Frieden in Europa

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Timberlake
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Mo 17. Mär 2025, 03:01

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Mär 2025, 14:42

Der vielleicht entscheidendste Punkt aber wird in diesen Zahlen überhaupt nicht erfasst: Trump.
.. völlig richtig ..
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Mär 2025, 15:34
Stimmt, solche Zahlen ohne Kontext sagen nicht viel, wenn ich beispielsweise eine Partie Schach beginne, dann habe ich in der Ausgangsstellung immer dieselbe Zahl der Figuren wie mein Gegner auf dem Brett; aber wenn man dann hört, dass mein Gegenüber ein Schachgroßmeister ist, dann stellen sich die Dinge plötzlich anders dar :)
Um dazu diese Schachanalogie zu bemühen. Davon, das wie in einer Partie Schach, auf der weißen Seite stets Verlass auf die weiße Dame ist, Schwarz, wie auch immer zu schlagen, kann bei Trump tatsächlich keine Rede sein. Gut möglich, dass er sich, als solches, also als "weiße Dame" selbst aus dem Spiel nimmt. Bliebe anschließend nur noch zu klären, ob dieser Verlust der weißen Dame, durch die restlichen Figuren kompensiert werden kann. Wurde doch die Schachpartie eben nicht mit in jener der Ausgangsstellung begonnen, wie bei einer Schachpartie üblich, und zwar mit immer derselben Zahl an Figuren an immer derselben Position auf beiden Seiten. Startete doch die schwarze und somit Putins Seite im Vergleich dazu ohne … ja was eigentlich … ohne Schwarze Dame, ohne einen oder zweier Türme, oder auch nur bloß mit einem fehlenden Bauern. Für den Fall, dass die schwarze Seite lediglich durch einen fehlenden Bauer unterlegen war, so würde durch den Totalausfall der "weißen Dame" Trump tatsächlich auf der Weißen Seite ein Bedarf dafür bestehen, diese Weiße Dame zu ersetzen. Beispielweise in dem man dafür auf der "weißen" europäischen Seite richtig viel Geld in die Hand nimmt.

Bliebe da eigentlich nur noch zu klären, ob "mein" Gegenüber ein Schachgroßmeister ist. Sicherlich könnte ein Schachgroßmeister auf der schwarzen und somit Putins Seite, den Bedarf an Schachfiguren, auf der weißen und somit europäischen Seite, noch mal erhöhen.

Wenn man sich dazu den Krieg in der Ukraine vergegenwärtigt, würde ich allerdings diesbezüglich Zweifel anmelden wollen.

de.statista.com hat geschrieben :
Ranking der schlagkräftigsten Armeen weltweit nach dem Global Firepower Index im Jahr 2025

Platz 1 USA
Platz 2 Russland
...
Platz 14 Deutschland
...
Platz 20 Ukraine
Zumindest gemäß dieser Platzierung. Danach stände vielmehr der Ukraine die Rolle der Schachgroßmeister zu.

welt.de hat geschrieben :
„Bundeswehr ist aktuell blanker als blank"
Geld, Soldaten, Waffen fehlen – ebenso ein Plan: So hinterlässt Boris Pistorius (SPD) die Bundeswehr.
Zumal wenn man bedenkt, dass Deutschlands Bundeswehr aktuell blanker als blank ist. Wie blank muss da erst die Ukraine sein, wenn sie im Global Firepower Index noch ganze 6Plätze hinter Deutschland liegt.
Quk hat geschrieben :
Sa 15. Mär 2025, 15:18
Die Zahlen wirken wie ein banales Quartett-Spiel für den Schulhof. Das ist eine Milchbubenrechnung.
Es sei denn "de.statista.com" ist da tatsächlich einer Milchbubenrechnung aufgesessen. Wohlgemerkt einer Milchbubenrechnung , wo Russland im Global Firepower Index Platz 2 belegt! . Das von daher ( Zahlen, die wirken wie ein banales Quartett-Spiel für den Schulhof ... Quk ) eine militärische Nachrüstung in Europa durchaus sinnvoll erscheint , will ich wohl meinen.




Wolfgang Endemann
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Mo 17. Mär 2025, 11:48

@ Burkart

Ich weiß, daß ich Bellizisten, derer es hier einige gibt, kaum überzeugen werde, ich schreibe für die Nachdenklichen, liefere Argumente, keine Beweise - die gibt es nicht. Pazifismus und Bellizismus sind tiefe Grundüberzeugungen, die sich kaum durch falsche oder richtige Aussagen ändern lassen. Der Pazifismus ist wie der Bellizismus keine Wahrheit, sondern eine regulative Idee, aber im Vergleich mit dem Bellizismus die vernünftigere Idee. Ich hätte nichts dagegen, sich einmal darüber zu streiten. Hier geht es um einen konkreten Fall. Man vergleicht die Haltung gegenüber Putin gerne mit der gegenüber Hitler. Ich halte das für eine abenteuerliche Verkürzung. Der Weltkrieg gegen Nazideutschland war wohl bei den militärischen Mitteln und mentalen Gegebenheiten unvermeidlich, nichtsdestotrotz ist selbst dieser Krieg aus dem zivilisatorischen Ruder gelaufen, der Atombombeneinsatz und die Zerstörung Dresdens waren üble Entgleisungen. Im Großen und Ganzen jedoch war das Kriegsgräuel unvermeidlich. Das ist für mich im Ukrainekonflikt nicht gegeben, und daher ist dieser Krieg von keiner Seite zu rechtfertigen. Die pazifistische Meinung ist eine kleine Minderheitenmeinung und hat keine Chance, sich durchzusetzen. Warum schreibe ich hier dennoch? In einigen Jahren wird man anders auf die verheerenden Folgen des Krieges blicken, und da wird es eine Rolle spielen, ob man sagen kann "das habe ich nicht gewußt", die Pazifisten haben das Debakel vorausgesehen. Ich weiß nicht, wie viel Erfahrungen noch nötig sind, daß man endlich lernt, aus Verantwortung Kriege zu vermeiden.

Ich habe eigentlich keine Lust mehr, diese Debatte fortzusetzen, die Argumente sind auf dem Tisch. Und wie gesagt, Einfluß hat das, was hier gesagt wird, ohnehin nicht. Nur kurz:
Sicher weiß ich, <dass es Putins Russland ist, das zum Frieden derzeit "Ja, aber" sagt>, so wie die Ukraine <ja, aber nicht ohne robuste Sicherheitsgarantien> sagt, zurecht sagt. Keiner will, daß nur temporär die Waffen schweigen, ohne daß sich etwas im Konflikt bewegt. Und ganz sicher sagt das Putin nicht, um Zeit zu gewinnen. Im Gegenteil, im Augenblick ist er in einer Position der Stärke, die Ukraine ist es, die im Moment den sofortigen Waffenstillstand, Zeit braucht, und ihn darum fordert (lieber wäre es der Ukraine gewesen, Amerika hätte den Kampf wie bisher oder stärker untertützt). Zeit, bis die Europäer die amerikanischen Waffenlieferungen ersetzen können. Ich zweifle keinen Moment daran, daß man den Krieg fortsetzen kann, bis Russland aufgeben muß, wenn die Chinesen nicht eingreifen (darauf würde ich mich allerdings nicht verlassen). Die Frage ist, will man den Preis dafür bezahlen und darf man das wollen? Die Amerikaner wollen nicht mehr und es ist die Frage, ob die Europäer alleine das können und durchhalten können. Und hier die Frage an die Bellizisten: Seid ihr sicher, daß ihr das könnt, und wollt ihr es?
Zu der Frage (wo hat England was sabotiert)? Hier habe ich mich falsch erinnert, es waren natürlich die Friedensverhandlungen in Istanbul, bei denen am Ende die Engländer ultimativ nein gesagt haben. Bei Minsk war es unsere Kanzlerin, die eingestanden hat, daß man aufgrund der damaligen drückenden Überlegenheit der von Moskau unterstützten Separatisten Minsk verabschieden mußte, um schlimmeres zu verhindern und Zeit zu gewinnen. England war ja überhaupt nicht daran beteiligt.




Pragmatix
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Mo 17. Mär 2025, 12:52

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 11:48
Die Frage ist, will man den Preis dafür bezahlen und darf man das wollen? Die Amerikaner wollen nicht mehr und es ist die Frage, ob die Europäer alleine das können und durchhalten können. Und hier die Frage an die Bellizisten: Seid ihr sicher, daß ihr das könnt, und wollt ihr es?
Also auch wenn ich diese Einteilung in Pazifisten und Bellizisten für falsch halte, die Gegenfrage lautet: Gibst du die Ukraine vollständig dran? Soll sie wie Belarus werden? Sollen dann Millionen Ukrainer de facto vertrieben werden, bloß damit Frieden herrscht? Oder welchen Preis muss die Ukraine nicht mehr akzeptieren? Und dann?

Ich weiß nicht, was Europa kann, ich traue ihm nach wie vor nichts zu. Ich weiß, dass die Ukraine schmerzhafte Gebietsverluste haben wird. Aber alles darüber hinaus, vielleicht mit Ausnahme der NATO-Mitgliedschaft, wäre Unterwerfung. Dann müssen die Pazifisten das aber auch sagen, wenn sie das meinen, wenn sie Frieden sagen.




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Consul
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Mo 17. Mär 2025, 16:14

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 11:48
…Das ist für mich im Ukrainekonflikt nicht gegeben, und daher ist dieser Krieg von keiner Seite zu rechtfertigen. Die pazifistische Meinung ist eine kleine Minderheitenmeinung und hat keine Chance, sich durchzusetzen.
Ein absoluter Pazifismus, der den angegriffenen Ukrainern das Recht auf militärische Selbstverteidigung abspricht, ist höchst unmoralisch.



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Jörn Budesheim
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Mo 17. Mär 2025, 16:22

Pragmatix hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 12:52
Also auch wenn ich diese Einteilung in Pazifisten und Bellizisten für falsch halte ...
Ein Bellizist ist ein "Kriegsbefürworter, Kriegstreiber". Jemand, der sich gegen Angriffe verteidigt, ist kein Kriegstreiber.




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Mo 17. Mär 2025, 16:32

Apropos Pazifismus, es gibt dazu einen informativen SEP-Artikel:

https://plato.stanford.edu/entries/pacifism/

https://plato-stanford-edu.translate.go ... r_pto=wapp (deutsche Übersetzung)

"Wir wollen Frieden!", rufen sie; doch es gibt nicht nur eine Art von Frieden:

"1.1 Frieden als Sklaverei oder Unterwerfung
1.2 Frieden als Modus Vivendi oder Waffenstillstand
1.3 Frieden einer gerechten und ruhigen Ordnung
1.4 Positiver Frieden
1.5 Frieden als Tugend und innerer Wert"

Der Frieden, den Putin anstrebt, ist der…
"Frieden als Sklaverei oder Unterwerfung

Frieden kann aus Unterwerfung unter die Macht entstehen; und Krieg kann mit bedingungsloser Kapitulation enden. Rousseau verunglimpfte diese Art von Frieden, indem er sie als „den Frieden von Odysseus und seinen Kameraden, gefangen in der Höhle des Zyklopen, die darauf warten, verschlungen zu werden“ (Rousseau 1917, 125) bezeichnete. Man könnte behaupten, dass absolute Herrschaft und absolute Unterwerfung eine Art von Frieden hervorbringen. Doch dieser Frieden ist mit Ungerechtigkeit verbunden. Daher ist es klar, dass der Frieden, der es wert ist, angestrebt zu werden, ein Frieden ist, der auch mit Gerechtigkeit verbunden ist. Die Idee der Gerechtigkeit ist der Kern der Tradition des gerechten Krieges, die besagt, dass wir das Recht haben, uns gegen Ungerechtigkeit zu wehren. Wie Patrick Henry in seiner berühmten Rede „Gib mir Freiheit oder gib mir Tod“ fragte: „Ist das Leben so teuer oder der Frieden so süß, dass man ihn mit Ketten und Sklaverei erkaufen sollte?“ Man könnte behaupten, der Frieden in der Höhle des Zyklopen sei gar kein Frieden, sondern ein Kriegszustand."

Quelle: Siehe oben!



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Quk
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Mo 17. Mär 2025, 16:46

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 11:48
Der Pazifismus ist wie der Bellizismus keine Wahrheit, sondern eine regulative Idee, aber im Vergleich mit dem Bellizismus die vernünftigere Idee.
Du hast Dich im Forum immer als Materialist bezeichnet. Nun redest Du nur noch von Ideen. Wenn ganz konkretes Bombenmaterial auf Dein Kopfmaterial fällt, wie weit schützt Dich da die Idee?




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Mo 17. Mär 2025, 16:49

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 16:22
Pragmatix hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 12:52
Also auch wenn ich diese Einteilung in Pazifisten und Bellizisten für falsch halte ...
Ein Bellizist ist ein "Kriegsbefürworter, Kriegstreiber". Jemand, der sich gegen Angriffe verteidigt, ist kein Kriegstreiber.
Ja, da besteht ein wichtiger Unterschied.
Der DUDEN definiert "Bellizismus" als "politische Haltung, die den Einsatz militärischer Mittel zur Durchsetzung von Zielen befürwortet".
Ein aggressiver/offensiver Bellizismus zur Erreichung expansionistisch-imperialistischer Ziele ist ethisch anders zu bewerten als ein defensiver Bellizismus.
(Die russische Propaganda stellt Putins Angriffskrieg als Verteidigungskrieg dar, aber das ist natürlich eine glatte Lüge.)



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Jörn Budesheim
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Mo 17. Mär 2025, 17:50

Consul hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 16:32
es gibt nicht nur eine Art von Frieden
Ich hatte weiter oben schon versucht, das mal zu einem Thema zu machen, also z.b den Unterschied zwischen positivem und negativem Frieden. Aber für manche "Argumentationen" ist es eben essentiell wichtig, solche Unterschiede zu verwischen. Ansonsten kann man ja nicht jemand, der sich verteidigt, zum Kriegstreiber abstempeln.




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Consul
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Mo 17. Mär 2025, 17:57

Consul hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 16:32
"Wir wollen Frieden!", rufen sie; doch es gibt nicht nur eine Art von Frieden:

"…
1.3 Frieden einer gerechten und ruhigen Ordnung
"Dem Frieden als Modus Vivendi steht das entgegen, was Aron „Frieden durch Zufriedenheit“ nennt (Aron 1966, 160 ff). Dieser Frieden entsteht aus dem Fehlen von Missständen und Feindseligkeiten. In der westlichen Geschichte wird diese Art von Frieden oft mit dem in Verbindung gebracht, was Augustinus die „Ruhe der Ordnung“ nannte (Augustinus 1958, Buch 19, Kapitel 13). Im neueren westlichen Denken folgt diese Idee oft Kant, der behauptet, die liberale Demokratie sei der Schlüssel zu einer solchen friedlichen Ordnung."

Quelle: https://plato-stanford-edu.translate.go ... r_pto=wapp (deutsche Übersetzung)

Wenn Putin eines nicht will, dann ist es Frieden im Sinn einer gerechten und ruhigen liberaldemokratischen Weltordnung.



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Burkart
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Mo 17. Mär 2025, 22:30

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mo 17. Mär 2025, 11:48
@ Burkart

Ich weiß, daß ich Bellizisten, derer es hier einige gibt, kaum überzeugen werde,
Wo kommt denn das Wort her? Dss hatte ich nie gehört.
Laut wikipedia heißt es "Kriegsverherrlichung", das tut hier keiner.
Wie schon Andere ungefähr meinten, möchte keiner Krieg, aber sich oder andere zu verteidigen, ist etwas anderes.
Nur Pazifismus-Bellizismus gegenüber zu stellen ist reine (letztlich furchtbare) Schwarz-Weiß-Malerei.
Man vergleicht die Haltung gegenüber Putin gerne mit der gegenüber Hitler. Ich halte das für eine abenteuerliche Verkürzung.
Wer ist "man"? Haben wir das hier?
Und ganz sicher sagt das Putin nicht, um Zeit zu gewinnen. Im Gegenteil, im Augenblick ist er in einer Position der Stärke,
Sieht du wirklich den Widerspruch nicht? Putin gewinnt Zeit, um seine Position der Stärke zu nutzen (auf Kosten weiterer Leben).



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Wolfgang Endemann
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Di 18. Mär 2025, 09:59

Die vielen engagierten, allerdings in meinen Augen nicht zielführenden, teilweise mich adressierenden Kommentare nehme ich zum Anlaß, wenigstens auf einige Unklarheiten, Mißverständnisse und Widersprüche hinzuweisen.

<Gibst du die Ukraine vollständig dran? Soll sie wie Belarus werden?> (Pragmatix)
Nur, wenn sie das will. Ich verstehe überhaupt nicht, wie man auf de Idee kommen kann, das den Pazifisten zu unterstellen.
<Sollen dann Millionen Ukrainer de facto vertrieben werden, bloß damit Frieden herrscht?>
Das sind sie schon, und das wird so oder so bleiben. Es sind ukrainischstämmige Ukrainer vertrieben wie russischstämmige, egal, wie man sich einigt, das Maximum der Ukrainer könnte zurückkehren in die Heimat, wenn die Ukraine geteilt wird in die jeweiligen Mehrheitsgebiete. Sollen denn die Ukrainer wieder in ihrer alten Heimat leben, um sich zu bekriegen?
Ich könnte hier ein mE pazifistisches Friedenskonzept vorlegen, spare mir das aber, da ich nicht erkennen kann, daß man sich ernsthaft damit auseinandersetzen würde.

<Ein absoluter Pazifismus, der den angegriffenen Ukrainern das Recht auf militärische Selbstverteidigung abspricht, ist höchst unmoralisch.> (Consul)
Nein. Ein absoluter Pazifismus ("Schlägst du mir auf die Backe, halte ich die andere hin") ist absolut weltfremd, so kann man vielleicht als Bettelmönch leben. Kein Pazifist wird das vorschlagen, er ist kein Quietist, sondern folgt einer Vision der vernunftbasierten gesellschaftlichen Organisation.

<Ein Bellizist ist ein "Kriegsbefürworter, Kriegstreiber". Jemand, der sich gegen Angriffe verteidigt, ist kein Kriegstreiber.> (Jörn Budesheim)
Das ist zu ungenau formuliert. Ein Bellizist ist jemand, der der Meinung ist, daß es legitim und geboten ist, zum Mittel des Krieges zu greifen, wenn man sein Ziel nicht anders erreichen kann. Für einen Pazifisten ist ausschließlich Notwehr ein Rechtfertigungsgrund für Töten und das organisierte Töten, Krieg. Ich muß mich sogar verteidigen, aber meine Handlungen müssen auch tatsächlich zur Verteidigung, zum Schutz von Leben führen und verhältnismäßig sein (also nicht wie für die Israelis: ich töte 10 Palästinenser, wenn ich einen Israeli retten kann).
Um das Ukrainebeispiel zu nehmen: Hochrüstung über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung hinaus und die Mitgliedschaft in einem aggressiven Militärbündnis sind keine Notwehrmaßnahmen. Ohne sie und die Bereitschaft, im eigenen Land zur Waffe gegen Mitbürger zu greifen, wäre es nicht zum Krieg gekommen.
Und ist der Kriegsfall eingetreten, ist Bellizist derjenige, der keine Anstrengungen unternimmt, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden. In diesem Sinn sind Pazifist und Bellizist komplementäre Begriffe.

<Wenn ganz konkretes Bombenmaterial auf Dein Kopfmaterial fällt, wie weit schützt Dich da die Idee?> (Quk)
Wenn ganz konkretes Bombenmaterial auf Dein Kopfmaterial fällt, wie weit schützt Dich da
die Idee der nationalen Souveränität? Den Pazifisten schützen die Anstrengungen zum Frieden, bevor die Bomben fallen. Natürlich nicht immer, und dann brauchen wir einen zusätzlichen Schutz. Aber der Verzicht auf solche Anstrengungen zum Frieden macht das Fallen der Bomben wahrscheinlicher und gewährt darum weniger Schutz. Es ist immer die gleiche Rechtfertigung des Verzichts auf Pazifismus durch die Bereitstellung von Waffen. Das erhöht die Sicherheit nur bis zu einem minimalen Grad einer militärischen Verteidigungsbereitschaft, darüberhinaus muß ein Interessensausgleich die Sicherheit erhöhen. Das ist der Materialismus der Realpolitik, der notwendig ist, weil die Welt kein idealistisches Wunschkonzert ist. Realismus und Idealismus müssen ineinander verwoben sein. Das eine ohne das andere ist katastrophal, Zynismus oder wirkungslose Magie.

<Der DUDEN definiert "Bellizismus" als "politische Haltung, die den Einsatz militärischer Mittel zur Durchsetzung von Zielen befürwortet".
Ein aggressiver/offensiver Bellizismus zur Erreichung expansionistisch-imperialistischer Ziele ist ethisch anders zu bewerten als ein defensiver Bellizismus.> (Consul)
Der Duden ist hier korrekt.
Ohne daß ihn das rechtfertigt, ist allerdings Putins Krieg zu einem gewissen Grad ein Verteidigungskrieg (gegen den Westen) und der Verteidigungskrieg der Ukraine kein konsequenter Krieg zur Vermeidung von Menschenopfern, sondern auch zur Durchsetzung eines politischen Willens, ein Krieg für eine Idee, also keine Notwehr. Pazifismus wäre die Beschränkung dieser Geltendmachung einer Idee auf friedliche Durchsetzungsmittel. Ich bringe hier sinnloserweise immer wieder den Gedanken der Verantwortungsethik - das kann von manchen einfach nicht gedacht werden.
<Wenn Putin eines nicht will, dann ist es Frieden im Sinn einer gerechten und ruhigen liberaldemokratischen Weltordnung.>
Die liberaldemokratische Weltordnung ist so unvollkommen, daß sie nicht zustande gekommen ist und in den liberaldemokratischen Ländern selbst immer mehr infrage gestellt wird. Nicht aus den richtigen Gründen, aber weil sie durchaus nicht als "gerecht und ruhig" empfunden wird. Die Propagandisten dieser Weltordnung freilich kennen nur den Frieden im Sinne dieser Weltordnung.

<Nur Pazifismus-Bellizismus gegenüber zu stellen ist reine (letztlich furchtbare) Schwarz-Weiß-Malerei.> (Burkart)
Nicht ich betreibe dieses Schwarz-Weiß, sondern die, die sagen, mit Putin kann man nicht verhandeln. Sie bestehen auf dem Schwarz-Weiß: Krieg bis zum Sieg vs. Unterwerfung. Der Pazifismus weiß nicht, ob er erfolgreich sein kann, er versucht es. Der Bellizismus meint zu wissen, daß Frieden ohne militärischen Sieg, zumindest Dominanz zu einem Diktat, also Unterwerfung der anderen Seite, nicht möglich ist.




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Di 18. Mär 2025, 10:14

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Di 18. Mär 2025, 09:59
Ohne daß ihn das rechtfertigt, ist allerdings Putins Krieg zu einem gewissen Grad ein Verteidigungskrieg (gegen den Westen) und der Verteidigungskrieg ...
Was soll das sonst sein, als eine Rechtfertigung? Zu sagen, dass sich jemand verteidigt, liefert eine Rechtfertigung. Damit übernimmt man im Übrigen Pi mal Daumen die "Argumentation" Putins. "Schuld am Einmarsch in der Ukraine ist der Westen - das betonte Russlands Präsident Putin." tagesschau.de Das ist - worauf weiter oben schon wiederholt hingewiesen wurde - eine typische Täter-Opfer-Umkehr.




Wolfgang Endemann
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Di 18. Mär 2025, 11:44

Für Dich ist vielleicht alles moralisch. Ich unterscheide zwischen Motivation und Rechtfertigung. Wobei selbstverständlich die Motivation eine zutreffende oder unzutreffende Rechtfertigung er-/enthalten kann.




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Di 18. Mär 2025, 11:46

PS. Das Verstehen einer Motivation heißt nicht, daß man sie rechtfertigt.




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Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Di 18. Mär 2025, 09:59
Ohne daß ihn das rechtfertigt, ist allerdings Putins Krieg zu einem gewissen Grad ein Verteidigungskrieg (gegen den Westen) ... [von mir hervorgehoben]
Du hast aber nicht geschrieben, dass Putin womöglich meint einen Verteidigungskrieg zu führen. Du schreibst stattdessen, dass er tatsächlich (bis einem gewissen Grad) einen Verteidigungskrieg führt. Das ist ein riesiger Unterschied. Im ersten Fall rechtfertigst du sein Handeln, im zweiten erläuterst du bloß seine Motive.




Wolfgang Endemann
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Di 18. Mär 2025, 13:18

Mit "zu einem gewissen Grad" drücke ich eine gewisse Nachvollziehbarkeit der Motivation aus. Das ist dann ein bißchen Rechtfertigung, ich sage ja immer, es gibt kaum 0 und 1. Eine 0,1 gerechtfertigte Motivation ist keine Zustimmung. Wenn Du alle meine Kommentare gelesen hast, müßtest Du wissen, daß ich nirgendwo sage, daß der Angriffskrieg Putins gerechtfertigt ist. Schon eine 0,4 Rechtfertigung ist eine 0,6 Mißbilligung. Wenn ich es insgesamt bewerten muß, das tue ich ja manchmal explizit, nenne auch ich Putins Vorgehen ein Kriegsverbrechen. Nur fehlt mir das Vermögen, das zu verteufeln angesichts der allseitigen Verstrickungen in Kriegsverbrechen. Auch das Bombardieren von Sanaa der Amerikaner ist ein Kriegsverbrechen. Es ist praktisch fast unmöglich, militärisch vorzugehen, ohne zivile Opfer zu produzieren, die machen aber sehr schnell jedes militärische Vorgehen zum Verbrechen. Andrerseits gibt es den eingeschränkten geopolitischen Blickwinkel. Machtpolitisch kann man ein aktives militärisches Handeln (also bspw einen Angriffskrieg oder einen Präventivschlag) rechtfertigen. Ich vertrete allerdings keinen geopolitischen Standpunkt, nur erkenne ich realpolitische Gegebenheiten an. Die dabei ins Spiel kommenden Motivationen muß man anerkennen, wenn man auf sie Einfluß nehmen will. Nur wenn ich Putins Motivation verstanden habe und insoweit anerkenne, kann ich vielleicht die Einstellung verändern, kann ich zur Suche nach einer rationaleren Lösung des der Motivation zugrundeliegenden Problems kommen. Das ist der intelligente pazifistische Ansatz zur Problemlösung, die dumme Lösung ist, sie dem Krieg zu überlassen, dh der Destruktion, bei der die stärkere Seite am Ende gewinnt, die wird dann, wenn alles in Schutt und Asche liegt, behaupten, daß das Gute, die Wahrheit gesiegt hat, das ist aber falsch, denn auch wenn die gute Seite gewinnt, hat in Wahrheit nur die stärkere Seite gewonnen. Das kst immer statt Stärke des Rechts das Recht des Stärkeren. Wobei noch gar nicht berücksichtigt ist, daß bei Beteiligung der großen Atommächte mit overkill-Kapazitäten der Sieg einer Seite kaum vorstellbar ist.
So, das ist mein letzter Kommentar zu diesem Komplex, ich habe keine Lust, mich endlos zu wiederholen.




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Di 18. Mär 2025, 13:38

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Di 18. Mär 2025, 13:18
Putins Vorgehen [ist] ein Kriegsverbrechen. Nur fehlt mir das Vermögen, das zu verteufeln angesichts der allseitigen Verstrickungen in Kriegsverbrechen
Was für eine Logik. Kriegsverbrechen muss man nicht verteufeln, sie sind das, was sie sind: grausame Verbrechen.




Wolfgang Endemann
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Di 18. Mär 2025, 13:46

Eines möchte ich noch nachtragen. Es wurde hier geschrieben: "Der wahre Weg zum Frieden ist der vollständige Rückzug der russischen Streitkräfte hinter die international anerkannten Grenzen der Ukraine und die völlige Abkehr von der aggressiven Politik Russlands."

Das klingt gut, ist aber tatsächlich ein einfältiges Argument. Selbstverständlich sollten alle von aggressiver Politik abrücken, die aggressiveren mehr als die moderateren. Das Argument behauptet jedoch von vornherein, daß überhaupt kein Konflikt vorlag, daß Putin ohne Grund resp nur mit dem Grund, eine gerechte Ordnung zu Fall zu bringen, das Kriegsgeschäft initiiert hat. Das ist naiv, der Konlikt lag vor und läge bei vollständiger Reversibilität der Geschichtsverlaufs erneut vor, nach dem Krieg wäre vor dem Krieg. Es ist die westliche Märchenerzählung von der guten Vorkriegsordnung, die durch den Schurken gestört wurde. Tatsächlich ist das historische Geschehen immer irreversibel, es muß gegebenenfalls ein Neuanfang gemacht werden. Der Unterschied ist, die Lösung nach dem Krieg ist viel schwieriger als wenn man das ursprüngliche Problem gelöst hätte.




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Di 18. Mär 2025, 14:23

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Di 18. Mär 2025, 13:18
Nur wenn ich Putins Motivation verstanden habe und insoweit anerkenne, kann ich vielleicht die Einstellung verändern, kann ich zur Suche nach einer rationaleren Lösung des der Motivation zugrundeliegenden Problems kommen.
Das ist nicht richtig. Man kann eine Motivation nachvollziehen, ohne sie anzuerkennen. Viele verbrecherische Motive können wir verstehen/nachvollziehen und sie dennoch zu Recht verurteilen. Man kann auch bei Gesprächen das Großmachtstreben eines Autokraten in Rechnung stellen, ohne es zu billigen.




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