Vertrauen

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
Burkart
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Do 22. Apr 2021, 23:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 22. Apr 2021, 06:12
Burkart hat geschrieben :
Mi 21. Apr 2021, 23:27
Mir ging es darum, dass man bei einer Idealisierung nicht vergisst, dass man idealisiert, also dass Ergebnisse/Konsequenzen/... aus idealisierten Annahmen heraus ggf. nicht (viel) mit der Realität zu tun haben.
Von welcher Idealisierung sprichst du?
Ich dachte an deine ideale utopische Gesellschaft. Aber ja, die meintest du nur als Erklärungsbeispiel, schon klar.



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Jörn Budesheim
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Fr 23. Apr 2021, 06:45

Martin Hartmann, Vertrauen, Die unsichtbare Macht hat geschrieben : Der World Values Survey stellt in regelmäßigen Abständen (unter anderem) folgende Frage: »Würden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann oder dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann?« 2013 haben immerhin mehr als 50 % der Deutschen geantwortet, dass man sehr vorsichtig sein muss (der eigenen Familie vertrauen immerhin fast 75 % stark und knapp20 % schwach). Zum Vergleich: In China sagen nur 35 % der Befragten, man müsse sehr vorsichtig sein, in den USA dagegen 64 %. Immerhin zeigt der World Values Survey, dass die Zahl derjenigen in Deutschland, die angeben, den meisten Menschen könne man nicht vertrauen, zwischen 2006 und 2013 etwas zurückgegangen ist, nämlich von 57,9 % auf 53,8 %, aber der niedrigere Wert erscheint immer noch ziemlich hoch. Es bleibt dabei, dass die Mehrheit der Deutschen ihren Mitmenschen kein Vertrauen entgegenbringt.
Sind die Menschen in China generell vertrauenswürdiger oder sind die Chinesen insgesamt vertrauensseliger oder ist Vertrauen auch ein kulturell geprägtes Phänomen?




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Jörn Budesheim
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Fr 23. Apr 2021, 06:50

Ich hatte in einem vorhergehenden Beitrag nach dem Gegenbegriff von Vertrauen gefragt. Meiner Ansicht nach ist der Gegenbegriff das Misstrauen. Oder ist Vertrauen eher ein Mittelbegriff? Also derjenige Begriff, der zwischen "Misstrauen" und "blindem Vertrauen" steht?




Burkart
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So 25. Apr 2021, 11:11

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 23. Apr 2021, 06:50
Ich hatte in einem vorhergehenden Beitrag nach dem Gegenbegriff von Vertrauen gefragt. Meiner Ansicht nach ist der Gegenbegriff das Misstrauen. Oder ist Vertrauen eher ein Mittelbegriff? Also derjenige Begriff, der zwischen "Misstrauen" und "blindem Vertrauen" steht?
Gegenbegriff in welcher Hinsicht (*)? Dass es genau einen Gegenbegriff gibt bzw. genau ein Gegenteil, lernt man als Kind, aber als Philosoph bzw. Denker sollten wir etwas weiter sein ;)
Logisch gesehen ist "kein Vertrauen" das Gegenteil von "Vertrauen", also nicht "Misstrauen" (Unterschied: bei "kein Vertrauen" ist einfach nichts von Vertrauen da (und das war's), bei "Misstrauen" werden eigene Vertrauenspunkte hinterfragt, man versucht vielleicht einige Vertrauenspunkte noch aufrecht zu erhalten, nur andere nicht usw.)

Ansonsten geht es bei deiner alternativen Überlegung...
"Oder ist Vertrauen eher ein Mittelbegriff? Also derjenige Begriff, der zwischen "Misstrauen" und "blindem Vertrauen" steht?"
...wieder Richtung Wortdefinition/-verständnis von "Vertrauen", was mich wieder an die Frage erinnert, ob 11 oder 4 Monate 30 Tage haben, also "mindestens 30" oder "genau 30"...

(*) Was ist z.B. das Gegenteil der Zahl 1? Die -1 (bzw. Addition)? Die 0 (binär)?



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Jörn Budesheim
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So 25. Apr 2021, 11:32

Burkart hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 11:11
aber als Philosoph bzw. Denker sollten wir etwas weiter sein
Na dann




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Alethos
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So 25. Apr 2021, 12:53

Vielleicht müssen wir Vertrauen unterscheiden in Vertrauen in das Gute und Vertrauen in das Schlechte (griech.: eupistía und dyspistía).

Vertrauen ist eine Art von „Treuherzigkeit“ gegenüber der Wirklichkeit: Sie kann gut oder schlecht sein.

Damit verwandt dürfte das Selbstvertrauen sein, das eine Art Glaube an die Wirklichkeit des eigenen Selbstbewusstseins ist.



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So 25. Apr 2021, 13:54

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 11:32
Burkart hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 11:11
aber als Philosoph bzw. Denker sollten wir etwas weiter sein
Na dann
Sorry, vergiss bitte diese meine Bemerkung und beziehe dich gerne auf den Rest.



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AndreaH
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So 25. Apr 2021, 14:05

Alethos hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 12:53
Vielleicht müssen wir Vertrauen unterscheiden in Vertrauen in das Gute und Vertrauen in das Schlechte (griech.: eupistía und dyspistía).

Vertrauen ist eine Art von „Treuherzigkeit“ gegenüber der Wirklichkeit: Sie kann gut oder schlecht sein.

Damit verwandt dürfte das Selbstvertrauen sein, das eine Art Glaube an die Wirklichkeit des eigenen Selbstbewusstseins ist.
Vielleicht eine Art Erwartungshaltung?
Aber irgendwie ist das für mich nicht ganz stimmig.
Vielleicht weil es sich so unterschiedlich anfühlt.




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infinitum
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So 25. Apr 2021, 16:20

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 23. Apr 2021, 06:45
Martin Hartmann, Vertrauen, Die unsichtbare Macht hat geschrieben : Der World Values Survey stellt in regelmäßigen Abständen (unter anderem) folgende Frage: »Würden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann oder dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann?« 2013 haben immerhin mehr als 50 % der Deutschen geantwortet, dass man sehr vorsichtig sein muss (der eigenen Familie vertrauen immerhin fast 75 % stark und knapp20 % schwach). Zum Vergleich: In China sagen nur 35 % der Befragten, man müsse sehr vorsichtig sein, in den USA dagegen 64 %. Immerhin zeigt der World Values Survey, dass die Zahl derjenigen in Deutschland, die angeben, den meisten Menschen könne man nicht vertrauen, zwischen 2006 und 2013 etwas zurückgegangen ist, nämlich von 57,9 % auf 53,8 %, aber der niedrigere Wert erscheint immer noch ziemlich hoch. Es bleibt dabei, dass die Mehrheit der Deutschen ihren Mitmenschen kein Vertrauen entgegenbringt.
Sind die Menschen in China generell vertrauenswürdiger oder sind die Chinesen insgesamt vertrauensseliger oder ist Vertrauen auch ein kulturell geprägtes Phänomen?
interessante Zahlen. Zur Frage: hier würde ich Letzteres vermuten, denn durch die fernöstlichen Religionen und deren Grunddisziplinen wird eine solche Einstellung bei vielen doch schon recht früh gefördert.



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AndreaH
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Alethos hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 12:53


Vertrauen ist eine Art von „Treuherzigkeit“ gegenüber der Wirklichkeit: Sie kann gut oder schlecht sein.

Ich habe etwas nachgedacht, über den Punkt, Vertrauen ist eine Art "Treuherzigkeit gegenüber der Wirklichkeit" mir gefällt dieser Gedankenansatz sehr gut!
Da es beim Vertrauen sehr auf die jeweilige Situation ankommt. Wie bereits vorher durchgegangen, sehe ich das Vertrauen als etwas sehr bewegliches in seiner Intensität.

Wenn ich allein, auf einen Berg um halb vier morgens losgehe, um den Sonnenaufgang am Gipfel zu erleben. Werde ich in meiner Persönlichkeit konfrontiert mit einer sehr
unterschiedlichen Gefühlslage des Vertrauens auf den Weg dorthin. Zuerst muß ich eine Stunde damit zurecht kommen durch einen Wald im Dunkeln zu gehen. Die Dunkelheit ist unangenehm und nicht vertraut, jedoch das Vertrauen in meine Ausrüstung (Stirnlampe und Ersatztaschenlampe im Rucksack ) lässt diese Angst der Dunkelheit ertragen. Genauso wie das Vertrauen in den Weg, den ich kenne. Zwischendurch fühlt es sich für mich sogar teilweise vertrauter an, die Stirnlampe ganz auszumachen, um selbst in der Dunkelheit zu verschwinden.
Ein großer Unterschied ist für mich, wenn ich einer Kuhherde in der Dunkelheit begegne oder am Tag. Während mir am Tag eine Kuhherde vertraut ist, war es in der Nacht eine völlig andere Situation für mich. (Ich habe damals einen größeren Bogen durchs Unterholz gemacht. :o :lol: )
Umso öfter ich in der Dunkelheit aufbrach, um auf einen Berg zu gehen, so  vertrauter wurde mir auch die Dunkelheit.

Daher denke ich schon, dass es eine Art erfahrenes individuelles Grundgefühl des Vertrauens ist, wie wir der Wirklichkeit begegnen.




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Jörn Budesheim
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Mo 26. Apr 2021, 06:50

Burkart hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 11:11
Logisch gesehen ist "kein Vertrauen" das Gegenteil von "Vertrauen"
Was ist "logisch gesehen" das Gegenteil von "groß"? Das Gegenteil von groß ist nicht "nicht - groß", sondern klein. Das kann man sich, wenn man überhaupt bereit ist das principle of charity anzuwenden, als zwei Pole vorstellen, zwischen denen es viele Abstufungen gibt.

Der Vorschlag, den ich gemacht habe, ist folgender: vertrauen ist der Wert zwischen zwei Polen, nämlich zwischen Misstrauen und blindem Vertrauen. Die Gegenbegriffe wären dann, anders als ursprünglich angenommen, Misstrauen und blindes Vertrauen und Vertrauen läge irgendwo dazwischen. Dabei haben Misstrauen und blindes Vertrauen sogar etwas gemeinsam, denn sie sind im extrem nicht rational, weil sie nicht aus Gründen entspringen.




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Mo 26. Apr 2021, 09:09

AndreaH hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 17:49
Ich habe damals einen größeren Bogen durchs Unterholz gemacht.
Du hast den Ausdruck zwar nicht verwendet - aber wäre das nicht eine Form von Vorsicht?

Wenn man die beiden "Gegenbegriffe" (oder wie auch immer man es nennen will) zu Vertrauen nimmt: Misstrauen und blindes Vertrauen, dann fehlt ihnen (nach meinem vorläufigen Vorschlag) jeweils das Rationale. Ähnlich stelle ich es mir bei Vorsicht vor: Unvorsicht und Übervorsicht sind die beiden "nichtrationalen" Pole der Vorsicht. Vorsicht ist rational, wenn sie mit dem Umstand "umgeht", dass man sich auf unbekanntem Terrain bewegt und die Tatsachen, die für diese oder jenes sprechen (noch) nicht kennt. Vorsicht ist für endliche Wesen in unbekannten Situationen in der Regel rational, würde ich sagen. Sie sollte aber mit einem "Grundgefühl des Vertrauens" gekoppelt sein, weil man sonst erstarren würde. Das als ein Vorschlag in die Diskussion.




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Jörn Budesheim
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Mo 26. Apr 2021, 20:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 15. Apr 2021, 12:52
Man müsste eigentlich mal gute philosophische Literatur dazu suchen. Ich hab vor kurzem gelesen, dass Brandom ein Buch darüber geschrieben hat, the spirit of trust, soweit ich mich entsinne. Ich hab aber nichts dazu gefunden bisher.
Robert B. Brandom

Im Geiste des Vertrauens - Eine Lektüre der »Phänomenologie des Geistes«

Vierzig Jahre lang hat der Philosoph Robert Brandom an seiner lang erwarteten und bahnbrechenden Neuinterpretation von Hegels Phänomenologie des Geistes gearbeitet. Indem er analytische, kontinentale und historische Traditionen verbindet, zeigt er, welche Herausforderung Hegels philosophisches Denken selbst heute noch darstellt. Im Geiste des Vertrauens handelt von der massiven historischen Veränderung im Leben der Menschheit, welche die Moderne darstellt.

In der Antike wurden Urteile darüber, was sein sollte, als objektive Tatsachen angesehen, während die moderne Welt sie als durch subjektive Einstellungen bestimmt betrachtet. Hegel vertritt eine Sichtweise, die beides miteinander verbindet, Brandom bezeichnet sie als »objektiven Idealismus«: Es gibt eine objektive Realität, aber wir können ihr keinen Sinn abgewinnen, ohne zuerst zu verstehen, wie wir über sie denken. Wir werden erst dann zu Akteuren, wenn wir von anderen Akteuren als solche wahrgenommen werden. Das bedeutet, dass Verpflichtung, Verantwortung und Autorität durch soziale Praktiken der gegenseitigen Anerkennung erzeugt werden. Wenn unsere selbstbewussten anerkennenden Haltungen die radikale Form von Großmut und Vertrauen annehmen, so Brandom, dann können wir die Moderne überwinden und in ein neues Zeitalter des Geistes eintreten.

Gepl. Erscheinen: 13.09.2021
Gebunden, 1194 Seiten
ISBN: 978-3-518-58769-
Das Buch ist noch gar nicht erschienen, daher ist es auch so schwierig etwas darüber zu finden :) und inwiefern es über Vertrauen geht, ist mir nach der Inhaltsangabe auch nicht klar.




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Mo 26. Apr 2021, 23:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 26. Apr 2021, 06:50
Burkart hat geschrieben :
So 25. Apr 2021, 11:11
Logisch gesehen ist "kein Vertrauen" das Gegenteil von "Vertrauen"
Was ist "logisch gesehen" das Gegenteil von "groß"? Das Gegenteil von groß ist nicht "nicht - groß", sondern klein. Das kann man sich, wenn man überhaupt bereit ist das principle of charity anzuwenden, als zwei Pole vorstellen, zwischen denen es viele Abstufungen gibt.
"principle of charity"... was es alles gibt, hatte ich noch nie gehört.
Klar ist das übliche Gegenteil so, wie dein genanntes Prinzip es wünscht. Nur wenn man feststellt, dass ein Gegenteil nicht mehr so offensichtlich ist, kann man dein Prinzip ja mal ein wenig aufweichen bzw. das Denken etwas erweitern.
So hat "Vertrauen" eben kein so klares Gegenteil wie "groß", dessen Gegenpol begriffsbedingt mit "klein" praktisch erzwungen ist. Das zeigt ja gerade dein folgender Vorschlag:
Der Vorschlag, den ich gemacht habe, ist folgender: vertrauen ist der Wert zwischen zwei Polen, nämlich zwischen Misstrauen und blindem Vertrauen. Die Gegenbegriffe wären dann, anders als ursprünglich angenommen, Misstrauen und blindes Vertrauen und Vertrauen läge irgendwo dazwischen. Dabei haben Misstrauen und blindes Vertrauen sogar etwas gemeinsam, denn sie sind im extrem nicht rational, weil sie nicht aus Gründen entspringen.
So kannst du es halt mit "Vertrauen" und "Gegenteil" bzw. hier mehr "zwischen Polen" auch sehen. Nimmt man statt "groß" das Substantiv "Größe" und etwas entfernter "hat Größe", kann man dies auch durch Pole "hat übertriebene Größe" (vielleicht a la Trump-eltier) und "hat keine Größe" (wie "knickt schnell ein" oder so) beschreiben, aber das nur so nebenbei.

Du hast hier das Vertrauen als das Normale definiert bzw. quasi ein Zentrum des Normalen, so dass Abweichungen etwas wie Richtung Pole erscheinen können.
Was bei "blindem Vertrauen" noch gut hinkommt, sehe ich bei Misstrauen nicht so, da ich den Begriff nur als "weniger, kritischeres, vielleicht etwas angeknacktes Vertrauen" ansehe, nicht aber als "völliges Nichtvertrauen", wie du "Misstrauen" womöglich ansehen magst; gut möglich, dass meine Begrifflichkeit da etwas von Anderen abweicht.
"Misstrauen" ist wirklich interessant, wenn man mal im Duden nachschaut, was dort so steht, also u.a. auch "ein gesundes Misstrauen, eine Portion Misstrauen haben", was den Begriff wirklich nicht so klar macht.

Übrigens kann man "Liebe" ähnlich wie "Vertrauen" analysieren, also einerseits mit dem Gegenteil "Hass" oder aber auch als Normalität zwischen den Polen "völlig übertriebende Liebe" (a la "Selbstaufgabe") und "völligem Hass".



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Di 27. Apr 2021, 06:37

transfinitum hat geschrieben :
Mi 21. Apr 2021, 10:57

Beim Durchlesen des Threads ist mir was aufgefallen: bisher wurde nur eine Seite betrachtet: die Seite, die Vertrauen hat und auch gewisse Gegenleistungen dafür erwartet, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist und auch wurden Szenarien erstellt, wann kein Vertrauen angebracht ist und wie es sich anfühlt, kein Vertrauen zu haben oder es zu verlieren.
Aber was ist mit der anderen Seite: die Perspektive, der Vertrauen entgegen gebracht wird, hier stellt sich dann die Frage: wie fühlt sich diese Seite an und wie geht diese mit Vertrauen oder Misstrauen um. Dies hängt wahrscheinlich von der Einstellung der Person selbst ab, sie kann diesem Vertrauen konstruktiv begegnen oder auch missbrauchen.

[Hervorhebung von mir]
... Die Studie geht von einem neuen Ansatzpunkt aus. Während vorherige Untersuchungen die Person, deren Vertrauen enttäuscht wurde, im Mittelpunkt sahen, gehen die Wissenschafter um die Studienleiterin Klodiana Lanaj von der Person aus, der misstraut wird.

Dabei, so die Autoren, ist zu vermuten, dass auch entgegen gebrachtes Misstrauen einen Einfluss auf die Person hat, die so behandelt wird – und die Ergebnisse scheinen die Vermutung zu bestätigen.

Den Versuchspersonen wurde über einen Zeitraum von drei Wochen jeden Tag etwas mehr Misstrauen auf der Arbeit gezeigt. Nach drei Wochen fühlten sich die Probanden emotional erschöpft und zogen sich in der Folge immer mehr von ihren Kollegen zurück.

Dabei blieb es aber nicht. Auch nach der Arbeit hatten die Personen, die mit viel Misstrauen konfrontiert waren, mit Problemen zu kämpfen. ...

https://karrierebibel.de/misstrauen/
Wenn ich richtig sehe, dann untersucht diese Studie genau die gestellte Frage, unter dem Aspekt des Misstrauens. Auf Dauer gestelltes Misstrauen hat also ernste negative Folgen für die betroffene Person. Läuft es darauf hinaus, dass die Anerkennung und die Achtung entzogen werden?

Fragt sich jetzt natürlich, wie die entsprechende Situation mit dem Gegenstück, dem Vertrauen aussieht. Ich schätze, dass eine normale Portion Vertrauen einfach zum Zusammenleben gehört. (Vertrauen als gesellschaftlicher Kit im Kleinen wie im Großen.) Und ein darüberhinausgehendes Vertrauen könnte gegebenenfalls auch zu einer Belastung werden. (Hängt vermutlich am Persönlichkeitstyp.)

Aber so ein Versuch liefert natürlich "nur" psychologisch/soziologisch/empirische Daten, philosophisch gesehen, müsste man jetzt versuchen das begriffliche Gerüst dazu zu finden. Mein Vorschlag - gleich zu Beginn des Fadens - passt zu der Untersuchungs Situation, dabei ging es mir um die Arbeitsteilung. Wir sind ja, jeder einzelne, strukturell Laien in fast allen Bereichen unserer Wirklichkeit. Und unser Zusammenspiel (passt zum Faden Hermeneutik!) kann nicht funktionieren ohne Vertrauen in die Anderen.

Das ist ja sicherlich auch einer der Gründe, warum es Internetseiten die RT DE gibt, deren Ziel es ist, mit gezielten Desinformationskampagnen das gegenseitige Misstrauen zu schüren.




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Di 27. Apr 2021, 09:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 27. Apr 2021, 06:37
... dabei ging es mir um die Arbeitsteilung. Wir sind ja, jeder einzelne, strukturell Laien in fast allen Bereichen unserer Wirklichkeit.
Aber das spiegelt nur einen Teil. Arbeitsteilung ist umfassender und bezieht sich nicht nur darauf, dass wir etwas nicht können/wissen, was andere können/wissen. "Ich schäl' die Kartoffeln und du hackst die Zwiebeln" ist ja auch eine Form von Arbeitsteilung und auch hier vertraut man darauf, dass der/die Andere ihren Job richtig macht. Und manches (bzw. ziemlich vieles) können wir alleine gar nicht bewältigen. In solchen Fällen ist "Vertrauen" sicher eine wichtige Zutat, wenn bestimmt auch nicht die Einzige.

-----------------------------------

Ich hab mal ein Experiment mit kleinen Affen gesehen, was (vielleicht?) hierher passt. Es ging dabei um einen vergleichsweise komplizierten Mechanismus. Am einen Ende eines Aufbaus musste man einen Hebel o.ä. umlegen, am anderen Ende wurden dann Bananen oder Trauben "freigegeben". Die Sache hatte jedoch einen Haken. Die Leckerli wurden nur für eine kurze Zeit freigegeben, dann wurden sie wieder für die Affen unerreichbar. Und: der Weg vom "Hebel" zur Belohnung war so lang, dass die Affen ihn nicht in dieser Zeit zurücklegen konnten.

Kleine Kinder hätten diesen Versuch bestanden. Eins hätte den Hebel umgelegt, das andere die Belohnung empfangen und dann hätte man geteilt. Doch trotz ihrer erstaunlichen Intelligenz, die sich darin zeigte, dass sie den Mechanismus ohne Einweisung eines Trainers (soweit ich mich entsinne) verstanden haben, sind die Affen auf diesen (für uns sehr einfachen) Trick nie gekommen. Sie haben versucht, das Tempo zu erhöhen, um doch rechtzeitig bei der Belohnung anzukommen - aber vergebens.




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Mi 28. Apr 2021, 06:55

Was hieße es eigentlich, sich selbst zu misstrauen?




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Mi 28. Apr 2021, 18:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 28. Apr 2021, 06:55
Was hieße es eigentlich, sich selbst zu misstrauen?
Dass der aktuelle Verstand dem allgemeinen (u.a.) zukünftigen, z.T. auch un(ter)bewusstem nicht traut.

Wenn ich mir Schokolade hinlege, misstraue ich mir, ob es mir misslingt, nur einen kleinen Teil von ihr auszuessen :)



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Mi 28. Apr 2021, 18:56

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Protect me from what i want, Jenny Holzer




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