunisieren.

Der Jullien Text erfüllt demnach gleich zwei linke Kriterien: Er stellt die Idee der kulturellen Identität infrage, mit der Linke so ihre Schwierigkeiten haben und er bedient das Lieblingsfeindbild, den Neoliberalismus, der irgendwie an allem schuld ist.

Das wird sich auch nicht mehr ändern, weshalb ich glaube, dass linke Lösungen uns in Zukunft nicht weiter bringen werden. Deren große Zeit waren die Mitt60er bis vielleicht Mitt80er, aber danach, kam leider wenig.



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Friederike
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Mo 26. Feb 2018, 12:30

novon hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 22:12
Du verstehst dich als Narrativ?!? Ich verstehe mich als Manifestation meiner persönlichen Historie. Ein etwaiges "Wir" konstituiert sich - bottom up - aus gemeinsamen Zielen oder Interessen etc.
Hm, ich weiß nicht recht, ob es ein Scherz von Dir ist bzw. ob es eine ironische Antwort auf den Dennett'schen "Narrativ" ist @novon ... falls nicht, dann wende ich Dir ein, daß Dein Selbstverständnis, so wie Du es formulierst, durchaus auch eine Geschichte ist, die Du von Dir oder über Dich erzählst. Es wäre dann der Narrativ, Dich als "Manifestation Deiner persönlichen Historie" zu beschreiben. Was aber ist eigentlich damit gemeint? Als Erscheinung der Historie/des Lebensverlaufes, die der Mensch novon erleidet und erlitt ...? So mein halb interlinearer Übersetzungsversuch, der mir immer noch reichlich dunkel scheint.




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novon
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Di 27. Feb 2018, 22:25

Friederike hat geschrieben :
Mo 26. Feb 2018, 12:30
novon hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 22:12
Du verstehst dich als Narrativ?!? Ich verstehe mich als Manifestation meiner persönlichen Historie. Ein etwaiges "Wir" konstituiert sich - bottom up - aus gemeinsamen Zielen oder Interessen etc.
Hm, ich weiß nicht recht, ob es ein Scherz von Dir ist bzw. ob es eine ironische Antwort auf den Dennett'schen "Narrativ" ist @novon ... falls nicht, dann wende ich Dir ein, daß Dein Selbstverständnis, so wie Du es formulierst, durchaus auch eine Geschichte ist, die Du von Dir oder über Dich erzählst. Es wäre dann der Narrativ, Dich als "Manifestation Deiner persönlichen Historie" zu beschreiben. Was aber ist eigentlich damit gemeint? Als Erscheinung der Historie/des Lebensverlaufes, die der Mensch novon erleidet und erlitt ...? So mein halb interlinearer Übersetzungsversuch, der mir immer noch reichlich dunkel scheint.
Weder Scherz noch ironisch. Ins Abstrakte gerückt würde ich vielleicht sagen wollen, dass die faktische Kontinuität der historischen Manifestation jedes Individuums zwar nicht vollkommen unabhängig von spezifischen Narrativen stattfindet, letztere allerdings lediglich eher unbedeutende Aspekte darstellen. Und konkret an dem Punkt, an dem Narrativ und faktische Historie ineins gesetzt werden, passt es garantiert nicht. Beispiel: Habe ich mir irgendwann in der Vergangenheit mal ein Bein gebrochen, dann stellt dass einen historischen Aspekt individueller Genese dar, ganz unabhängig davon, ob das je Gegenstand irgendeines Narrativ wäre. (Statt Beinbruch ließe sich auch Staub wischen, Austreten oder Naseputzen einsetzen.)
Gibt natürlich Narrative, die aus verschiedenen Gründen qua Reflexion, Restriktion oder auch Protektion mittelbar aufs Faktische durchschlagen. Da gehen Narrativ und faktische Manifestation allerdings trotzdem nicht ineins, da immernoch individuelle Reflexion und Urteilsbildung schwerer wiegen, als jeder Narrativ.
Da ist doch nichts "dunkel" dran. Egal, was du oder andere über dich erzählen, bist du eben trotzdem du und nicht der/die/das, was wer auch immer über dich erzählt...?




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Friederike
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Mi 28. Feb 2018, 13:38

novon hat geschrieben :
Di 27. Feb 2018, 22:25
[...] Ins Abstrakte gerückt würde ich vielleicht sagen wollen, dass die faktische Kontinuität der historischen Manifestation jedes Individuums zwar nicht vollkommen unabhängig von spezifischen Narrativen stattfindet, letztere allerdings lediglich eher unbedeutende Aspekte darstellen. Und konkret an dem Punkt, an dem Narrativ und faktische Historie ineins gesetzt werden, passt es garantiert nicht. Beispiel: Habe ich mir irgendwann in der Vergangenheit mal ein Bein gebrochen, dann stellt dass einen historischen Aspekt individueller Genese dar, ganz unabhängig davon, ob das je Gegenstand irgendeines Narrativ wäre. (Statt Beinbruch ließe sich auch Staub wischen, Austreten oder Naseputzen einsetzen.)
Aha, ich verstehe.
novon hat geschrieben : Gibt natürlich Narrative, die aus verschiedenen Gründen qua Reflexion, Restriktion oder auch Protektion mittelbar aufs Faktische durchschlagen. Da gehen Narrativ und faktische Manifestation allerdings trotzdem nicht ineins, da immernoch individuelle Reflexion und Urteilsbildung schwerer wiegen, als jeder Narrativ.
Hm, ich vermute, daß wir an dieser Stelle voneinander abweichen, weil ich individuelle Reflexion und Urteilsbildung u.a. auch unter dem Narrativen gefaßt hätte. Ich zitiere aus einem Deiner vorhergehenden Beiträge:
novon hat geschrieben : Ohne Kultur (in obigem Sinne) keine "Person". Ich - bare metal bottom up, wie ich eben gestrickt bin ;) -, gehe immer vom Individuum aus, was hier eben bedeutet, dass Individuum eben durch Kultur geprägt ist, daheraus aber das Individuelle nicht kulturell wird, Identität also zwar kulturell geprägt ist, aber niemals derart im Kulturellen aufgeht, dass von kultureller Identität als Gegenstand die Rede sein könnte. Wäre es so, dass Identität ineins mit Identifikation mit dem eingeborenen Kulturkreis ginge, müsste entweder Kultur als statisch gedacht werden, kulturelle Entwicklung als unmöglich, oder wir hätten quasi soviele Kulturen auf der Erde, wie es Individuen gibt. Kultur konstituiert sich imo aus Individuen, individuellem agieren, deren Individualität nicht kulturell determiniert ist, sondern eben individuell.
Das heißt, Du als Individuum bist durch Kultur geprägt. Diese Prägung gehört weder zur Manifestation Deiner persönlichen Historie noch zum Narrativ, sondern zum Reflexiven? Ich frage nur, weil ich verstehen will.




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novon
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Mi 28. Feb 2018, 23:02

Friederike hat geschrieben :
Mi 28. Feb 2018, 13:38
novon hat geschrieben : Gibt natürlich Narrative, die aus verschiedenen Gründen qua Reflexion, Restriktion oder auch Protektion mittelbar aufs Faktische durchschlagen. Da gehen Narrativ und faktische Manifestation allerdings trotzdem nicht ineins, da immernoch individuelle Reflexion und Urteilsbildung schwerer wiegen, als jeder Narrativ.
Hm, ich vermute, daß wir an dieser Stelle voneinander abweichen, weil ich individuelle Reflexion und Urteilsbildung u.a. auch unter dem Narrativen gefaßt hätte.
Kann man wohl machen. Wird aber ziemlich rekursiv und landet im Infiniten, was reflektierender Urteilsbildung wohl eher im Wege stünde...
novon hat geschrieben : Ohne Kultur (in obigem Sinne) keine "Person". Ich - bare metal bottom up, wie ich eben gestrickt bin ;) -, gehe immer vom Individuum aus, was hier eben bedeutet, dass Individuum eben durch Kultur geprägt ist, daheraus aber das Individuelle nicht kulturell wird, Identität also zwar kulturell geprägt ist, aber niemals derart im Kulturellen aufgeht, dass von kultureller Identität als Gegenstand die Rede sein könnte. Wäre es so, dass Identität ineins mit Identifikation mit dem eingeborenen Kulturkreis ginge, müsste entweder Kultur als statisch gedacht werden, kulturelle Entwicklung als unmöglich, oder wir hätten quasi soviele Kulturen auf der Erde, wie es Individuen gibt. Kultur konstituiert sich imo aus Individuen, individuellem agieren, deren Individualität nicht kulturell determiniert ist, sondern eben individuell.
Das heißt, Du als Individuum bist durch Kultur geprägt. Diese Prägung gehört weder zur Manifestation Deiner persönlichen Historie noch zum Narrativ, sondern zum Reflexiven? Ich frage nur, weil ich verstehen will.
[/quote]
Hmm... Ja, kulturelle Prägung hatte ich ja auch im vorigen Post eingeräumt. Mein Punkt wäre, dass Identität (natürlich) individuell und nicht kulturell ist. Die Reflexion auf kulturellen Kontext kann ja auch von vollkommen affirmativ bis vollkommen kontradiktiv zu verschiedenen Bezügen kommen, was bedeuten würde, dass "kulturelle Identität" soviel bezeichnen würde, wie: "Alles zwischen vollständiger Zustimmung und vollständiger Ablehnung des individuellen kulturellen Kontexts", was mir bei etwaiger Inanspruchnahme im Allgemeinen recht vage, und im speziellen zumeist höchst suspekt daherkommt.

Warum sollte ich mich als Narrativ begreifen? Ich bin ich, vollkommen egal, was ich oder andere über mich erzählen.




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Friederike
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Do 1. Mär 2018, 14:30

novon hat geschrieben : Warum sollte ich mich als Narrativ begreifen? Ich bin ich, vollkommen egal, was ich oder andere über mich erzählen.
Ich kriege den Punkt nicht zu fassen, von dem ich meine, daß wir schon in den grundlegenden Voraussetzungen unseres Gesprächs über Identität nicht übereinstimmen. Ich versuche es nochmal anders.
Die Ereignisse Deiner "Genese", wie Du es nanntest (das können sein: Beinbrüche, Elternhaus, Eheschließung, Ausbildung, Beruf, Verlust von Menschen usw. ), allgemeiner ausgedrückt: aktive Handlungen, Entscheidungen sowie passive Handlungen als Reaktion auf Widerfahrnisse - Du machst daraus, im Unterschied zu mir, keine kohärente Geschichte Deiner Person bzw. versuchst es auch gar nicht? Oder fällt dieser Punkt bei Dir unter die Selbstreflexion?

Was ich an dieser Stelle allerdings einräumen muß, daß mir der Faden zur "Identität" abgerissen ist. Ich habe zwar knapp zusammengefaßt, was ich unter einem Narrativ meiner Person verstehe (Selbstinterpretation oder Selbstbeschreibung), aber würde ich davon sagen, es sei meine Identität? Eher nicht. Natürlich fließen in die Erzählung von mir Werte, Haltungen, charakterliche Eigenschaften o.ä. mit ein, aber die zusammen-schauende Beschreibung meines Lebens verstehe ich nicht als meine Identität.

Bin gerade etwas ratlos wegen dieses, mich überraschenden Ergebnisses.




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Jörn Budesheim
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Was versteht ihr eigentlich unter "Narrativ"? Für mich ist ein "Narrativ" eine Art allgemeines, überindividuelles Erzählmuster, das zu einer bestimmten Gruppe, Kultur etc. gehört und sinn- und zusammenhalt- stiftend wirken kann.

Zuvor habe ich erwähnt, dass Dennett meint, man solle sich das "Ich" als "narrativen Schwerpunkt" vorstellen. Hier bedeutet der Begriff "narrativ" etwas anderes, meines Erachtens. Das Ich ist der Erzählschwerpunkt der Geschichten, die es von sich selbst zu erzählen weiß, in diesen Geschichten geht es im wesentlichen um dieses Ich und diese Geschichten sind für diese Ich mitbestimmend. Dabei handelt es sich jedoch nicht zwingend und allein um überindividuelle Narrative, auch wenn diese natürlich eine große Rolle spielen dürften.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 1. Mär 2018, 14:48
as versteht ihr eigentlich unter "Narrativ"? Für mich ist ein "Narrativ" eine Art allgemeines, überindividuelles Erzählmuster, das zu einer bestimmten Gruppe, Kultur etc. gehört und sinn- und zusammenhalt- stiftend wirken kann.
Zuvor habe ich erwähnt, dass Dennett meint, man solle sich das "Ich" als "narrativen Schwerpunkt" vorstellen. Hier bedeutet der Begriff "narrativ" etwas anderes, meines Erachtens. Das Ich ist der Erzählschwerpunkt der Geschichten, die es von sich selbst zu erzählen weiß, in diesen Geschichten geht es im wesentlichen um dieses Ich und diese Geschichten sind für diese Ich mitbestimmend. Dabei handelt es sich jedoch nicht zwingend und allein um überindividuelle Narrative, auch wenn diese natürlich eine große Rolle spielen dürften.
Zuerst einmal "ja" und zwar zu beiden Punkten. Worüber ich allerdings stolpere, das ist Dennetts Formulierung bzw. die Formulierung in der Übersetzung, der narrative "Schwerpunkt" , der das "Ich" sei. Darüber hatte ich vor einigen Tagen, als Du Dennett zitiert hattest, hinweggelesen.

Ich denke, die Geschichte, die ich als "Ich"-Erzählerin erzähle, das ist das Narrativ. Wenn das "Ich" aber der Schwerpunkt ist, dann hört sich das für mich so an, als gäbe es noch andere Erzähler außer mir. Ich meine damit nicht, daß andere Menschen andere Geschichten über mich erzählen können und auch nicht, daß das "Ich", wie Du auch geschrieben hast, aus dem kollektiven Geschichten schöpft und einen Teil dieser überindividuellen Geschichten in die eigene mit hineinnimmt. Ich meine damit, daß es sich so anhört, als gäbe es die Person mit Namen "Friederike", die "Ich" ist und neben "Ich" aber auch noch andere "Teile" der einen Person mit Namen "F".




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Jörn Budesheim
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Friederike hat geschrieben :
Do 1. Mär 2018, 15:25
Ich denke, die Geschichte, die ich als "Ich"-Erzählerin erzähle, das ist das Narrativ.
So verstehe ich den Begriff des "Narrativ" eben nicht :-) Ein Narrativ ist etwas Überindividuelles. Die gibt es sicher im Großformat: "Vom Tellerwäscher zum Millionär", "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ... und auch kleineren Formaten "Mir san mir!" Die privaten, individuellen Geschichten meiner Biografie sind nach meinem Verständnis keine Narrative dieser Art. Obwohl solche "großen Erzählungen" und auch die kleineren auch zu dem gehören können, was ich bin und/oder zu sein glaube. Es dürfte auch sehr "kleine" Narrative geben, die vielleicht ein Paar oder eine Familie "zusammenhalten."




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Jörn Budesheim hat geschrieben : So verstehe ich den Begriff des "Narrativ" eben nicht :-) Ein Narrativ ist etwas Überindividuelles.
Herje, ja. :lol: Jetzt frage ich vorsichtshalber nach, ob ich nicht wieder nicht gründlich genug gelesen habe: Du teilst Dennetts "Narrativ"-Definition also nicht, soweit sie sich bei ihm auf die einzelne Person bezieht? Mit dem "wir" als narrativem Schwerpunkt hingegen bist Du mit Dennett d'accord?




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Bei Dennett taucht der Begriff ja gar nicht auf :-)




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 24. Feb 2018, 08:29
Ich finde das nicht. Dennett meint, man solle sich das "Ich" als "narrativen Schwerpunkt" vorstellen. Wer oder was jeder einzelne ist, das hängt immer auch an den Bildern und Geschichten, die er von sich hat und erzählt. Aber auch das "Wir" kann man sich als "narrativen Schwerpunkt" vorstellen. Das kann das kleine "Wir" einer Freundschaft sein, das "Wir" einer Liebe bis hin zum "Wir" größerer Gruppen.
Das "wir" als narrativer Schwerpunkt. Hm, das habe ich als eine lediglich andere Umschreibung dessen verstanden, was Du "überindividuell" nennst.
Jörn hat geschrieben : Ein Narrativ ist etwas Überindividuelles. Die gibt es sicher im Großformat: "Vom Tellerwäscher zum Millionär", "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ... und auch kleineren Formaten "Mir san mir!" Die privaten, individuellen Geschichten meiner Biografie sind nach meinem Verständnis keine Narrative dieser Art. Obwohl solche "großen Erzählungen" und auch die kleineren auch zu dem gehören können, was ich bin und/oder zu sein glaube. Es dürfte auch sehr "kleine" Narrative geben, die vielleicht ein Paar oder eine Familie "zusammenhalten."
Neuer Versuch. Mach mich nicht zur Sau :lol: - Du unterscheidest zwischen den Geschichten=das ist der Narrativ und den Personen, die sie erzählen?




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