Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Fr 22. Nov 2019, 15:30
Ich habe mir den letzten Tagen ein Video mit Harald Lesch und Wilhelm Vossenkuhl angesehen, in dem es um Fichte und Schelling ging. Da hat Lesch noch mal deutlich gemacht, dass wir - trotz allem Wissensfortschritt - immer noch nicht genau verstehen und erklären können, was Leben ist!
Das hört sich an, als wärst du darüber erleichtert. Ich sehe mich genötigt, hier mal eine Lanze für die Naturwissenschaftler zu brechen und etwas gerade zu rücken:
Viele haben eine nicht zutreffende Vorstellung von den Naturwissenschaftlern, woran die NW-er aber auch selbst einen Teil dazu beigetragen haben. Aufgabe der Physik ist: beobachten, messen, protokollieren und eine konsistente Theorie entwerfen; Aufgabe der Philosophie, diese zu interpretieren. Dazu benutzen die Physiker eine mittlerweile unglaublich komplexe Mathematik, nur mal als Beispiel: wenn man das Verhalten von Elementarteilchen beschreiben will, dann geht man folgendermaßen vor:
Zunächst werden die interessierenden Eigenschaften "mathematisiert"; dafür steht ein mathematischer Konfigurationsraum (der Hilbert-Raum) mit dem entsprechenden Werkzeug bereit: für die Energie ein Zustandsvektor, für die Dynamik ein unitärer Operator, für die Messgröße ein hermetischer Operator, für den Messwert ein reeller Eigenwert, und so weiter; es gibt im Hilbert-Raum unendlich viele Vektoren/Operatoren und zudem noch unendlich viele Unterräume. In diesem Gebäude bewegt sich der Physiker und ihm ist längst nicht mehr klar, welchen Bezug zur Realität die einzelnen Werkzeuge haben; ich würde es mal so ausdrücken:
Die Physiker holten sich die überaus attraktive Lady "Mathematik" in ihr Bett und die hat ihnen dermaßen den Kopf verdreht, dass sie wirklich nicht mehr zwischen der Realität und einem komplexen Zustandsvektor unterscheiden können. Um mit dieser Situation klar zu kommen, ziehen sie sich auf die einfachste Philosophie zurück: "shut up and calculate!" wie es einer mal formulierte: "Denk nicht drüber nach: definiere und rechne"! (etwas frei übersetzt). Diese Auffassung nennt sich Instrumentalismus: Physik ist nicht zuständig für Naturerklärung & Weltbild sondern nur ein Instrument, um korrekte Messergebnisse zu erzeugen. Diese Einstellung haben die meisten Physiker, aber einige sind eben auch Philosophen und wollen wissen, was hinter dem mathematischen Formalismus steckt, wollen wissen, wie der Kosmos "funktioniert".
Fragst du einen Instrumentalisten, was ein Elektron ist, wird er dir antworten: "ein Quantenobjekt, definiert durch Ladung und Spin." Punkt! Ein Philo-Physiker wird antworten: "Hol' dir 'ne Tasse Kaffee. Darüber müssen wir uns unterhalten!" Zu diesen würde ich mich zählen. Physik ist für mich kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um etwas über uns und den Kosmos zu erfahren - ein Mittel der Philosophie.
Was will ich damit sagen?
Wie in jedem Beruf gibt es solche und solche - und es gibt Vorurteile! Den Instrumentalisten verdanken wir das Image des "kalten" Wissenschaftlers, der alles auf physikalische Größen reduziert, damit er rechnen kann. Aber es gibt eben auch Wissenschaftler, deren Motiv die pure Neugierde ist, sie brennen darauf zu erfahren, wie die Welt und der Mensch beschaffen ist; und zu diesen würde ich zB Wolf Singer rechnen; ich habe einige Interviews und Diskussionsrunden mit ihm gesehen: er gehört zu den Philosophen! Und nur, weil er darauf brennt zu erfahren, wie Bewusstsein & unser Gehirn beschaffen sind, heißt das noch lange nicht, dass er keine Achtung vor dem Bewusstsein, dem Menschen und dem Leben hat! Ich habe von ihm sinngemäß den Satz gehört (und da stimme ich ihm voll & ganz zu):
"Wenn man sich so viel mit dem Menschen und seinem Gehirn befasst hat wie ich, kann man gar nicht anders, als zu der Einsicht zu kommen, wie unermesslich, außergewöhnlich und einzigartig der Mensch ist!"