Spürt man Freiheit? Spürt man Zwang?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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So 4. Mai 2025, 07:12

Stell dir vor, du lebst in einem autoritären System – und es fühlt sich für dich ganz normal an, als wärest du frei. Ist das möglich?

Stell dir vor, du lebst in einer freiheitlichen Gesellschaft – und empfindest dich trotzdem als unfrei. Kann das sein?

Wie sehr spüren wir die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben – am eigenen Körper, im Alltag, im Denken?




Burkart
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So 4. Mai 2025, 10:45

Frei zu sein ist immer relativ, wir haben immer unsere Unfreiheiten spätestens gegenüber den Rechten unseren Nächsten gegenüber.

Auch Freiheiten innerhalb von Staaten sind nicht einfach da bzw. gut oder aber nicht da bzw. schlecht. Die USA rühmt sich der Redefreiheit, während sie bei uns eingeschränkt ist zum Schutz z.B. gegen Hetze.
Jeder Mensch passt sich mehr oder weniger seinen (hier Freiheits-)Gegebenheiten an und versucht das beste daraus zu machen. Insofern kann sich jeder in einem gewissen Rahmen frei fühlen, während ihm trotzdem leicht die Grenzen der Freiheit klar sein können und sich jenseits dieser dann unfrei fühlt.

Das bezieht sich auch auf autoritäre Systeme. Hat jemand in ihm eine mächtige Position, mag sie ihm gefallen und er fühlt sich "frei genug". Wie viel solcher Macht dazu notwendig ist, mag individuell sehr verschieden sein. Oder er mag es, dass Andere Verantwortung übernehmen und sich selbst da raushalten kann - oder es ist ihm einfach nicht wichtig genug gegenüber anderen Aspekte seines Leben. Ich fürchte, dass Menschen ihre autoritäre Systeme nicht zwangsweise als schlecht ansehen müssen.
China ist wohl so ein Beispiel. Ich glaube nicht, dass die Mehrzahl der Chinesen sehr unglücklich mit ihrem Land sind. Laut World-Happiness-Report von 2023 steht China auf Platz 64 mit zunehmender Tendenz (2017 waren sie noch auf Platz 79) und damit z.B. nicht weit hinter den Demokratien Portugal, Südkorea und Griechenland auf den Plätzen 56 bis 58 (und weit vor der Türkei auf 106).



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Jörn Budesheim
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So 4. Mai 2025, 16:22

Burkart hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 10:45
wir haben immer unsere Unfreiheiten spätestens gegenüber den Rechten unseren Nächsten gegenüber.
Die Rechte der anderen zu achten, ist keine Form von Unfreiheit, sondern Freiheit.




Burkart
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Sa 10. Mai 2025, 09:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 16:22
Burkart hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 10:45
wir haben immer unsere Unfreiheiten spätestens gegenüber den Rechten unseren Nächsten gegenüber.
Die Rechte der anderen zu achten, ist keine Form von Unfreiheit, sondern Freiheit.
Freiheit für die anderen, klar.
Ok, ich schreibe dann wohl besser:
"wir haben immer unsere Ein- bzw. Beschränkungen unserer persönlichen Freiheit spätestens gegenüber den Rechten unseren Nächsten gegenüber."
...was ja auch völlig richtig, nur eben auch spürbar sein kann.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Jörn Budesheim
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Sa 10. Mai 2025, 09:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 07:12
Stell dir vor, du lebst in einem autoritären System – und es fühlt sich für dich ganz normal an, als wärest du frei. Ist das möglich?

Stell dir vor, du lebst in einer freiheitlichen Gesellschaft – und empfindest dich trotzdem als unfrei. Kann das sein?

Wie sehr spüren wir die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben – am eigenen Körper, im Alltag, im Denken?
Burkart hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 09:15
Freiheit für die anderen, klar.
Ok, ich schreibe dann wohl besser:
"wir haben immer unsere Ein- bzw. Beschränkungen unserer persönlichen Freiheit spätestens gegenüber den Rechten unseren Nächsten gegenüber."
...was ja auch völlig richtig, nur eben auch spürbar sein kann.

Mir ist nicht ganz klar, was du mit deinen Überlegungen zum Gesamtzusammenhang des Fadens ausdrücken willst.




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Mai 2025, 10:15

Ist es möglich, dass in einem autoritären System die Illusion von Freiheit entsteht – durch Gewöhnung, durch gezielte Propaganda, durch das Fehlen von Vergleichsmöglichkeiten? Könnte es sein, dass jemand, der nie erlebt hat, was wirkliche Freiheit bedeutet – etwa im Zugang zu freier, vielfältiger Presse, in der Bildung, in der Meinungsäußerung, in der freien Entfaltung eigener Lebensentwürfe, in einem Lebensgefühl der Freiheit –, das Bestehende für selbstverständlich hält, vielleicht sogar für richtig? Und ist denkbar, dass die Unfreiheit in solchen Fällen so tief in den Alltag eingelassen ist, dass man sie kaum noch oder gar nicht mehr bemerkt? Dass man innerhalb enger Grenzen lebt, ohne sie als solche wahrzunehmen?

(Ich für meinen Teil glaube nicht, dass das möglich ist.)




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Mai 2025, 11:03

Die Skizze für ein Argument für meine Position würde ungefähr so aussehen: Freiheit und Sinn hängen meines Erachtens eng zusammen. Wer frei ist, kann einen Sinn im Leben finden, indem er sich Dingen widmet, die er liebt. Ist die Freiheit eingeschränkt, ist der Sinn des Lebens eingeschränkt und das kann nicht ohne Folgen bleiben.




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Sa 10. Mai 2025, 11:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 16:22
Burkart hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 10:45
wir haben immer unsere Unfreiheiten spätestens gegenüber den Rechten unseren Nächsten gegenüber.
Die Rechte der anderen zu achten, ist keine Form von Unfreiheit, sondern Freiheit.
Das ist eine gewagte These, die ein paar verdeckte Prämissen enthält, die man nicht teilen muss. Du arbeitest mit einem stark normativ aufgeladenen Freiheitsbegriff, der voraussetzt, dass moralische oder rechtliche Selbstbindung per se Ausdruck von Freiheit sei. Damit blendest du aber aus, wie das Recht zustande gekommen ist – ob es demokratisch legitimiert wurde oder durch elitäre Machtprozesse. Das ist nicht nur politisch naiv, sondern konzeptuell problematisch, weil du eine normative Setzung (Rechte achten = Freiheit) als Selbstverständlichkeit präsentierst.

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 11:03
Die Skizze für ein Argument für meine Position würde ungefähr so aussehen: Freiheit und Sinn hängen meines Erachtens eng zusammen. Wer frei ist, kann einen Sinn im Leben finden, indem er sich Dingen widmet, die er liebt. Ist die Freiheit eingeschränkt, ist der Sinn des Lebens eingeschränkt und das kann nicht ohne Folgen bleiben.
Mit dieser Verbindung von Freiheit und Sinn verlagerst du die Diskussion zusätzlich auf eine existenzielle Ebene, ohne jede begriffliche Trennung. Natürlich kann Freiheit im subjektiven Sinn durchaus zur Sinnfindung beitragen – aber das rechtfertigt nicht, aus der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung eine moralische Pflicht zur Rechtstreue abzuleiten. Zwischen innerer Sinngebung und äußerer Freiheit im politischen oder rechtlichen Sinne besteht ein Zusammenhang, aber keine logische Identität.




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Mai 2025, 11:42

Pragmatix hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 11:28
eine moralische Pflicht zur Rechtstreue ab[...]leiten
Was genau meinst du damit? Auf was in meinem Text bezieht sich das?




Pragmatix
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Sa 10. Mai 2025, 12:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 11:42
Pragmatix hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 11:28
eine moralische Pflicht zur Rechtstreue ab[...]leiten
Was genau meinst du damit? Auf was in meinem Text bezieht sich das?
Auf deinen aphoristischen Satz. Der stellt keine bloße Beschreibung dar, sondern er enthält eine normative Umdeutung: Freiheit wird nicht mehr als Abwesenheit von Einschränkung verstanden (im klassischen, negativen Sinn), sondern als moralisch gebotene Selbstbindung – also als das Gute, das man tun soll, um wahrhaft frei zu sein. Damit verschmilzt dein Freiheitsbegriff mit einem Ideal einer sittlichen und/oder rechtsstaatlichen Ordnung. Das ist die verdeckte Prämisse: Du setzt das voraus, ohne zu klären, woher es kommt und wie es legitimiert ist. Diese begriffliche Aufladung ist das, was ich kritisch meine.




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Mai 2025, 13:27

Pragmatix hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 12:44
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 11:42
Pragmatix hat geschrieben :
Sa 10. Mai 2025, 11:28
eine moralische Pflicht zur Rechtstreue ab[...]leiten
Was genau meinst du damit? Auf was in meinem Text bezieht sich das?
Auf deinen aphoristischen Satz.
Den hier?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 16:22
Die Rechte der anderen zu achten, ist keine Form von Unfreiheit, sondern Freiheit.
Das war die Antwort auf das hier:
Burkart hat geschrieben :
So 4. Mai 2025, 10:45
Frei zu sein ist immer relativ, wir haben immer unsere Unfreiheiten spätestens gegenüber den Rechten unseren Nächsten gegenüber.
Ich habe hier eigentlich nichts anderes gemacht, als den Ball zurückzuspielen. Denn wenn wir die Rechte unserer Nächsten (be-)achten, dann handeln wir eben frei und nicht etwa unfrei.




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