Cancel Culture

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Alethos
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So 14. Mär 2021, 09:47

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture

Darf eine nichtschwarze, deutsche Frau ein Gedicht über Rassenungleichheit einer schwarzen, amerikanischen Frau übersetzen oder maßt sich erstere etwas an, weil sie sich erdreistet zu glauben, sich in die schwarze Autorin und die begriffsweltlichen Sensibilitäten ihres Gedichts einfühlen zu können? Darf die weisse Übersetzerin es überhaupt versuchen oder wäre schon allein der Versuch einer Übersetzung Ausdruck überheblichen Verhaltens einer Ethnie gegenüber der anderen?

Darf man als Frau sagen, dass eine Transfrau keine Frau im eigentlichen Sinn sei, weil eine Transfrau eben eine transsexuelle Frau ist und keine biologische? Darf man solche Begriffe präzisieren, indem man dies von jenem unterscheidet, oder leistet man dadurch bereits einer Diskriminierung Vorschub?

Darf man aus Freundschaft zu einem
Rechtsextremen zu ihm stehen, auch, wenn man seine Gesinnung für komplett falsch hält, oder muss man als dessen Freund auch bestraft werden für die Freundschaft zu ihm?

Das sind Fragen, die uns heute beschäftigen und in Debatten über „Politische Korrektheit“ geführt werden. Was aber ist politisch korrekt? Was scheidet politische Meinungen in falsche und richtige? Und ist es moralisch korrekt, die supponiert falsche politische Meinung zu bestrafen und zu „canceln“?



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infinitum
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So 14. Mär 2021, 10:29

Alethos hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 09:47
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture

Darf man aus Freundschaft zu einem
Rechtsextremen zu ihm stehen, auch, wenn man seine Gesinnung für komplett falsch hält, oder muss man als dessen Freund auch bestraft werden für die Freundschaft zu ihm?
schwierig, wirklich schwierig. Moralisch gesehen, wohl eher weniger, aber es kommt darauf an, wie gut man befreundet ist. Eventuell sollte man durch diese Freundschaft versuchen, denjenigen darauf hinzuweisen, dass er eine falsche Richtung verfolgt. Obwohl ich ja nichts von Belehrungen halte, wäre in so einem Fall das die einzige Möglichkeit für den Rechtsextremen mit Nicht-Rechtsextremen zu sprechen, da er sonst von seinem Umfeld manipuliert wird, abgeschottet wird und immer mehr in diese Schiene hineinfällt und den Blick verliert.
Alethos hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 09:47
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture
Darf eine nichtschwarze, deutsche Frau ein Gedicht über Rassenungleichheit einer schwarzen, amerikanischen Frau übersetzen oder maßt sich erstere etwas an, weil sie sich erdreistet zu glauben, sich in die schwarze Autorin und die begriffsweltlichen Sensibilitäten ihres Gedichts einfühlen zu können? Darf die weisse Übersetzerin es überhaupt versuchen oder wäre schon allein der Versuch einer Übersetzung Ausdruck überheblichen Verhaltens einer Ethnie gegenüber der anderen?
ich würde sagen: ja. Die nichtschwarze Frau verfügt eventuell nicht über die Erfahrungen der schwarzen, aber der Versuch diese zu verstehen und einfühlen zu wollen, finde ich persönlich gut. Es ist eher ein Schritt in die Richtung für ein gegenseitiges Verständnis. Auch in die andere Richtung fände ich die Idee sinnvoll. Daraus kann sich eventuell ein Gespräch ergeben, damit die Differenzen der Kulturen verstanden und überwunden (?) werden können. Auch verstehe ich, dass es nicht einfach ist und dass dies für Zündstoff sorgt, wenn falsche Interpretationen dazu kommen, aber ein Anfang wäre es doch.



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Alethos
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So 14. Mär 2021, 10:39

Ist ein Rechtsextremer nur Rechtsextremer? Eine weisse Frau nur unter dem Aspekt ihres Weissseins und eine schwarze Frau nurnunter dem Aspket ihres Schwarzseins begreifbar? Was bedeutet Identitätspolitik?



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iselilja
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So 14. Mär 2021, 10:43

transfinitum hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 10:29

schwierig, wirklich schwierig. Moralisch gesehen, wohl eher weniger, aber es kommt darauf an, wie gut man befreundet ist. Eventuell sollte man durch diese Freundschaft versuchen, denjenigen darauf hinzuweisen, dass er eine falsche Richtung verfolgt. Obwohl ich ja nichts von Belehrungen halte, wäre in so einem Fall das die einzige Möglichkeit für den Rechtsextremen mit Nicht-Rechtsextremen zu sprechen, da er sonst von seinem Umfeld manipuliert wird, abgeschottet wird und immer mehr in diese Schiene hineinfällt und den Blick verliert.
Das ist es. Ich erlebe es bspw. jeden Tag auf Arbeit. Dort sind ein zwei Leute, mit denem man Pferde stehlen könnte, die im großen und ganzen einen durchaus zivilisierten Eindruck machen und auch sonst sich recht gut in den sozialen Bezügen zu anderen zeigen. Nur ihre politische Meinung gehts leider ins Extreme. Wie gehe ich mit diesen Menschen um, mit denen ich mich außerhalb politischer Thematik gut verstehe? Das ist schwierig.

Einerseits liegen mir immer Korrekturen ihrer Ansicht auf der Zunge, aber ich kann sie nicht permanent ansprechen, weil das zu sozialem Unfrieden führen würde.




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infinitum
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So 14. Mär 2021, 12:30

Alethos hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 10:39
Ist ein Rechtsextremer nur Rechtsextremer? Eine weisse Frau nur unter dem Aspekt ihres Weissseins und eine schwarze Frau nurnunter dem Aspket ihres Schwarzseins begreifbar? Was bedeutet Identitätspolitik?
eben nicht, es ist nur ein Aspekt dieser Person. Auf anderen Ebenen kann er bestimmt viele andere Sichtweisen haben, die mit einem selbst übereinstimmen und die auch nicht ins Extreme gehen.
Ich hatte vor einigen Jahren einmal eine Kollegin, mit der ich sehr gute Gespräche führen konnte und die wirklich sehr freundlich zu mir war und die ich sehr mochte. Sie hatte keine anderen Kontakte auf der Arbeit, was mich doch wunderte, da sie sehr gebildet und zuvorkommend war. Irgendwann erfuhr ich, dass sie als zweiten Beruf für die AFD im Vorstand (oder sowas) arbeitete und erfuhr auch, dass dies alle anderen Kollegen außer mir schon wussten. Nun konnte ich verstehen, dass sie förmlich ausgegrenzt wurde. Damals habe ich mich weiterhin normal verhalten und sie nicht gemieden. Aber da ich in einem Institut arbeite, bei dem so eine Ansicht ein richtiges Problem darstellt, habe ich mitbekommen, wie es bald studentische Proteste mit Postern ähnlichem gab, um sie bloßzustellen. Leider konnte die Geschäftsführung dies nicht mehr tolerieren und sie musste gekündigt werden.



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Burkart
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So 14. Mär 2021, 13:48

Alethos hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 09:47
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture

Darf eine nichtschwarze, deutsche Frau ein Gedicht über Rassenungleichheit einer schwarzen, amerikanischen Frau übersetzen oder maßt sich erstere etwas an, weil sie sich erdreistet zu glauben, sich in die schwarze Autorin und die begriffsweltlichen Sensibilitäten ihres Gedichts einfühlen zu können? Darf die weisse Übersetzerin es überhaupt versuchen oder wäre schon allein der Versuch einer Übersetzung Ausdruck überheblichen Verhaltens einer Ethnie gegenüber der anderen?

Darf man als Frau sagen, dass eine Transfrau keine Frau im eigentlichen Sinn sei, weil eine Transfrau eben eine transsexuelle Frau ist und keine biologische? Darf man solche Begriffe präzisieren, indem man dies von jenem unterscheidet, oder leistet man dadurch bereits einer Diskriminierung Vorschub?

Darf man aus Freundschaft zu einem
Rechtsextremen zu ihm stehen, auch, wenn man seine Gesinnung für komplett falsch hält, oder muss man als dessen Freund auch bestraft werden für die Freundschaft zu ihm?

Das sind Fragen, die uns heute beschäftigen und in Debatten über „Politische Korrektheit“ geführt werden. Was aber ist politisch korrekt? Was scheidet politische Meinungen in falsche und richtige? Und ist es moralisch korrekt, die supponiert falsche politische Meinung zu bestrafen und zu „canceln“?
Ich finde es grundsätzlich falsch, dass immer mehr Sprache moralisch verboten werden soll, weil sich irgendeine Gruppe angegriffen fühlt.
Soll ich mich auch angriffen fühlen, wenn es um große Menschen geht und ich meine 2,06 m als Nachteil sehe und mich halt deshalb angegriffen fühle?

Übrigens bat eine gewisse schwarze, amerikanische Frau darum, dass sie von einer weißen übersetzen werden solle, das nur so nebenbei (gerade heute im Presseclub gehört).

Wenn z.B. Audi ihren Mitarbeitern vorschreiben will, dass sie gefälligst zu gendern haben, ist für mich Audi ein krasses schlechtes Beispiel; die Leute kann ich nur bedauern.

Wenn du wegen der Freundschaft zu einem Rechtsextremen o.ä. Nachteile siehst, finde ich das nur traurig (für unsere Gesellschaft u.ä.); das erinnert mich ans 3. Reich (Kontakt zu Juden) - alles sind doch einfach primär Menschen. Ähnlich ist es in der Türkei mit Erdogans Verfolgungen (hm, länger nichts mehr davon gehört) oder Russland unter Putin oder sicher auch China (z.B. zu Hongkong).



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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iselilja
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So 14. Mär 2021, 14:48

Burkart hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 13:48
Ähnlich ist es in der Türkei mit Erdogans Verfolgungen (hm, länger nichts mehr davon gehört) [...]
Ich stimme Dir in dem was Du schreibst weitgehend zu, aber der Punkt mit der Türkei scheint mir ein wenig anders gelagert zu sein. Immerhin ging es um einen Putsch von irgendwelchen Hinterleuten, die eigentlich niemand so recht lokalisieren kann. Erdogan jedenfalls glaubt, dass sein alter "Weggefährte" dahintersteckt. Wie dem auch sei.. die ganze Welt hat an dem Tag gesehen, was für ein Staat dort entstanden wäre, wäre der Putsch geglückt. Sie hatten offenbar keinerlei Skrupel auf Zivilisten zu schießen. Wie Karnickel auf der Bosporus-Brücke abgeknallt. Das Parlament, in dem sich noch Personen befanden, bombardiert. Was sind das für Menschen? Und vor allem, warum interessieren solche Fragen hier niemanden?

Vielleicht deshalb nicht, weil der Putsch endgültig gescheitert ist, den man sich hierzulande (so jedenfalls mein EIndruck) herbeigewünscht, wenn nicht sogar unterstützt hatte.




Burkart
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So 14. Mär 2021, 16:40

iselilja hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 14:48
Burkart hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 13:48
Ähnlich ist es in der Türkei mit Erdogans Verfolgungen (hm, länger nichts mehr davon gehört) [...]
Ich stimme Dir in dem was Du schreibst weitgehend zu, aber der Punkt mit der Türkei scheint mir ein wenig anders gelagert zu sein. Immerhin ging es um einen Putsch von irgendwelchen Hinterleuten, die eigentlich niemand so recht lokalisieren kann. Erdogan jedenfalls glaubt, dass sein alter "Weggefährte" dahintersteckt. Wie dem auch sei.. die ganze Welt hat an dem Tag gesehen, was für ein Staat dort entstanden wäre, wäre der Putsch geglückt. Sie hatten offenbar keinerlei Skrupel auf Zivilisten zu schießen. Wie Karnickel auf der Bosporus-Brücke abgeknallt. Das Parlament, in dem sich noch Personen befanden, bombardiert. Was sind das für Menschen? Und vor allem, warum interessieren solche Fragen hier niemanden?

Vielleicht deshalb nicht, weil der Putsch endgültig gescheitert ist, den man sich hierzulande (so jedenfalls mein EIndruck) herbeigewünscht, wenn nicht sogar unterstützt hatte.
Ein Putsch als solcher kann gut, kann auch schlecht sein, siehe z.B. das misslungende Hitlerattentat (von Stauffenberg). Wenn ich sehe, wie Erdogan Landleute oder auch Journalisten einfach so wegsperren lässt, hätte ich mir die Alternative nach dem Putsch besser vorgestellt für die meisten Menschen.
Wer hatte denn da auf weg geschlossen? Das weiß ich nicht mehr. Aber wenn ich z.B. nach Weißrussland schaue oder Myanmar, dann wünschte ich mir, dass die Machthaber da erfolgreich geputscht werden.



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iselilja
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So 14. Mär 2021, 17:10

Burkart hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 16:40

Ein Putsch als solcher kann gut, kann auch schlecht sein, siehe z.B. das misslungende Hitlerattentat (von Stauffenberg). Wenn ich sehe, wie Erdogan Landleute oder auch Journalisten einfach so wegsperren lässt, hätte ich mir die Alternative nach dem Putsch besser vorgestellt für die meisten Menschen.
Wer hatte denn da auf weg geschlossen? Das weiß ich nicht mehr. Aber wenn ich z.B. nach Weißrussland schaue oder Myanmar, dann wünschte ich mir, dass die Machthaber da erfolgreich geputscht werden.
Mit Putschs und Revolutionen ist das immer so eine Sache. Aus der Ferne kann man es sich leicht leisten, Partei zu ergreifen. Am besten immer aus einer moralisierenden Perspektive. ;-)

Was man aber dabei fast nie sieht bzw. durchschaut sind die Ursachen und Hintergründe dessen. Und die Medien, die man so tagtäglich konsumiert, spielen DIE entscheidende Rolle, was man daran versteht und was nicht. Denn man ist ja nicht dabei, um sich ein Urteil selbst bilden zu können.

Tatsächlich passieren jede Stunde auf der Erde irgendwo Gräueltaten. Begangen von Menschen - guten Menschen für die einen, Bösewichten für die anderen. Und wer versucht die Dinge neutral zu betrachten, kommt so wie ich allzuoft und schnell unter die Räder der Moralisten, die ganz genau wissen, was der Fall ist. ;-)


Aber ich verstehe schon, was Du meinst. Wenn man irgendwo sowas wie ein Gewissen oder Gerechtigkeitssinn hat, kann man das was überall so passiert eigentlich nur verurteilen.




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AndreaH
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So 14. Mär 2021, 17:48

Alethos hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 09:47

Darf man aus Freundschaft zu einem
Rechtsextremen zu ihm stehen, auch, wenn man seine Gesinnung für komplett falsch hält, oder muss man als dessen Freund auch bestraft werden für die Freundschaft zu ihm?
Ja, ich denke das geht schon. Denn ich kann doch denjenigen mit seiner Einstellung/ Meinung akzeptieren.
Voraussetzung wäre wahrscheinlich das auch derjenige mich in meiner anderen Einstellungen /Meinung akzeptiert.

Damit kann man doch dann in anderen Bereichen und auf anderen Ebenen miteinander befreundet sein.




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So 14. Mär 2021, 17:48

Alethos hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 09:47
Was scheidet politische Meinungen in falsche und richtige?
Ich denke mal die Wahrheit.

Nur dauert es meist recht lange, bis sie ans Tageslicht kommt. Ob man in den 1990ern im ZDF so etwas hier

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinf ... n-100.html

ausgestrahlt hätte? Ist das überhaupt nur eine Frage der politischen Korrektheit? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass Politik ein dreckiges Geschäft ist - also das genaue Gegenteil von Philosophie.




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Stefanie
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So 14. Mär 2021, 21:21

Alethos
Darf eine nichtschwarze, deutsche Frau ein Gedicht über Rassenungleichheit einer schwarzen, amerikanischen Frau übersetzen oder maßt sich erstere etwas an, weil sie sich erdreistet zu glauben, sich in die schwarze Autorin und die begriffsweltlichen Sensibilitäten ihres Gedichts einfühlen zu können? Darf die weisse Übersetzerin es überhaupt versuchen oder wäre schon allein der Versuch einer Übersetzung Ausdruck überheblichen Verhaltens einer Ethnie gegenüber der anderen?
Das bezieht sich auf die aktuelle Diskussion über die Übersetzung der Werke von Amanda Gorman. In den Niederlanden ist die vorgesehene Übersetzerin nach Diskussion von dem Job zurückgetreten, der für das Katalanische vorgesehen Übersetzer wurde entlassen, für das Deutsche ist ein Frauen Trio vorgesehen, wenn ich nicht irre. Es rauscht bei diesem Thema gewaltig in den Medien.
Beispiel
https://www.deutschlandfunkkultur.de/st ... e_id=49342
Und die FAZ
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ ... 28967.html

Ein Punkt geht etwas unter, wie viel Mitsprache hat die Autorin? Sie hat sich bislang nicht geäussert wie sie es sieht.
Die niederländische Übersetzerin, selbst eine hochdekorierte junge Autorin, hat daraufhin ein Gedicht geschrieben.
Ich finde es schwierig und bin mir nicht sicher, weil ich nicht weiß, wie Amanda Gorman es sieht.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Stefanie
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So 14. Mär 2021, 21:32

Darf man als Frau sagen, dass eine Transfrau keine Frau im eigentlichen Sinn sei, weil eine Transfrau eben eine transsexuelle Frau ist und keine biologische? Darf man solche Begriffe präzisieren, indem man dies von jenem unterscheidet, oder leistet man dadurch bereits einer Diskriminierung Vorschub?
J.k.Rowling.
Ich halte die Äusserung unangemessen und falsch. Die Identität und das Selbstverständnis definiert sich nicht nur über das biologische Geschlecht. Davon mal abgesehen, scheint hinter dieser Aussage ein Frauenbild zu stecken, dass aus dem vorherigen Jahrhundert zu sein scheint.
Darf man aus Freundschaft zu einem
Rechtsextremen zu ihm stehen, auch, wenn man seine Gesinnung für komplett falsch hält, oder muss man als dessen Freund auch bestraft werden für die Freundschaft zu ihm?
Ich habe das für mich entschieden. Ich kann und will nicht mit jemanden befreundet sein, der dieses Gedankengut vertritt. Vielleicht versuche ich es, denjenigen zu überzeugen, aber wenn das nicht geht, geht es nicht. Die Unterschiede sind zu gross, als das überhaupt eine Freundschaft entstehen kann bzw. bestehen kann.



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sokrates_is_alive
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Mi 17. Mär 2021, 19:39

Stefanie hat geschrieben :
So 14. Mär 2021, 21:21
Alethos
Darf eine nichtschwarze, deutsche Frau ein Gedicht über Rassenungleichheit einer schwarzen, amerikanischen Frau übersetzen oder maßt sich erstere etwas an, weil sie sich erdreistet zu glauben, sich in die schwarze Autorin und die begriffsweltlichen Sensibilitäten ihres Gedichts einfühlen zu können? Darf die weisse Übersetzerin es überhaupt versuchen oder wäre schon allein der Versuch einer Übersetzung Ausdruck überheblichen Verhaltens einer Ethnie gegenüber der anderen?
Das bezieht sich auf die aktuelle Diskussion über die Übersetzung der Werke von Amanda Gorman. In den Niederlanden ist die vorgesehene Übersetzerin nach Diskussion von dem Job zurückgetreten, der für das Katalanische vorgesehen Übersetzer wurde entlassen, für das Deutsche ist ein Frauen Trio vorgesehen, wenn ich nicht irre. Es rauscht bei diesem Thema gewaltig in den Medien.
Beispiel
https://www.deutschlandfunkkultur.de/st ... e_id=49342
Und die FAZ
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ ... 28967.html

Ein Punkt geht etwas unter, wie viel Mitsprache hat die Autorin? Sie hat sich bislang nicht geäussert wie sie es sieht.
Die niederländische Übersetzerin, selbst eine hochdekorierte junge Autorin, hat daraufhin ein Gedicht geschrieben.
Ich finde es schwierig und bin mir nicht sicher, weil ich nicht weiß, wie Amanda Gorman es sieht.
Ich halte die Diskussion eher für eine Scheindiskussion, denn keine Übersetzung wird jemals eine Detailgleichheit bis ins letzte Wort erreichen,
sondern ist immer der Versuch einer Annäherung, die sprachlichen Duktus in seinem zeitlichen Kontext zu erfassen sucht
und das Konnotative (sowohl sprachlich als auch kulturell) zu berücksichtigen und zu transportieren versucht.
Die zur Schau getragene Aufregung tritt alle guten Übersetzer z.B. von Pablo Neruda einfach vors Schienenbein mit dem billigsten Argument:
Du bist keiner von uns und deshalb hast du keine Ahnung und du hast dich einfach nur rauszuhalten.

Zum Argument, nur jemand der den gleichen kulturellen, sozialen etc. Hintergrund hat, könne angemessen übersetzen: Was hat Amanda Gorman,
die Harvard Absolventin an authentischen Erfahrungen eines Bronx-Bewohners?
Was oder besser wer hat sie zu einem Sprachrohr der afro-amerikanischen Amerikaner gemacht bei diesem Hintergrund:
Gorman attended New Roads, a private school in Santa Monica, for grades K–12. As a senior, she received a Milken Family Foundation
college scholarship. She studied sociology at Harvard College, graduating cum laude in 2020 as a member of Phi Beta Kappa.
In 2019, Gorman spent a semester studying in Madrid, Spain, supported by IES Abroad."(https://en.wikipedia.org/wiki/Amanda_Gorman)
Mladen Gladić hat in der Welt zurecht zugespitzt gefragt: "Amanda Gorman, wollen Sie Poetin oder Kampagnengesicht sein?"
(https://www.welt.de/kultur/plus22791937 ... -sein.html)
Ich würde noch boshafter formulieren: Wollen Sie verändern oder ein weiteres Feigenblatt für die Mächtigen sein?

Nach meiner Meinung sind wir mal wieder einer wunderschönen Inszenierung des Polittheaters auf dem Leim gegangen.
Ferner: "Her inauguration poem generated international acclaim, and shortly thereafter, two of her books achieved best-seller status,
and she obtained a professional management contract." (https://en.wikipedia.org/wiki/Amanda_Gorman)
Und zu guter Letzt aus 2017: "America’s First Youth Poet Laureate Also Wants to Run For President In 2036! "
(https://www.essence.com/culture/first-y ... president/) Diese Form von "Harvard"-Protest zahlt sich also durchaus aus.

Ich bin gespannt, ob ich Gorman je an der Spitze einer Demonstration sehe oder wie bisher nur an den Tischen der Mächtigen - das macht sich
gut für eine Hillary Clinton, die ansonsten alles verraten hat, was Demokraten wie Bernie Sanders erreichen wollten, und man schläft dann auch
viel ruhiger in Beverly Hills und Hollywood.



"Der Teufel ist ein Optimist. Er glaubt, er könnte die Menschen schlechter machen." (nach Karl Kraus) :roll:

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iselilja
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Mi 17. Mär 2021, 21:54

sokrates_is_alive hat geschrieben :
Mi 17. Mär 2021, 19:39

Ich halte die Diskussion eher für eine Scheindiskussion, denn keine Übersetzung wird jemals eine Detailgleichheit bis ins letzte Wort erreichen,
sondern ist immer der Versuch einer Annäherung, die sprachlichen Duktus in seinem zeitlichen Kontext zu erfassen sucht
und das Konnotative (sowohl sprachlich als auch kulturell) zu berücksichtigen und zu transportieren versucht.
Damit hast Du aus rein sprachlich-grammtikalischer Perspektive natürlich recht. Das philologische Problem ist bekannt.

Es geht m.E. dabei aber auch um etwas anderes. Nämlich die Erfahrung die mit Kolonisation, Sklaverei oder auch Missionierung offenbar wurde. Nämlich dass Sprache auch indoktrinieren kann. Wenn es also der schwarzen Autorin um Authentizität bspw. ginge, wäre so eine Fragestellung durchaus angebracht. Was ihre Beantwortung aber nicht leichter macht. :-)




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Do 18. Mär 2021, 08:31

sokrates_is_alive hat geschrieben :
Mi 17. Mär 2021, 19:39

Mladen Gladić hat in der Welt zurecht zugespitzt gefragt: "Amanda Gorman, wollen Sie Poetin oder Kampagnengesicht sein?"
(https://www.welt.de/kultur/plus22791937 ... -sein.html)
Ich würde noch boshafter formulieren: Wollen Sie verändern oder ein weiteres Feigenblatt für die Mächtigen sein?
Ach, so boshaft ist es doch gar nicht, eher auf den Punkt gebracht.
sokrates_is_alive hat geschrieben :
Mi 17. Mär 2021, 19:39
Nach meiner Meinung sind wir mal wieder einer wunderschönen Inszenierung des Polittheaters auf dem Leim gegangen.
Wir sollten dieser geradezu perfekten Inszenierung auf den Leim gehen, wer es tat, ist selber Schuld.
Natürlich war es schon eine Wohltat, nach den Jahren der täglichen Dosis toxischen Trumpismus per Twitter...
dazu eine Augenweide in Prada... ach, war da noch was? Poesie?
Oh! Welch` dramatische Überzeichnung der dargebotenen Performance von 5 Minuten, 723 Wörter lang!
Eine junge Autorin bekommt einen großen Auftritt bei der Amtseinführung eines Präsidenten und dazu einen Agentur-Vertrag. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt... :roll:
Fortan beginnt eine beispiellose Vermarktung, die stellenweise an Absurdität kaum zu übertreffen ist.
Und hier meine ich ganz besonders die künstlich installierte Debatte über die (zukünftigen!) Übersetzungen und - mehr oder weniger - geeignete Übersetzer/innen. Sollte nicht zuerst das Werk selbst den/die Leser/Zuschauer überzeugen?
Mich überzeugt es nicht, so erfrischend ich diesen Auftritt auch fand! Offenbar soll sich niemand kritisch mit dem Werk befassen, denn kaum eine Feuilleton-Spalte traut sich eine fundierte Analyse der Zeilen. Dafür blumige Lobeshymnen weltweit, mit denen eine neue Ikone in den Dichter-Olymp gehoben wird.
Wie erfreulich ist da die Kritik von Melanie McDonagh, die schreibt: "Amanda Gorman wurde von einem schrecklichen Gedicht im Stich gelassen". https://www.spectator.co.uk/article/ama ... a-bad-poem
Dem möchte ich mich anschließen, denn ich finde darin hauptsächlich schrecklich viel Pathos.
Das Gedicht der abgelehnten holländischen Übersetzerin/Autorin überzeugt mich hingegen weitaus mehr.

Der ebenfalls von seinem Verlag als Übersetzer abgelehnte (jedoch bezahlte) Victor Obiols fasst die Problematik recht gut zusammen:
"Wenn ich eine Dichterin nicht übersetzen kann, weil sie eine Frau, schwarz und Amerikanerin im 21. Jahrhundert ist, kann ich auch Homer nicht übersetzen, weil ich kein Grieche aus dem 8. Jahrhundert vor Christus bin. Oder hätte Shakespeare nicht übersetzen können, weil ich kein Engländer aus dem 16. Jahrhundert bin."

Steffen Lüdke führte ein interessantes Interview mit ihm. https://www.spiegel.de/kultur/literatur ... 8def22a506
Jetzt dürfen wir uns sogar auf ein Jazz-Stück von Victor Obiols freuen.
Vielleicht beflügeln ja solche gesteuerten, inszenierten Kampagnen auch weiterhin die Kreativität der so oft vergessenen, dazu kaum gewürdigten Übersetzerinnen und Übersetzer?



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(Ф.М. Достоевский)

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Stefanie
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Do 18. Mär 2021, 14:29

Es geht nicht darum, ob das Gedicht schlecht, gut, pathetisch, die Begeisterung übertrieben, der Rummel überzogen, ob es einen im Original überzeugt oder nicht, sondern darum, wer das Gedicht übersetzt und wie.
Ich kann die Qualität erst überprüfen oder das Gedicht kann mich erst dann überzeugen (oder nicht) wenn es übersetzt wurde.



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iselilja
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Do 18. Mär 2021, 18:17

Stefanie hat geschrieben :
Do 18. Mär 2021, 14:29
Es geht nicht darum, ob das Gedicht schlecht, gut, pathetisch, die Begeisterung übertrieben, der Rummel überzogen, ob es einen im Original überzeugt oder nicht, sondern darum, wer das Gedicht übersetzt und wie.
Ich kann die Qualität erst überprüfen oder das Gedicht kann mich erst dann überzeugen (oder nicht) wenn es übersetzt wurde.
Wie kann man denn die Qualität prüfen, wenn man nicht den Text im Original versteht? Man müsste ihn also zuerst mal selbst übersetzen.

Die Frage ist nun.. darfst Du das oder darf es Dir jemand verweigern? Wenn es nur darum ginge wer den Text übersetzt, dann würde ich mich obiger Meinung anschließen, dass es Medienrummel ist, der vor allem für eines sorgen soll: Aufmerksamkeit.




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Stefanie
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Do 18. Mär 2021, 19:45

Sicher, ich kann locker und leicht ein Gedicht in Englisch übersetzen, wenn mein Englisch nur für Smalltalk ausreicht.

Mir geht es darum, dass nicht zwei Ebenen vermischt werden sollten, die der Ausgangsfrage und die Frage, welche Qualität die Gedichte haben.



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Do 18. Mär 2021, 19:52

Stefanie hat geschrieben :
Do 18. Mär 2021, 19:45
Sicher, ich kann locker und leicht ein Gedicht in Englisch übersetzen, wenn mein Englisch nur für Smalltalk ausreicht.

Mir geht es darum, dass nicht zwei Ebenen vermischt werden sollten, die der Ausgangsfrage und die Frage, welche Qualität die Gedichte haben.
Na dann tue es doch. Und lass dich von deinem eigenen Urteil überraschen. ;-)

Aber im Ernst.. welche Gründe wären denn "politisch korrekt" eine Übersetzung verbieten zu wollen? So einen Unsinn habe ich zuvor noch nie gehört.




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