Re: Vertrauen
Verfasst: Do 22. Apr 2021, 23:19
Ich dachte an deine ideale utopische Gesellschaft. Aber ja, die meintest du nur als Erklärungsbeispiel, schon klar.
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Ich dachte an deine ideale utopische Gesellschaft. Aber ja, die meintest du nur als Erklärungsbeispiel, schon klar.
Sind die Menschen in China generell vertrauenswürdiger oder sind die Chinesen insgesamt vertrauensseliger oder ist Vertrauen auch ein kulturell geprägtes Phänomen?Martin Hartmann, Vertrauen, Die unsichtbare Macht hat geschrieben : Der World Values Survey stellt in regelmäßigen Abständen (unter anderem) folgende Frage: »Würden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann oder dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann?« 2013 haben immerhin mehr als 50 % der Deutschen geantwortet, dass man sehr vorsichtig sein muss (der eigenen Familie vertrauen immerhin fast 75 % stark und knapp20 % schwach). Zum Vergleich: In China sagen nur 35 % der Befragten, man müsse sehr vorsichtig sein, in den USA dagegen 64 %. Immerhin zeigt der World Values Survey, dass die Zahl derjenigen in Deutschland, die angeben, den meisten Menschen könne man nicht vertrauen, zwischen 2006 und 2013 etwas zurückgegangen ist, nämlich von 57,9 % auf 53,8 %, aber der niedrigere Wert erscheint immer noch ziemlich hoch. Es bleibt dabei, dass die Mehrheit der Deutschen ihren Mitmenschen kein Vertrauen entgegenbringt.
Gegenbegriff in welcher Hinsicht (*)? Dass es genau einen Gegenbegriff gibt bzw. genau ein Gegenteil, lernt man als Kind, aber als Philosoph bzw. Denker sollten wir etwas weiter seinJörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 23. Apr 2021, 06:50Ich hatte in einem vorhergehenden Beitrag nach dem Gegenbegriff von Vertrauen gefragt. Meiner Ansicht nach ist der Gegenbegriff das Misstrauen. Oder ist Vertrauen eher ein Mittelbegriff? Also derjenige Begriff, der zwischen "Misstrauen" und "blindem Vertrauen" steht?
Sorry, vergiss bitte diese meine Bemerkung und beziehe dich gerne auf den Rest.
Vielleicht eine Art Erwartungshaltung?Alethos hat geschrieben : ↑So 25. Apr 2021, 12:53Vielleicht müssen wir Vertrauen unterscheiden in Vertrauen in das Gute und Vertrauen in das Schlechte (griech.: eupistía und dyspistía).
Vertrauen ist eine Art von „Treuherzigkeit“ gegenüber der Wirklichkeit: Sie kann gut oder schlecht sein.
Damit verwandt dürfte das Selbstvertrauen sein, das eine Art Glaube an die Wirklichkeit des eigenen Selbstbewusstseins ist.
interessante Zahlen. Zur Frage: hier würde ich Letzteres vermuten, denn durch die fernöstlichen Religionen und deren Grunddisziplinen wird eine solche Einstellung bei vielen doch schon recht früh gefördert.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 23. Apr 2021, 06:45Sind die Menschen in China generell vertrauenswürdiger oder sind die Chinesen insgesamt vertrauensseliger oder ist Vertrauen auch ein kulturell geprägtes Phänomen?Martin Hartmann, Vertrauen, Die unsichtbare Macht hat geschrieben : Der World Values Survey stellt in regelmäßigen Abständen (unter anderem) folgende Frage: »Würden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann oder dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann?« 2013 haben immerhin mehr als 50 % der Deutschen geantwortet, dass man sehr vorsichtig sein muss (der eigenen Familie vertrauen immerhin fast 75 % stark und knapp20 % schwach). Zum Vergleich: In China sagen nur 35 % der Befragten, man müsse sehr vorsichtig sein, in den USA dagegen 64 %. Immerhin zeigt der World Values Survey, dass die Zahl derjenigen in Deutschland, die angeben, den meisten Menschen könne man nicht vertrauen, zwischen 2006 und 2013 etwas zurückgegangen ist, nämlich von 57,9 % auf 53,8 %, aber der niedrigere Wert erscheint immer noch ziemlich hoch. Es bleibt dabei, dass die Mehrheit der Deutschen ihren Mitmenschen kein Vertrauen entgegenbringt.
Ich habe etwas nachgedacht, über den Punkt, Vertrauen ist eine Art "Treuherzigkeit gegenüber der Wirklichkeit" mir gefällt dieser Gedankenansatz sehr gut!
Was ist "logisch gesehen" das Gegenteil von "groß"? Das Gegenteil von groß ist nicht "nicht - groß", sondern klein. Das kann man sich, wenn man überhaupt bereit ist das principle of charity anzuwenden, als zwei Pole vorstellen, zwischen denen es viele Abstufungen gibt.
Du hast den Ausdruck zwar nicht verwendet - aber wäre das nicht eine Form von Vorsicht?
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 15. Apr 2021, 12:52Man müsste eigentlich mal gute philosophische Literatur dazu suchen. Ich hab vor kurzem gelesen, dass Brandom ein Buch darüber geschrieben hat, the spirit of trust, soweit ich mich entsinne. Ich hab aber nichts dazu gefunden bisher.
Das Buch ist noch gar nicht erschienen, daher ist es auch so schwierig etwas darüber zu finden :) und inwiefern es über Vertrauen geht, ist mir nach der Inhaltsangabe auch nicht klar.Robert B. Brandom
Im Geiste des Vertrauens - Eine Lektüre der »Phänomenologie des Geistes«
Vierzig Jahre lang hat der Philosoph Robert Brandom an seiner lang erwarteten und bahnbrechenden Neuinterpretation von Hegels Phänomenologie des Geistes gearbeitet. Indem er analytische, kontinentale und historische Traditionen verbindet, zeigt er, welche Herausforderung Hegels philosophisches Denken selbst heute noch darstellt. Im Geiste des Vertrauens handelt von der massiven historischen Veränderung im Leben der Menschheit, welche die Moderne darstellt.
In der Antike wurden Urteile darüber, was sein sollte, als objektive Tatsachen angesehen, während die moderne Welt sie als durch subjektive Einstellungen bestimmt betrachtet. Hegel vertritt eine Sichtweise, die beides miteinander verbindet, Brandom bezeichnet sie als »objektiven Idealismus«: Es gibt eine objektive Realität, aber wir können ihr keinen Sinn abgewinnen, ohne zuerst zu verstehen, wie wir über sie denken. Wir werden erst dann zu Akteuren, wenn wir von anderen Akteuren als solche wahrgenommen werden. Das bedeutet, dass Verpflichtung, Verantwortung und Autorität durch soziale Praktiken der gegenseitigen Anerkennung erzeugt werden. Wenn unsere selbstbewussten anerkennenden Haltungen die radikale Form von Großmut und Vertrauen annehmen, so Brandom, dann können wir die Moderne überwinden und in ein neues Zeitalter des Geistes eintreten.
Gepl. Erscheinen: 13.09.2021
Gebunden, 1194 Seiten
ISBN: 978-3-518-58769-
"principle of charity"... was es alles gibt, hatte ich noch nie gehört.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 26. Apr 2021, 06:50Was ist "logisch gesehen" das Gegenteil von "groß"? Das Gegenteil von groß ist nicht "nicht - groß", sondern klein. Das kann man sich, wenn man überhaupt bereit ist das principle of charity anzuwenden, als zwei Pole vorstellen, zwischen denen es viele Abstufungen gibt.
So kannst du es halt mit "Vertrauen" und "Gegenteil" bzw. hier mehr "zwischen Polen" auch sehen. Nimmt man statt "groß" das Substantiv "Größe" und etwas entfernter "hat Größe", kann man dies auch durch Pole "hat übertriebene Größe" (vielleicht a la Trump-eltier) und "hat keine Größe" (wie "knickt schnell ein" oder so) beschreiben, aber das nur so nebenbei.Der Vorschlag, den ich gemacht habe, ist folgender: vertrauen ist der Wert zwischen zwei Polen, nämlich zwischen Misstrauen und blindem Vertrauen. Die Gegenbegriffe wären dann, anders als ursprünglich angenommen, Misstrauen und blindes Vertrauen und Vertrauen läge irgendwo dazwischen. Dabei haben Misstrauen und blindes Vertrauen sogar etwas gemeinsam, denn sie sind im extrem nicht rational, weil sie nicht aus Gründen entspringen.
transfinitum hat geschrieben : ↑Mi 21. Apr 2021, 10:57
Beim Durchlesen des Threads ist mir was aufgefallen: bisher wurde nur eine Seite betrachtet: die Seite, die Vertrauen hat und auch gewisse Gegenleistungen dafür erwartet, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist und auch wurden Szenarien erstellt, wann kein Vertrauen angebracht ist und wie es sich anfühlt, kein Vertrauen zu haben oder es zu verlieren.
Aber was ist mit der anderen Seite: die Perspektive, der Vertrauen entgegen gebracht wird, hier stellt sich dann die Frage: wie fühlt sich diese Seite an und wie geht diese mit Vertrauen oder Misstrauen um. Dies hängt wahrscheinlich von der Einstellung der Person selbst ab, sie kann diesem Vertrauen konstruktiv begegnen oder auch missbrauchen.
[Hervorhebung von mir]
Wenn ich richtig sehe, dann untersucht diese Studie genau die gestellte Frage, unter dem Aspekt des Misstrauens. Auf Dauer gestelltes Misstrauen hat also ernste negative Folgen für die betroffene Person. Läuft es darauf hinaus, dass die Anerkennung und die Achtung entzogen werden?... Die Studie geht von einem neuen Ansatzpunkt aus. Während vorherige Untersuchungen die Person, deren Vertrauen enttäuscht wurde, im Mittelpunkt sahen, gehen die Wissenschafter um die Studienleiterin Klodiana Lanaj von der Person aus, der misstraut wird.
Dabei, so die Autoren, ist zu vermuten, dass auch entgegen gebrachtes Misstrauen einen Einfluss auf die Person hat, die so behandelt wird – und die Ergebnisse scheinen die Vermutung zu bestätigen.
Den Versuchspersonen wurde über einen Zeitraum von drei Wochen jeden Tag etwas mehr Misstrauen auf der Arbeit gezeigt. Nach drei Wochen fühlten sich die Probanden emotional erschöpft und zogen sich in der Folge immer mehr von ihren Kollegen zurück.
Dabei blieb es aber nicht. Auch nach der Arbeit hatten die Personen, die mit viel Misstrauen konfrontiert waren, mit Problemen zu kämpfen. ...
https://karrierebibel.de/misstrauen/
Aber das spiegelt nur einen Teil. Arbeitsteilung ist umfassender und bezieht sich nicht nur darauf, dass wir etwas nicht können/wissen, was andere können/wissen. "Ich schäl' die Kartoffeln und du hackst die Zwiebeln" ist ja auch eine Form von Arbeitsteilung und auch hier vertraut man darauf, dass der/die Andere ihren Job richtig macht. Und manches (bzw. ziemlich vieles) können wir alleine gar nicht bewältigen. In solchen Fällen ist "Vertrauen" sicher eine wichtige Zutat, wenn bestimmt auch nicht die Einzige.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Di 27. Apr 2021, 06:37... dabei ging es mir um die Arbeitsteilung. Wir sind ja, jeder einzelne, strukturell Laien in fast allen Bereichen unserer Wirklichkeit.
Dass der aktuelle Verstand dem allgemeinen (u.a.) zukünftigen, z.T. auch un(ter)bewusstem nicht traut.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mi 28. Apr 2021, 06:55Was hieße es eigentlich, sich selbst zu misstrauen?