François Jullien: "Es gibt keine kulturelle Identität"

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Jörn Budesheim
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Do 1. Mär 2018, 18:45

Ich bin doch einfach gestrickt, also meine ich es auch ganz einfach :-)

Unter "X ist ein Narrativ" (großes N) verstehe ich, dass X ein Erzählmuster der oben skizzierten Art ist.
Unter "X ist narrativ" (kleines n) verstehe ich, dass X erzählerisch ist.




Tosa Inu
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Fr 2. Mär 2018, 07:58

Ich finde das passt doch alles ganz gut zusammen, nur vielleicht nicht unbedingt zur These Julliens.

Von Dennett, Taylor und auch von Kernberg, wird das Ich als Narrativ betrachtet, also als zusammenhängende biographische Geschichte. novon hat insofern Recht, als Ich ein ganz wesentlicher Interpret meiner Lebensgeschichte bin, mit einer prima facie Berechtigung zur Deutung meiner Geschichte.
Allerdings hat auch die Gesellschaft ein Recht mich zu bewerten und tut das auch, darüber hat sich Brandom philosopisch ausgelassen, das normative Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen. Verweigert man sich dem, sinkt der deontische/soziale Kontostand. Auf das Verältnis von Ich und Kultur gehe ich gleich noch ein.

Zuerst der zweite Baustein, das Wir oder Kultur als Narrativ. Erzählungen, also Narrative und Brauchtümer, die innerhalb einer Gesellschaft weitergereicht werden, wie Kernberg sagte: "Vamik Volkan (1999) hat dargelegt, wie nationale Identität schon früh in die individuelle Ich-Identität durch Sprache, Kunst, Sitten und Gebräuche, Speisen und vor allem transgenerationale Weitergabe von Narrativen historischer Triumphe und Traumata als Teil eines gemeinsamen Kulturguts eingewoben wird." (Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 330)

Nun hat novon gesagt, es könne einem nicht nur egal sein, wie andere mich sehen (ich bleib doch immer ich), sondern auch, wie ich mich zur Kultur eines Landes verhalte, kann beträchlich variieren, von völliger Zustimmung bis zu völliger Ablehnung und allem dazwischen. Stimmt alles, würde ich sagen, man muss es nur ordnen.

1. Zunächst das Verhältnis vom individuellen Ich zum kulturellen Wir. Der Grad der Indentifikation folgt ungefähr der Form eines ungekehrten U. Soll heißen, es gibt immer ein paar Menschen, die zu irgendeiner Art von Zugehörigkeit nicht in der Lage sind, aus der Unfähigkeit sich irgendeinem Wertesystem zu verpflichten. das von ihnen immer als persönlicher Affront, Beschneidung eigener Rechte oder einfach "Wieso sollten mich andere interessieren?" oder"Keiner hat mir was vorzuschreiben" interpretiert wird.
2. Die größte Gruppe ist der aus diesem Grund auch so genannte Mainstream (Hauptstrom), bei dem die die Vorstellung eines idealen Lebens weitgehend mit den gesellschaftlichen Vorstellungen und Klischees einhergeht. Auch der Mainstream bietet immer noch eine gewisse Spannbreite an Möglichkeiten an und wo man diesen Idealen nahekommt verläuft das Leben im besten Sinne reibungslos, was die Reibung zwischen ich und Wir, eigenem und kulturellem Narrativ angeht.
3. Die nächste Gruppe reflektiert mitunter die Ziele und Ideale des Manstream und ist in einigen Punkten nicht der Auffassung, dass die Ziele und Ansätze alle wunderbar sind. Man setzt sich kritisch mit ihnen auseinander, vergisst aber auch nicht, dass man soziale Verantwortung hat und diese ist nicht nur ein braver Aspekt der Pfichterfüllung, sondern ein vitales Bedürfnis. Auch hier kann es zu heftigen Abgrenzungen kommen, aber nie so total und egozentrisch, wie unter 1.

Nun ist es aber nicht so, dass in der Kultur nur ein Hauptnarrativ gibt, sondern es gibt verschiedene, durchaus auch mächtige Strömungen. Ohne das jetzt inhaltlich groß auszuführen, ergibt sich aus dem eben ausgeführten, dass es in einer Kultur verschiedene Narrative gibt, die sich durchaus auf Hauptnarrative beziehen können. So ergeben sich parallel zu den Hauptnarrativen immer auch Nebeninterpretationen, die aber nicht alle nur privat sind, sondern durchaus auch eine kulturelle Kraft und einen Schwerpunkt entwickeln, von denen sich Individuen, die mit den Narrativen des Mainstream nicht viel anfangen können, angezogen fühlen können.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist immens und absolute Einzelkämfer sind die allerwenigsten, der erste Wunsch ist immer, sich einer Gruppe von Außenseitern oder Kritikern anzuschließen, deren Weltinterpretation man viel weitergehend teilt, als die Erzählungen des Mainstream.

Und wenn es in bestimmten Kreisen chic ist, alles was anders ist erstmal vorbehaltlos gut zu finden, schamanische Reisen, Quinoa-Taler und mit Stäbchen zu essen, so ist das eher als Marotte einer bestimmten kulturellen Spezies zu erkennen, denn als kulturelle Entwurzelung.

All das müsste und könnte man noch im Detail diskutieren, aber die Richtung erscheint mir recht stimmig.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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Fr 2. Mär 2018, 10:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 1. Mär 2018, 18:45
Ich bin doch einfach gestrickt, also meine ich es auch ganz einfach :-) Unter "X ist ein Narrativ" (großes N) verstehe ich, dass X ein Erzählmuster der oben skizzierten Art ist. Unter "X ist narrativ" (kleines n) verstehe ich, dass X erzählerisch ist.
Ja, Du hattest gefragt, was wir denn unter einem "Narrativ" verstünden und daran anschließend hattest Du Dein Verständnis von einem "Narrativ" ausgeführt. Nicht mehr und nicht weniger. Danke!




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Jörn Budesheim
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Fr 2. Mär 2018, 10:52

Friederike hat geschrieben :
Fr 2. Mär 2018, 10:22
Ja, Du hattest gefragt, was wir denn unter einem "Narrativ" verstünden und daran anschließend hattest Du Dein Verständnis von einem "Narrativ" ausgeführt.
Richtig :-) Ich hab nach dem gefragt, was ihr unter einem "Narrativ" versteht. Dabei hat sich gezeigt, dass einige zwischen "Narrativ" und "narrativ" unterscheiden und einige nicht. Das scheint mir eine durchaus sinnvolle Klärung zu sein. Oder?




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Friederike
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Fr 2. Mär 2018, 17:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 2. Mär 2018, 10:52
Richtig :-) Ich hab nach dem gefragt, was ihr unter einem "Narrativ" versteht. Dabei hat sich gezeigt, dass einige zwischen "Narrativ" und "narrativ" unterscheiden und einige nicht. Das scheint mir eine durchaus sinnvolle Klärung zu sein. Oder?
Ein Fragezeichen erfordert eine Antwort. Also: Ja! :lol:




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Friederike
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Sa 3. Mär 2018, 19:01

Könnt Ihr einen Haupt-Narrativ (wie T.I. es nannte) für den abendländischen oder europäischen Kulturkreis aus dem Ärmel schütteln? Wobei mir auffällt, während ich frage, daß man mit der Angabe eines Kulturkreises doch bereits eine Vorgabe in die Frage hineingibt, die doch erst durch die Antwort auf die Frage erarbeitet werden soll oder nicht?




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Sa 3. Mär 2018, 20:48

Friederike hat geschrieben :
Sa 3. Mär 2018, 19:01
Wobei mir auffällt, während ich frage, daß man mit der Angabe eines Kulturkreises doch bereits eine Vorgabe in die Frage hineingibt, die doch erst durch die Antwort auf die Frage erarbeitet werden soll oder nicht?
Nö, es würde mich sehr wundern, wenn hier jemand typische Narrative aus dem Sudan oder Ecuador anführen würde.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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So 4. Mär 2018, 08:19

Friederike hat geschrieben :
Sa 3. Mär 2018, 19:01
Könnt Ihr einen Haupt-Narrativ (wie T.I. es nannte) für den abendländischen oder europäischen Kulturkreis aus dem Ärmel schütteln?
Gar nicht so leicht, ne?
Jörn hat ja vorgelegt:
""Vom Tellerwäscher zum Millionär", "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ... und auch kleineren Formaten "Mir san mir!"
Ersteres soll ja ein amerikanisches Narrativ sein oder ist die europäische Variante eines solchen. Vor noch nicht allzu lager Zeit galt Amerika ja als "schöne, neue Welt" und "Land der unbegrenzten Möglichkeiten", eine schöne und oft genutzte Projektionsfläche.
"Freiheit, Gleicheit, Brüderlichkeit" ist da schon genuin europäischer, wenngleich ich nicht sicher bin, ob eine Mehrheit der Europäer oder der Deutschen das Narrativ zuordnen kann. Unter Intellektuellen aber sicher eine Bank, Götz Aly hat sich immer wieder daran abgearbeitet und das deutsche "Einigkeit und Recht und Freiheit" kontrastierend erwähnt.
Heine hat's im Wintermärchen knapp verdichtet:
Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengerade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.
Und meinte die Preußen und wie Aly den deutschen Untertanengeist.

Narrative unserer Kultur sind vielleicht weitere flotte Sinnsprüche: "Kleider machen Leute" "Haste was, biste was" "Geld regiert die Welt" Auch tradierte Werbesprüche: "Quadratisch. Praktisch. Gut."
Die Strophe davor lautet bei Heine:
Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.
Das sind sicher auch Narrative, die stillen Überzeugungen, wie man als Volk ist. Pünktlich, gründlich, fleißig. Die "German Angst" ist übrigens eine Erfindung der Briten, wird aber gerne übernommen. Bier trinken und Tatort gucken gehört auch dazu.

Wie die Deutschen so sind, weiß man nicht so ganz genau. Heimwerkerkeller sollen sehr deutsch sein. Ein ziemlich verklemmtes Verhältnis zur eigenen Nation zu haben, ist eine deutsche Eigenart, wenn die Begriffe deutsch und stolz in einem Satz vorkommen steigt sofort der Blutdruck.

Deutsch ist allerdings auch, dass das längst ein Märchen ist und die endlosen Wiederholungen dessen, was nie wieder vorkommen darf, gerne übrigens in öffentlich-rechtlichen Derivaten, natürlich rein zur Aufklärung, haben irgendwann eigenartige Spuren hinterlassen.

Deutsch sind Syntheseleistungen, Christentum und Atheismus wuchsen bei uns zusammen, ebenso wie katholisch und evangelisch. Deutsch ist Mülltrennung und ein legendäres Steuerrecht. Deutsch ist vermutich auch eine leises Augenzwinkern, mit dem man zum Ausdruck brachte, dass man diese sonderbaren Bräuche oft selbst nicht versteht (bestimmte Verordnungen in Amtsdeutsch werden unverändert in anderen Ländern als Kabarettprogramm vorgetragen), sie aber gut funktionieren. Aber inzwischen ist der Wurm drin und es macht sich ein diffuses Unbehagen im Land breit. Jeder hat zwar was anderes, was er aus der Ecke kramt oder sehr bedeutsam findet, aber einige ist man sich, dass da was faul ist, im Staate. Ob unser "falscher" Umgang mit Frauen oder Ausländern nun von dieser oder jener Seite des Ufers beschrieben wird, dank des Spiegel wissen wir ja, dass die AfD Wähler, Frauen und Ostdeutsche, irgendwie heimlich koalieren.

Viele Narrative sind sexueller Natur, hervorstechend jene, die eine Unvereinbarkeit von sexueller Leidenschaft und familiärer Sorge beschwören. Einzige Lösung scheint die Affäre zu sein, ein Volkssport, bei dem das Narrativ schon akzeptiert wurde. Dem stillen, aber wirksamen Dogma ebenfalls entsprechend, ersucht gerade eine polyamore Bewegung den 68er Mythos wieder anzufachen, aber wohl ohne die letzte Zugkraft.

Die quasierotische Beziehung der Deutsche zu Arbeit und Auto ist auf der einen Seite sicher noch zu erwähnen, auf der anderen der demonstrativ unverkrampfte Umgang mit allen Volksgruppen, wenn man zum Nachtisch seinen Mokka schlürft, 'türlich mit Kardamom. Die hat sich jetzt übrigens operieren lassen ...



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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So 4. Mär 2018, 09:02

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 3. Mär 2018, 20:48
Nö, es würde mich sehr wundern, wenn hier jemand typische Narrative aus dem Sudan oder Ecuador anführen würde.
Wenn ich nach kulturellen Haupt-Narrativen im europäischen Raum frage, dann habe ich mit dieser Formulierung doch bereits vorweg festgelegt, daß ich die nationalstaatliche Kategorie zur Grundlage der Untersuchung mache. Zumindest eine Kategorie, die das Denken in einer nationalstaatlichen Ordnung nahelegt. Nach Haupt-Narrativen im abendländischen Raum zu fragen, bringt fast automatisch die unterschiedliche religiöse Ausrichtung ins Blickfeld. Jagut, vielleicht bin ich mit meinem Gedanken auf einen Abweg geraten, denn irgendeine Ordnung, die strukturiert und rahmt, muß ich natürlich jeder Untersuchung zugrundelegen.




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Tarvoc
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Mo 5. Mär 2018, 10:47

Wie wär's denn hiermit?

Die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andrerseits als gesellschaftliches Verhältnis -, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird. Hieraus geht hervor, daß eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens oder gesellschaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine "Produktivkraft", daß die Menge der den Menschen zugänglichen Produktivkräfte den gesellschaftlichen Zustand bedingt und also die "Geschichte der Menschheit" stets im Zusammenhange mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muß. [...] Es zeigt sich also schon von vornherein ein materialistischer Zusammenhang der Menschen untereinander, der durch die Bedürfnisse und die Weise der Produktion bedingt und so alt ist wie die Menschen selbst - ein Zusammenhang, der stets neue Formen annimmt und also eine "Geschichte" darbietet, auch ohne daß irgendein politischer oder religiöser Nonsens existiert, der die Menschen noch extra zusammenhalte.

(Marx-Engels Werke Bd. 3, S. 29-30)



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Friederike
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Mo 5. Mär 2018, 12:54

Das Zitat beinhaltet aber nicht einen der Haupt-Narrative unseres, des europäischen Kulturkreises, @Tarvoc? Eher dürfte es sich um einen ins Abseits gedrängten Narrativ handeln.

Falls ich Marx/Engels richtig verstehe, dann sind sie der Auffassung, es bedürfe überhaupt keiner Narrative, keiner Identitäten -weder kultureller noch individueller- da der Kitt ohnehin das (Über)-Leben und die Weitergabe von Leben sei.




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Tarvoc
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Mo 5. Mär 2018, 18:38

Friederike hat geschrieben :
Mo 5. Mär 2018, 12:54
Falls ich Marx/Engels richtig verstehe, dann sind sie der Auffassung, es bedürfe überhaupt keiner Narrative, keiner Identitäten -weder kultureller noch individueller- da der Kitt ohnehin das (Über)-Leben und die Weitergabe von Leben sei.
Die These ist eher die, dass die gegebenen konkreten Produktions- und Verkehrsformen zu ihnen passende Narrative ohnehin hervorbringen. Die Sprache selbst gehört ja nach der Theorie der Deutschen Ideologie zu den fünf Grundelementen des Produktionsprozesses - und Marx und Engels bestreiten dabei ja auch nicht, dass es z.B. religiöse Narrative gibt. Wenn also die Narrative verfallen, dann tun sie das deshalb, weil schon auf der Ebene der Produktion und des alltäglichen Verkehrs etwas im Verfall begriffen ist. An den Narrativen herumzudoktern ist also in etwa so, wie einem Patienten mit Gehirntumor Aspirin gegen die Kopfschmerzen zu geben.



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Di 6. Mär 2018, 13:05

Tarvoc hat geschrieben :
Mo 5. Mär 2018, 18:38
Die These ist eher die, dass die gegebenen konkreten Produktions- und Verkehrsformen zu ihnen passende Narrative ohnehin hervorbringen. Die Sprache selbst gehört ja nach der Theorie der Deutschen Ideologie zu den fünf Grundelementen des Produktionsprozesses - und Marx und Engels bestreiten dabei ja auch nicht, dass es z.B. religiöse Narrative gibt. Wenn also die Narrative verfallen, dann tun sie das deshalb, weil schon auf der Ebene der Produktion und des alltäglichen Verkehrs etwas im Verfall begriffen ist. [...]
Ich möchte nur nachfragen, ob es einen besonderen Grund hat, daß Du den Verfall erwähnst, nicht aber die Entstehung neuer Produktionsformen und im Zuge dessen die Herausbildung neuer "Erzählungen". Oder liegt es einfach daran, daß Du meinst, letzterer Aspekt sei durch Deinen ersten Satz abgedeckt? Fragen tue ich deswegen, weil ich unsicher bin, ob spezielle Bezüge den Hintergrund Deiner Aussage bilden, von denen ich nicht weiß.




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Tarvoc
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Di 6. Mär 2018, 17:47

Friederike hat geschrieben :
Di 6. Mär 2018, 13:05
Ich möchte nur nachfragen, ob es einen besonderen Grund hat, daß Du den Verfall erwähnst, nicht aber die Entstehung neuer Produktionsformen und im Zuge dessen die Herausbildung neuer "Erzählungen".
Das ist natürlich die andere Seite der Geschichte. Erwähnt habe ich das nicht aus zwei Gründen:

(1) Sowohl in dem Zitat als auch in der Diskussion hier ging es darum, was eine Gesellschaft "zusammenhält".
(2) Zumindest bezüglich Deutschland ist wenigstens prima facie gegenwärtig das Thema des Zusammenfalls von Narrativen präsenter als das Thema des Entstehens neuer Produktionsformen.



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Friederike
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Mi 7. Mär 2018, 19:00

Fortpflanzung und Überleben (ich reduziere die Arbeits- und Produktionsformen auf den biologisch-natürlichen Antrieb) als Impulse, die Gemeinschaft stiften, zu begreifen, finde ich nicht unplausibel.

Was würde oder was ändern neuere Möglichkeiten der Fortpflanzung an dem Familienmodell als einem der Haupt-Narrative unserer Kultur? Wobei die Familie unzweifelhaft -oder nicht?- immer noch entscheidend zur Identität der Einzelnen gehört (immer noch, weil die Ahnenreihe, in die sich die Individuen einordnen, inzwischen sicher weniger identitätsbewirkend ist als noch vor hundert Jahren).

Ich schau jetzt nicht nochmal nach, @T.I., ob Du es bereits erwähnt hattest ... auf dem Empfang die Frage "Was machen sie?" "Ich bin Lehrer, Arzt, Jurist"; "ich leite das Unternehmen xy",; "ich arbeite als Handwerker oder Briefträger"; "ich arbeite für die Firma xy". Ergänzt man: "am Fließband"? Ich denke, eher nicht.


*Bin Deinem Rat gefolgt, wie Du lesen kannst, @T.I.




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Mi 7. Mär 2018, 19:47

Zwar ist die Familie, die man heute meint, wenn man von Familie redet, gar nicht so alt, wie man gewöhnlich denkt: link.
Aber offenbar löst sie eine starke kulturelle Identifikation aus, bei einigen.
Fortpflanzen und Überleben sind m.E. keine kulturellen Identitäten, da das Anhänger so ziehmlich jeder Kultur wollen und das Tier- und Pflanzenreich auch.
Zu Gott beten, mit Stäbchen essen oder Krieger sein, ist da schon was anderes.



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Tarvoc
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Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 7. Mär 2018, 19:47
Zwar ist die Familie, die man heute meint, wenn man von Familie redet, gar nicht so alt, wie man gewöhnlich denkt: link. Aber offenbar löst sie eine starke kulturelle Identifikation aus, bei einigen.
Eigentlich merkwürdig, wenn man bedenkt, dass die bürgerliche Kleinfamilie bereits das Ergebnis von Vereinzelung und Entfremdung ist. Mir scheint, dass dabei weniger die tatsächlichen historischen Wurzeln der Kleinfamilie eine Rolle spielen als ein verklärtes Bild der eigenen Kindheit.



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Tarvoc hat geschrieben :
Do 8. Mär 2018, 15:43
Eigentlich merkwürdig, wenn man bedenkt, dass die bürgerliche Kleinfamilie bereits das Ergebnis von Vereinzelung und Entfremdung ist. Mir scheint, dass dabei weniger die tatsächlichen historischen Wurzeln der Kleinfamilie eine Rolle spielen als ein verklärtes Bild der eigenen Kindheit.
Ist sie das denn? Vielleicht ja auch nur Ausdruck einer Ich-Bildung, der für Europa typischen halbwegs gesunden Individualisierung.
Jetzt zerfallen die Familien und andere sinstiftende Kulturangebote, zumindest in Europa. Müsste ja demnach alles in bester Ordnung sein, aber das Lied mag keiner so richtig, aus voller Kehle singen.



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Do 8. Mär 2018, 18:49

Tosa Inu hat geschrieben :
Do 8. Mär 2018, 17:31
Jetzt zerfallen die Familien und andere sinstiftende Kulturangebote, zumindest in Europa. Müsste ja demnach alles in bester Ordnung sein, aber das Lied mag keiner so richtig, aus voller Kehle singen.
Mein Punkt war der, dass der Zerfall der Kleinfamilie das Resultat des logischen Fortgangs genau derselben Entwicklungen ist, die überhaupt erst zu ihrer Entstehung geführt haben. Dass das Lied keiner singen mag, ist schon richtig. Vor allem will sich den Schuh keiner anziehen. Der Witz hier besteht ja darin, dass genau diejenigen, die auf ökonomischer Ebene die Ursachen des Zerfalls der Kleinfamilie befördert haben (Thatcherismus und Reaganomics), sich auf kultureller Ebene den Schutz der Familie und ihrer "Werte" (als hätte jede Familie die selben Wertvorstellungen) auf die Fahne schreiben.
Zuletzt geändert von Tarvoc am Do 8. Mär 2018, 18:53, insgesamt 3-mal geändert.



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Do 8. Mär 2018, 18:53

Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 7. Mär 2018, 19:47
Fortpflanzen und Überleben sind m.E. keine kulturellen Identitäten, da das Anhänger so ziemlich jeder Kultur wollen und das Tier- und Pflanzenreich auch.
Nun, das hatte ich auch nicht gesagt. Mir ging es darum, inwiefern diese beiden -wohl- grundlegenden natürlichen Antriebe, die zur Vergemeinschaft ... hm, mehr oder weniger zwingen, :lol: unterschiedliche Kulturformen, Identitätsstiftendes und vielleicht auch Narrative hervorbringen.




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