Radikaler Universalismus/Selbstdenken

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Stefanie
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Do 18. Apr 2024, 17:14

Der Philosoph Omri Boehm vertritt einen sog. Radikalen Universalismus.

Nur was meint er damit?
Zu seinem Buch über dieses Thema hat Herr Scobel ein Video veröffentlicht.



Er beginnt sein Video mit der Einleitung:
Gibt es so etwas wie Gesetze oder Vorstellungen von Gerechtigkeit die für alle Kulturen gelten für Menschen gleich welcher Herkunft, Lebensweise, Geschichte und gelten diese universalen regeln dann unabhängig von der Zeit oder ihre Identität für alle Menschen gleichermaßen?

Mir gefällt seine Idee und wie er Kant auslegt. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das so funktioniert.

Ich habe ein weiteres Tool ausprobiert und das Gesprochene in einen Text verwandelt. Es gibt auch eine hübsche PDF Datei, aber erneut weigert sich das Forum, diese Datei hochzuladen. Ich habe zwei Dateien machen müssen, in etwas kleiner Schrift.
Teil 1.pdf
(1.07 MiB) 10-mal heruntergeladen
Teil_2 .pdf
(771.32 KiB) 10-mal heruntergeladen



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Jörn Budesheim
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Fr 19. Apr 2024, 07:51

Stefanie hat geschrieben :
Do 18. Apr 2024, 17:14
funktioniert
Was meinst du mit "funktioniert"?




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Quk
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Fr 19. Apr 2024, 15:46

Eine einzige universale Regel fällt mir derzeit ein, die garantiert universal ist:
Suche die Nähe von Vertrauenswürdigen, vermeide Vertrauensbrecher.
Diese Regel ist meines Erachtens interkulturell und gilt sogar in Verbrecherkreisen.
Vertrauen ist gut.

Omri Boehm habe ich letztes Jahr auch bei Sternstunde Philosophie und bei Jung & Naiv gesehen. Insgesamt vier Stunden oder so.




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Stefanie
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Fr 19. Apr 2024, 17:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 19. Apr 2024, 07:51
Stefanie hat geschrieben :
Do 18. Apr 2024, 17:14
funktioniert
Was meinst du mit "funktioniert"?
Na, ob man Kant so auslegen kann, wie er es macht. Also ob die Herleitung seiner Theorie funktioniert.


In der Süddeutschen wird sein Ansatz verständlich beschrieben:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/omri ... -1.5657989
"Es beginnt mit Kants berühmter Antwort auf die Frage "Was ist Aufklärung?": "Aufklärung", schrieb Kant 1784, "ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", Unmündigkeit wiederum ist für Kant "das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen". Böhm aber will es noch einmal ganz genau wissen: Was soll das eigentlich heißen, "sich seines Verstandes zu bedienen"? Mit der ersten, negativistischen Antwort Kants, dass selbst denken eben vor allem bedeute, seine Gedanken nicht irgendeiner Autorität zu unterwerfen, ist es für Boehm nicht getan.
Die Definition Kants, auf die es Boehm eher ankommt, läuft darauf raus, dass die schädlichste Form der Unmündigkeit nicht einfach Nichtdenken oder das Delegieren des eigenen Denkens ist, sondern eine Denkweise, "bei der wir unseren Verstand auf tote oder mechanische Weise" gebrauchen: "Satzungen und Formeln", so Kant, "sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit."
In Bezug auf die Frage, was dies nun für Boehms Rechtfertigung seines radikalen Universalismus bedeutet, wird es dann allerdings wieder heikler. Denn Boehm schließt sich Kants Überzeugung an, dass Aufklärung und Selbstdenken dieser anspruchsvollen Art - angesichts der Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit - doch wieder erst durch einige wenige erreicht werden muss, deren Beispiel dann gefolgt werden kann. Das aber, Boehm sieht es sofort, ist nichts anderes als eine Form von Prophetie, die Vermittlung von Wahrheit durch Auserwählte. Und war und ist das nicht genau die Art von Kommunikation, die die Aufklärung gerade überwinden wollte?
Was nun? Boehm versucht eine neue Definition dessen, was wir unter Prophetie verstehen sollten. Motto: Wenn die Begriffe nicht passen, haben wir sie bisher nur falsch verstanden. Nach einer schwungvollen Lektüre des Dekalogs und der Geschichte von Abrahams Opferung seines Sohnes Isaak (Genesis 22, 1-19) sowie von Maimonides' Interpretation der beiden Bibelstellen in seinem Buch "Führer der Unschlüssigen" steht für Boehm fest: Die höchste Form der Prophetie ist nicht die von Mose, der den Menschen einfach Gottes Gesetz verkündet, sondern die Abrahams.
Die übliche Deutung der Opferung Isaaks geht von einem frommen Abraham aus, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern und dann von einem Engel aufgehalten wird. Soll heißen: Der Wille ist Gott genug, die grausame Tat ist nicht nötig. Boehm betont dagegen textkritisch, dass die Engelstelle später hinzugefügt wurde. Lässt man sie weg, trifft nicht mehr Gott die Entscheidung, Isaak am Leben zu lassen und stattdessen einen Widder zu opfern, sondern Abraham selbst. Für Boehm gehorcht er an dieser Stelle einer moralischen Autorität, die noch über Gott steht: der Gerechtigkeit.
Das Beharren darauf, so Boehm, "dass die Gerechtigkeit jede Autorität übersteigt", sei Abrahams ganz eigene Neuerung. Mithin bestehe die wesentliche Behauptung und entscheidende geistige Innovation des ethischen Monotheismus auch nicht darin, dass es nur eine einzige wahre Gottheit gebe, sondern eben darin, dass "selbst diese einzig wahre Gottheit dem Moralgesetz unterworfen" sei. Anders gesagt: Die Bibel hat mit Boehm eine universelle Idee des Menschen als einem Wesen, das für das "absolute Gesetz" offen ist, für das es aber keinen Gott mehr braucht, nicht mal nur einen einzigen. Man muss nicht gläubig sein, um das für erstaunlich zu halten."

Ich habe im Moment nicht die Hoffnung, dass diese Gedanken eines Philosophen Menschen wie Trump, die AfD, aber auch Politiker wie Merz, Söder und Lindner zum Umdenken bewegen.



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Jörn Budesheim
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Fr 19. Apr 2024, 19:25

Offtopic: Ich plane schon seit einiger Zeit einen Thread mit dem Titel "Gott schütze mich vor dem Selbstdenken", vielleicht ist die Zeit bald reif dafür ;)




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Stefanie
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Mi 24. Apr 2024, 15:37

Aus:
300 Jahre Kant – Wie die Welt sein sollte
Susan Neiman
in
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/3 ... 22193.html

"Dies ist eine Antwort auf die zeitgenössischen Kritiker, die sich bei der Lektüre von Kants Werk auf die Art und Weise konzentrieren, wie es gegen unser Verständnis von Rassismus und Sexismus verstößt. Einige seiner Bemerkungen sind für die Ohren des 21. Jahrhunderts zweifellos beleidigend. Aber es ist fatal zu vergessen, dass sein Werk uns das Rüstzeug zur Bekämpfung von Rassismus und Sexismus gegeben hat, indem es die metaphysische Grundlage für jeden Anspruch auf Menschenrechte lieferte."

"Er bestand darauf, dass wir, wenn wir moralisch denken, von den kulturellen Unterschieden, die uns trennen, abstrahieren und die potenzielle Menschenwürde in jedem menschlichen Wesen erkennen sollten. Dies erfordert den Einsatz unserer Vernunft. Im Gegensatz zu modischen Ansichten, die die Vernunft als ein Instrument der Herrschaft betrachten, sah Kant das Potenzial der Vernunft als ein Instrument der Befreiung."

Ich sehe diese Aussagen, als Argumente für die Theorie von Boehm.



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Jörn Budesheim
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So 28. Apr 2024, 10:08

Hier nun der versprochene Beitrag mit dem Motto "Gott schütze mich vor den Selbstdenken"



Sehenswertes Video mit Omri Boehm: Lasst uns selbst denken!

Sapere aude, wage es, selbst zu denken, gilt als einer der Leitsätze der Aufklärung. Doch was genau heißt "selbst denken"? Wie kann man in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der das Wissen über die Wirklichkeit täglich in unvorstellbarem Ausmaß wächst, selbst denken, wenn man von den meisten Dingen keine Ahnung hat?

Diese und natürlich auch andere Fragen werden in dem sehr sehenswerten Video behandelt.




Burkart
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So 28. Apr 2024, 11:35

Für eine Stunde Video habe ich gerade mal wieder keine Zeit, aber das Thema ist interessant.
Ich denke (ach ;) ), dass man wirklich nicht alles wissen und darüber reden muss, sondern sich auf die für einen interessanten Themen konzentriert.
Ob man über ein Thema dann viel wissen muss, hängt sehr vom Thema ab. So kann (und wll) ich z.B. zu komplexer Quantenphysik nicht viel beitragen bzw. über deren Physik nachdenken, dann eher zu KI.
Andere Themen betreffen einen dann auch sehr direkt, z.B. das des Geldes, das jeder braucht, das des Genderns, denn sprechen und hören tut fast jeder usw.
Deshalb macht man sich zu solchen Themen automatisch Gedanken (mal mehr, mal weniger), und hier sind andere Quellen einerseits nützlich, aber auch nicht überzubewerten und eigene Gedanken z.T. vorzuziehen, insbesondere wenn es um das eigene Leben geht, z.B. wie wichtig einem Geld ist oder sein muss.

Ob der Gesellschaft allerdings immer mehr Selbstdenken gut tut... da kann man manchmal seine Zweifel haben, wenn ich Richtung Trump-Wahl schaue.
Auf der anderen Seite wäre mehr Selbstdenken z.T. gut, aber leider gefährlich, siehe (Weiß-)Russland u.ä.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Stefanie
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So 28. Apr 2024, 13:44

Burkart hat geschrieben :
So 28. Apr 2024, 11:35
Für eine Stunde Video habe ich gerade mal wieder keine Zeit, aber das Thema ist interessant.
Lesen geht schneller..

https://youtubetranscript.com/?v=Y35ZzRSHT3E

Zukünftig kannst Du das dann selber machen. Mann muss nur wollen.



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Jörn Budesheim
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So 28. Apr 2024, 14:16

Am Ende des Videos gibt es eine sehr interessante Passage. Omri Böhm hat gerade eine Urszene des Selbstdenkens dargestellt, nämlich wie Abraham sich gegen das Gesetz Gottes auflehnt. Abraham rebelliert gegen Gott, weil er das, was Gott gebietet, als Unrecht erkannt. Für eine solche Tat braucht es natürlich unendlich viel Mut, vor allem in der damaligen Zeit. Der Moderator fragt also zu Recht:

Eilenberger: Muss wirklich jeder, der selbst denken will, so viel Mut haben? Das wäre ja geradezu eine übermenschliche Anforderung.

Boehm: Ja, und das ist eine schwierige Frage. Ich glaube nicht, dass wir alle Abrahams sind. Wir alle haben jedoch die Pflicht, selbst zu denken. Unter der Voraussetzung, dass die Idee des Selbstdenkens nicht dahingehend ausufert, dass nun jeder völlig anders denkt, besteht der Trick - auch das eine kantische Idee - darin, dass wir nur in Bezug auf andere selbst denken. Dass wir also sagen, was wir denken, uns die Kritik anhören und unsere Position gegebenenfalls überdenken. Wir müssen öffentlich selbst denken. [Ansonsten] besteht die Gefahr, dass die Leute im stillen Kämmerlein selbst denken und an ihren Wahrheiten festhalten. Aber man braucht die Öffentlichkeit, um dieses auszuüben und sich zu testen an den Urteilen der anderen.


Es sind diese Selbstdenker, die abstruse Ideen haben und sie zwar gelegentlich verkünden, aber nie ernsthaft zur Diskussion stellen, vor denen mich Gott schützen muss, dazu gehören natürlich auch die berühmten Querdenker.




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Jörn Budesheim
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So 28. Apr 2024, 15:06

Stefanie hat geschrieben :
Fr 19. Apr 2024, 17:59
In der Süddeutschen wird [der Ansatz Böhms] verständlich beschrieben:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/omri ... -1.5657989
süddeutsche.de hat geschrieben : Viele Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund erleben Tag für Tag, dass vieles eben doch nicht so universal gilt, sondern uneingeschränkt höchstens für die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaften.
So steht es am Anfang des Textes, darüber bin ich gestolpert. Ich hätte eher geschrieben, dass viele Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund tagtäglich erleben, dass ihnen vieles, was universal gilt, nicht zugestanden wird.




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Quk
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So 28. Apr 2024, 18:12

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 28. Apr 2024, 14:16
Es sind diese Selbstdenker, die abstruse Ideen haben und sie zwar gelegentlich verkünden, aber nie ernsthaft zur Diskussion stellen, vor denen mich Gott schützen muss, dazu gehören natürlich auch die berühmten Querdenker.
Völlige Zustimmung. Das wesentliche Problem jener Selbstquerdenker ist deren radikale Testverweigerung. Sie betreiben ihre Aussagen rein emotional, und rationale Testergebnisse missachten sie. Das ist pure Esoterik -- antiwissenschaftlich und auch antiphilosophisch. So kommt keine offene, langlebige Erkenntnisdiskussion zustande.




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