Der Untergrund

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Jörn Budesheim
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Fr 9. Feb 2018, 06:11

Tosa Inu hat geschrieben :
Do 8. Feb 2018, 08:55
Ein Lehrer von mir hat mal erzählt, dass seine WG zu Studienzeiten oft Lebensmittelkonzerne besucht oder dort als Nebenjob gearbeitet hat. Die Regel war, dass das besichtigte Produkt danach vom Speiseplan der WG gestrichen wurde. Die Besuche in den Betrieben stellte man irgendwann ein, damit überhaupt noch was gegessen werden konnte.
Ich schätze mal, das ist nur ein Sonderfall für den viel allgemeineren Fall, dass unser alltägliches Leben andauernd von Mechanismen (oder wie auch immer man es nennen mag) hervorgebracht wird, die wir im Grunde fast nie zur Kenntnis nehmen. Neben Lebensmitteln sind Strom, Wasser und Licht nur einige Beispiele dafür. Bücher, Zeitung, Fernsehen, Internet wären weitere Beispiele... Nahezu alles, was wir alltäglich nutzen und brauchen, beruht auf Bedingungen, die irgendwo nahezu unsichtbar und unbemerkt im Hintergrund bleiben.

Und wenn diese Hintergrundbedingungen sichtbar gemacht werden, z.b. durch Skandale oder dergleichen, dann stellen wir fest, dass die Mechanismen, die unser alltägliches Leben hervorbringen, eigentlich nicht dementsprechen, was viele von uns für angemessen halten.

Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich, wie draußen die Müllabfuhr meine Abfälle entsorgt...




Tosa Inu
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Fr 9. Feb 2018, 08:19

Und eine parallele Geschichte gibt es auch von unten. Viele unserer Organe und Organsysteme funktionieren ziemlich autonom und man findet - auch wenn das wohl nur ein aktueller Trend ist - den Menschen in Kooperation mit vielen Milliraden Bakterien, so dass unser Ich infrage gestellt wird und man vom Holobionten spricht (also einer Einheit vieler Lebewesen). Neuerdings sollte sogar Fettzellen über unser Hungergefühl entscheiden. Also kein plumpes Vorratslager, sondern aktive Beteiliging.

Im Grunde ist das alles aus der Systemtheorie bekannt, die dann regelmäßig feststellt, dass wir auch das Ich doch eigentlich auch ganz gut verzichten können, da ja doch alles autonom abläuft. Exerziert man das durch stellt sich aber regelmäßig die Widersprüchlichkeit dieser Ansätze heraus.

Zwischen Ich und System entsteht ein dynamisches Zusammenspiel, abhängig von Faktoren im Innen (wenn Darmbakterien unsere Stimmung beeinflussen), davon, dass draußen die Müllabführ unsere Reste entsorgt, davon, dass wir sowas nicht gerne anschauen oder drüber reden, aber auch von der blankpolierten Seite, unseren mythsichen Geschichten, mit denen wir uns durch den Alltag hangeln.

Bereits Freud wusste, dass wir einem privaten Mythos folgen, die Geschichte unseres Lebens ist immer geschönt, auch dann, wenn wir ganz ehrlich sind und in unser Innerstsn schauen. Bei mir treten täglich mehr :?: auf, wenn ich mir diverse 'Enthüllungen' des Alltags anschaue. Ich bin im ernsten Zweifel, ob die Menschen tatsächlich in einer mit brutal erscheinenden Überzahl dumm und ignorant sind, wenn sie von Dingen die eigentlich jeder wissen muss und weiß, 'auf einmal' erfahren. Mich überrascht inzwischen die vermeintliche Überraschung um eine Zehnerpotenz mehr. Wie kann man tatsächlich ein mittleres Lebensalter erreichen und all das nicht wissen, was man im Grunde wissen muss, wenn man nicht blind, taub und dumm ist oder seit 20 Jahren in einer Abstellkammer wohnt?

Es scheint also für die gesellschaftliche Ebene, wie für das eigene Ich eine massive Verdrängungsleistung zu geben, die alles 'Unschöne' herausfiltert, wie beim Ich auch, wohl weitgehend unbewusst, anders kann ich mir die Überraschung, auf die regaert wird, wenn man mit dem 729. Skandal oder Skandälchen konfrontiert wird, nicht mehr erklären.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Tarvoc
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Mo 12. Feb 2018, 07:58

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 9. Feb 2018, 06:11
Ich schätze mal, das ist nur ein Sonderfall für den viel allgemeineren Fall, dass unser alltägliches Leben andauernd von Mechanismen (oder wie auch immer man es nennen mag) hervorgebracht wird, die wir im Grunde fast nie zur Kenntnis nehmen. Neben Lebensmitteln sind Strom, Wasser und Licht nur einige Beispiele dafür. Bücher, Zeitung, Fernsehen, Internet wären weitere Beispiele... Nahezu alles, was wir alltäglich nutzen und brauchen, beruht auf Bedingungen, die irgendwo nahezu unsichtbar und unbemerkt im Hintergrund bleiben.

Und wenn diese Hintergrundbedingungen sichtbar gemacht werden, z.b. durch Skandale oder dergleichen, dann stellen wir fest, dass die Mechanismen, die unser alltägliches Leben hervorbringen, eigentlich nicht dementsprechen, was viele von uns für angemessen halten.
"Angemessen" wohl nicht, aber halt auch überhaupt nicht überraschend. Eine am Profitmotiv orientierte Wirtschaft bringt halt genau solche Sachen hervor.



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