"Morgen früh, wenn Gott will, ...

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 19:52
Ich glaube, das hässlichste Wort, was ich dazu mal gelesen habe, stammt von Habermas. Wenn mich nicht alles täuscht, hat er von einem vorkonsensualisierten Bereich gesprochen.
Ja, Habermas bringt sein Lebenswelt-Konzept als sinnstiftenden Kontext für Kommunikation in Stellung gegen den Systembegriff. Systeme dringen in die Lebenswelt der Menschen ein ("Kolonisation der Lebenswelt") und entstellen deren Kontext. Das ist dann natürlich eine (legitime) Adaption des Lebensweltbegriffs, aber keine genuin phänomenologische Bestimmung dessen, was Lebenswelt (im Sinne Husserls) ausmacht. - Bei Husserl ist die Lebenswelt vor allem eine vorprädikative Welt, eine Welt der Selbstverständlichkeiten, die auf Prädikationen jeglicher Art gar nicht angewiesen ist. Eine gewisse Paradoxie besteht dann darin, daß diese vorprädikative Welt gleichwohl durch Prädikationen, nämlich durch eine Theorie der Lebenswelt erschlossen werden soll. Um phänomenologisch beschreibbar zu werden, muß man die Lebenswelt also erst verlassen haben. - Die phänomenologisch inspirierte Soziologie (Alfred Schütz) greift den Topos der Lebenswelt dann auf und entwickelt ihn weiter; dabei zielt sie allerdings zunehmend auf eine Welt des Sozialen (Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt), in der es dann natürlich Prädikationen und Kommunikationen gibt. - Wenn wir also von Lebenswelt sprechen, dann liegt hier - mindestens eine - Äquivokation vor, quasi eine Einladung zum Mißverständnis.




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Di 20. Aug 2019, 19:06

TsukiHana hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 20:19
Nauplios hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 19:50
...eine Welt, in der Großmütter zu Baumeisterinnen werden. -
Und manchmal klingt diese Welt immer noch etwas nach, wenn man die eigene Großmutter glaubt ein Wiegenlied singen zu hören...
..., wozu es dann ja vor allem eins braucht: Erinnerung. "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können", heißt es bei Jean Paul einmal. Man kann vielleicht einschränkend sagen, daß die Dauer der Lebenszeit, wie die Demographie sie heute erhoffen läßt, an diesem Satz Zweifel aufkommen läßt. Erinnerung, Zeit, Großmutter, eine musikalische petit phrase - viel mehr braucht es schon bald nicht, um ein geistiges Balbec (s. Marcel Proust; Im Schatten junger Mädchenblüte) erstehen zu lassen, den fiktionalen Badeort an der Normandie und dessen Grand Hotel, das der Erzähler im zweiten Teil der Suche nach der verlorenen Zeit mit seiner Großmutter aufsucht. In diesem "Paradies" wäre dann nur noch die Rolle der koketten Albertine Simonet zu besetzen und die Proust´sche Konstellation wäre perfekt. - "... manchmal klingt diese Welt immer noch etwas nach ..." Daß Welten untergehen können, daß sie versinken, daß sie durch den Duft eines in Lindenblütentees getunkten Stück Feingebäcks zurückerinnert werden können, das macht die Faszination der Suche nach der verlorenen Zeit aus. Die Universalität und Ubiquität maritimer Metaphorik macht dabei im Untergehen und Versinken selbst vor einer ganzen Welt nicht Halt.




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Di 20. Aug 2019, 19:35

epitox hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 22:06
Friederike hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 15:35
Wenn Gottes Wille nun als ein guter Wille gedacht wird? Ein Willen zum Guten.
Ja, dann trifft dieser gute Wille Gottes auf die gute Schöpfung, in der das Geschöpf Mensch den Namen Gottes verherrlicht. D.h. der Mensch wird durch den Willen Gottes als gleichberechtigter und aktiver Partner angesehen, der an der Vollendung der Welt (des Reich Gottes) tatkräftig mitarbeitet. Das Handeln Gottes und das Handeln des Menschen sind dann einander gleichgestaltet, wenn der Wille Gottes geschieht.
Wenn man den schlechten Willen dazu hat, läßt sich Gottes Wille im philosophischen Gedankenexperiment vorübergehend als schlecht denken. Theologisch muß ein solches Gedankenexperiment scheitern, zumindest wenn es sich um den christlichen Gott handelt. Der "gute Wille Gottes" und "die gute Schöpfung", in die das "Geschöpf Mensch" eingesetzt ist, bilden eine Verbindung, in der menschliches und göttliches Handeln "gleichgestaltet" sind: es geschieht der Wille Gottes. Das ist, vorgreifend auf die Frage nach der Außen- und Innenperspektive, der Blick von Außen. Man betrachtet die Welt als Schöpfung einer Instanz, deren Reich aber nicht von dieser Welt ist. Dazu ist vor allem neben dem Buch der Natur ein zweites Buch notwendig, das der Offenbarung. - In der "Gleichgestaltung" liegt der Nexus zwischen Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf. - Die Welt kann sich nicht aus sich heraus erhalten; als Schöpfung ist sie angewiesen auf transzendente Zustimmung.




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Di 20. Aug 2019, 20:26

Friederike hat geschrieben :
Di 20. Aug 2019, 10:45

Ich würde gerne verstehen, wie es zum Wechsel von der Außen- zur Innenperspektive kommt, präziser: welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sind es, die zwangsläufig oder konsequenterweise zum Blickwechsel von außen nach innen führen. Mir fehlt das Hintergrundwissen und deswegen denke ich mir, daß ja schon vor Newton und Leibniz unablässig geforscht worden ist.
Man muß hier natürlich vor allem De revolutionibus orbium coelestium (1543) von Kopernikus nennen. Kopernikus wurde 1503 in Ferrara zum Doktor des Kirchenrechts promoviert. Er wurde sogar als Bischof vorgeschlagen. Als Domherr betrieb er "nebenbei" Astronomie und in De revolutionibus wird die Erde zu einem Planeten, der sich gemeinsam mit anderen Planeten um die Sonne dreht. Hinzu kommt, daß die Erde sich einmal am Tag um ihre Achse dreht. Eine solche Anordnung mit der Sonne im Zentrum des Universums, war mit dem Weltbild der Kirche natürlich nicht vereinbar. Aber sie war vereinbar mit dem, was sich von "innen" heraus, vom Standpunkt eines irdischen Beobachters hinsichtlich der Bewegungen der Planeten wahrnehmen ließ. Die damaligen Probleme der Astronomie ließen sich auf diese Weise lösen ohne Bezugnahme auf eine Schöpfungsgeschichte ("außen"). -

Thomas Digges kommentierte De revolutionibus und arbeitete mit dem Theodolit, einem Meßgerät zur vertikalen Winkelmessung. Digges hat dann auch die Vorstellung von "Himmelsschalen" verworfen, die sich noch bei Kopernikus findet. -

Galilei ist zu nennen, der 1610 per Fernrohr die Mediceischen Sterne entdeckt, Tycho Brahe, der über Jahrzehnte Himmelsdaten aufzeichnete, sein Assistent Johannes Kepler, der dann die elliptische Bahn des Mars nachweisen konnte. Bis dahin galten die Planetenbahnen kreisrund.

All das verhilft einer neuen Sicht auf die Welt, das Universum, den "Himmel" und natürlich auf die Stellung des Menschen in dieser Welt zum Durchbruch, den Kant im Anschluß an Newton ja philosophisch ausgestaltet als kopernikanische Wende.




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epitox
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Di 20. Aug 2019, 21:49

Nauplios hat geschrieben :
Di 20. Aug 2019, 19:35
Das ist, vorgreifend auf die Frage nach der Außen- und Innenperspektive, der Blick von Außen. Man betrachtet die Welt als Schöpfung einer Instanz, deren Reich aber nicht von dieser Welt ist. Dazu ist vor allem neben dem Buch der Natur ein zweites Buch notwendig, das der Offenbarung.
Das klingt für mich wieder nach diesem Blumenberg. Es gibt in diesen Fragen weder eine Innen- noch eine Außenperspektive, weder richtige noch falsche Schemata, weder einen Gegensatz zwischen theoretischen und hypothetischen Anschauungen, weder eine Unterscheidung von aktuellen und vergangenen, sondern einzig und allein die nach den Beziehungen zwischen Position und Perspektive, Genese und Geltung. Die Idee mit den Büchern war zwar jahrhundertelang ein beliebtes Thema, aber sie ist heute nicht mehr vermittelbar. (Abgesehen von der unsäglichen ökologischen Schweinerei alle Materie im Universum dazu zu verheizen, Gott zu loben - und das auf jeden Fall nur in unvollkommen Weise... ) Es etabliert sich damit ein Deismus (Gott als idealer Konstrukteur einer eher mechanistisch, statisch verstandenen Welt) dem der sich in der Welt offenbarende Gott aus der Heiligen Schrift permanent mit "Wundern" und anderen "obskuren" Geschehnissen, wie seiner Menschwerdung durch Geburt aus einer Jungfrau, in die Parade hineingrätscht.




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Di 20. Aug 2019, 22:46

epitox hat geschrieben :
Di 20. Aug 2019, 21:49

Das klingt für mich wieder nach diesem Blumenberg.
Ja, dieser Blumenberg ist der spiritus malus, der als Stichwortgeber all das souffliert - ohne im Besitz einer theologischen Auslegungslizenz zu sein. Es ist unbestritten, daß es Widerspruch gegen die Legitimität der Neuzeit - prominent etwa durch Karl Löwith - gegeben hat in der "Säkularisierungsdebatte" der 60er Jahre. Nur gibt es auch eine seit zwanzig Jahren fortgesetzte Rezeption der Schriften Blumenbergs, die inzwischen einige umfangreiche Konvolute aus dem Nachlaß umfaßt. Die großen Schriften wurden in andere Sprachen übersetzt. - Es geht nicht länger um einen "Geheimtipp", um einen Philosophen, der nur Fachkreisen bekannt ist. - Seit Jahren erscheinen Dissertationen zur Philosophie Blumenbergs, Kongresse und Tagungen, eine Hans-Blumenberg-Gesellschaft gibt es seit 2017. -

Ich persönlich finde, daß in dieser Philosophie ein Reichtum an Ansätzen und Ausführungen zur Anthropologie, zur Geschichtsphilosophie, zur Phänomenologie, zur Theorie der Moderne, zur Technikphilosophie, zur Literaturkritik u.v.m. steckt, welche die Beschäftigung lohnt. - Eine Antwort auf die Frage, wie ein gläubiger Christ heutzutage sein Verhältnis zu Gott denkt, seinen Glauben lebt, seine Spiritualität u.ä. kann man davon nicht erwarten. - Von theologischer Seite mag man Einwände haben; allerdings darf von dieser Seite auch eine gewisse Akzeptanz erwartet werden, daß die theologischen Quellen des Mittelalters - und nicht nur diese - nicht länger nur der Deutungshoheit der Theologie gehören.




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epitox
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Di 20. Aug 2019, 23:13

Nauplios hat geschrieben :
Di 20. Aug 2019, 22:46
Eine Antwort auf die Frage, wie ein gläubiger Christ heutzutage sein Verhältnis zu Gott denkt, seinen Glauben lebt, seine Spiritualität u.ä. kann man davon nicht erwarten.
Nein, dieser Ansicht bin ich nicht im geringsten. Ganz im Gegenteil. Aber wir lassen mal Blumenberg selber antworten:

”Gewisse andere Leute haben allerdings, wie ich weiß, ̈über eben diese Gegenstande geschrieben, doch wissen sie selbst nicht ̈über sich Bescheid. So viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben ̈uber den Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben. Denn es steht damit nicht so, wie mit anderen Lehrgegenstände: es lässt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.“ (Man kann an diesem Text schön diese tiefe innere Unruhe Blumenbergs nachempfinden- getauft ist er mit dem Geist aus der Erde, dem Wühlgeist)

Anmerkung der Moderation: Der Autor des oben zitierten Textes ist nicht H. Blumenberg. Die Textpassage ist dem siebten Brief von Platon (341) entnommen. Die deutsche Übersetzung stammt von Otto Apelt. (Platons Briefe; in: Sämtliche Dialoge VI.)




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Mi 21. Aug 2019, 02:21

epitox hat geschrieben :
Di 20. Aug 2019, 23:13

Aber wir lassen mal Blumenberg selber antworten:

”Gewisse andere Leute haben allerdings, wie ich weiß, ̈über eben diese Gegenstande geschrieben, doch wissen sie selbst nicht ̈über sich Bescheid. So viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben ̈uber den Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben. Denn es steht damit nicht so, wie mit anderen Lehrgegenstände: es lässt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.“ (Man kann an diesem Text schön diese tiefe innere Unruhe Blumenbergs nachempfinden- getauft ist er mit dem Geist aus der Erde, dem Wühlgeist)
Eine "tiefere innere Unruhe" hat in diesem Moment auch mich ergriffen, Epitox. - Dabei könnte es kaum eine höhere Auszeichnung für einen Philosophen geben als ihm Worte Platons in den Mund zu legen. Hans Blumenberg hätte vermutlich darüber eine Glosse verfaßt.

Ein genius malignus hat Deinen Wühlgeist auf eine Zeitreise ins 4. vorchristliche Jahrhundert geschickt. Platon ist von seiner dritten Sizilienreise zurück und schreibt nach Dions Tod - er war der Gegenspieler von Dionysios II - einen Brief an Dions Verwandte und Parteigänger auf Sizilien.

Kurzum: Das Zitat stammt aus dem berühmten siebten Brief von Platon (341). Die deutsche Übersetzung stammt von Otto Apelt. (Platons Briefe; in: Sämtliche Dialoge VI.)

http://opera-platonis.de/Briefe.pdf (hier die Übersetzung von Wiegand)

Mein Glaube an das Gute im Menschen verbietet mir den Gedanken, Du könntest selbst der genius malignus sein, lieber Epitox, der uns unter Auslassung einer Quellenangabe hinter´s Licht hat führen wollen. Andernfalls: Drei Vaterunser und drei Ave Maria! ;)




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Friederike
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Mi 21. Aug 2019, 10:03

Das ist eine spannende Geschichte - ich meine, wie es zu der Verwechslung hat kommen können. @epitox, hast Du eine Erklärung oder ist es gar keine Verwechslung der Autorschaft? Verrate es bitte!

Gelesen habe ich natürlich der Chronologie nach, und das heißt, ich habe den Platonischen Brief für einen Text von Blumenberg gehalten. Irritiert war ich sowieso, aber am stärksten wegen des folgenden Satzes: So viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben über den Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben [...]

Das Hören war es und das finde ich aufschlußreich. Blumenberg hat zwar Vorlesungen gehalten, er hat gesprochen, und er hat deswegen auch gehört werden können, aber es schien mir aus irgendeinem Grunde höchst ungewöhnlich, das gesprochene Wort und seine Wieder- und Weitergabe als Grundlage für die Bezugnahme auf Aussagen eines Philosophen heranzuziehen. Man würde das heutzutage nicht tun.

***
Das Indiz für ein Täuschungsmanöver könnte hier die leichte Abweichung von Deinem üblichen Schreibstil sein. Das "wir" ... aber es ist ein schwaches Indiz. Gut, dazu kommt, daß Du meistens unter Angabe der Quellenbeleges zitierst.
epitox hat geschrieben : Aber wir lassen mal Blumenberg selber antworten:




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epitox
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Nauplios hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 02:21
Eine "tiefere innere Unruhe" hat in diesem Moment auch mich ergriffen..
Das glaube ich dir sofort! Allerdings ist deine "Unruhe" von anderer Art als die von Platon oder Blumenberg. Beides Getriebene. Beide stehen in steter Verklammerung mit ihrem Gegenstande. Bei Platon ist es die stetige Auseinandersetzung mit dem Gegenstand im Gespräch mit seinen Schülern (Verkehr und Lebensgemeinschaft) und bei Blumenberg ist es das Festhalten und Auseinandersetzten mit dem Thema im Bilde eines Schiffsbrüchigen, der sich ausgeliefert und gebunden sieht in einer Schicksalsgemeinschaft.

”Für Philosophen ist das der obligate Weg: Wie sollte einer vom Letzten und Vorletzten lehren können, wenn er ihm nicht ausgesetzt gewesen war? Man klammerte sich ans Gebälk des zerschellten Schiffs –notorische Nichtschwimmer, wie die Philosophen seit je waren –, ließ sich ans Ufer auswerfen und setzte im nächstgelegenen Gymnasium seine Lehre fort, als sei nichts gewesen. Darauf kam es an: man war Philosoph im Maße der Immunität gegen solche Unterbrechungen. Man musste allerdings versichert sein, dass Menschen das Landesinnere bewohnten, und dazu gab es die geometrischen Figuren im Sand des Strandes, die zur rechten Zeit und unverweht da hinterlassen worden waren, als ob an Stränden seit je vor allem solches getrieben worden wäre. Die virtuelle Allgegenwärtigkeit der Voraussetzungen war Kernstück des Platonismus. Aus der Lehre von der Anamnesis folgte, dass der Mathematiker überall zu Hause sein, aus jedem Schiffbruch sogleich ans Werk gehen konn-te.Das ist heute so geblieben. Emigrantenschicksale belegen es. Nach dem Ende des Zeitalters der reellen Schiffbrüche der metaphorischen: der ausgestoßene oder geflüchtete Fremde, unkundig noch der Sprache des Landes, schreibt seine Tafeln voll, dort wie hier. Der Platonismus ist eine Philosophie für Schiffbrüche; er macht sie zu Episoden, während Sprachen sie zu Katastrophen machen, auch und gerade wenn vom Allgemeinen die Rede sein soll, sofern es nur das Allgemein-Menschliche ist – da führt kein Weg stracks vom rettenden Ufer ins Schulhaus lernbegierig Wartender. Auch dies – und vielleicht dies vor allem – gehört zur Erfahrung professioneller Seenotüberwinder.“ (Die Sorge geht über den Fluss, 8–9)




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Friederike hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 10:03
Irritiert war ich sowieso ...
Genau! Das ist das entscheidende hier: die Irritation. Der Lehrer doziert vor seinem Schüler nicht etwa seine gelehrte Zusammenfassung in wohlgesetzten Worten, auf dass der Schüler sie nur noch zur Kenntnis nehme, sondern er muss provozieren, irritieren, verwirren und ihn damit an seine Grenzen - zur Erfahrung seiner Endlichkeit- bringen. Der Schüler wird dadurch gezwungen sich mit dem Gegenstande auseinandersetzen. Er muss selber erkennen wollen, ohne Möglichkeit des Rückgriffs auf Autoritäten. Er muss Knoten lösen wollen, zu mindestens etwas lösen wollen...




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Mi 21. Aug 2019, 11:59

epitox hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 11:29
Er [der Schüler] muss selber erkennen wollen, ohne Möglichkeit des Rückgriffs auf Autoritäten.
Wichtiger Aspekt für die Neuzeit, 2 Grundelemente von Religion und Theologie, nämlich "Überlieferung" und "Autoritätsbezug" werden als Begründung und Rechtfertigung dafür, die Wahrheit zu sprechen, nicht mehr anerkannt.




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epitox hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 10:51
Nauplios hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 02:21
Eine "tiefere innere Unruhe" hat in diesem Moment auch mich ergriffen..
Das glaube ich dir sofort! Allerdings ist deine "Unruhe" von anderer Art als die von Platon oder Blumenberg. Beides Getriebene. Beide stehen in steter Verklammerung mit ihrem Gegenstande.
Und das gibt Dir das Recht, Zitate zu fälschen? -

Ich hätte es noch verstanden, wenn Du eingeräumt hättest, einem Irrtum erlegen zu sein; aber wenn ich das richtig sehe, war es kein Irrtum, sondern Irreführung.

Die deutsche Sprache hält für solche Fälle neuerdings einen Anglizismus bereit: Fake. - Und damit ist Dein Beitrag nicht länger Gegenstand einer seriösen Diskussion, Epitox, sondern ein Fall für die Moderation. -
In der digitalen Kommunikation mag es heutzutage nicht mehr sonderlich überraschend sein, mit solchen Mitteln Geländegewinne zu erzielen; aber wir hatten ja auch schon auf analogem Wege das Vergnügen. Nun bin ich doch einigermaßen enttäuscht. -




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Mi 21. Aug 2019, 14:33

Friederike hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 10:03

Das Hören war es und das finde ich aufschlußreich. Blumenberg hat zwar Vorlesungen gehalten, er hat gesprochen, und er hat deswegen auch gehört werden können, aber es schien mir aus irgendeinem Grunde höchst ungewöhnlich, das gesprochene Wort und seine Wieder- und Weitergabe als Grundlage für die Bezugnahme auf Aussagen eines Philosophen heranzuziehen. Man würde das heutzutage nicht tun.
Der Nachlaß Hans Blumenbergs befindet sich im "Deutschen Literaturarchiv Marbach". Dort wird u.a. sein Zettelkasten erforscht und aus seinen umfangreichen Konvoluten sind in den letzten Jahren mehrere Nachlaß-Bände herausgegeben worden. Dem Leser wird damit nicht nachgereicht, was Privileg des Hörers war, doch dennoch wird mit der Erschließung dieses Nachlasses immer deutlicher, in welch´ weitem Horizont Blumenbergs Nachdenklichkeit seine Inspirationsquellen fand.

https://www.dla-marbach.de/suche/?tx_so ... lr[page]=2




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Mi 21. Aug 2019, 14:42

Nauplios hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 12:31
Nun bin ich doch einigermaßen enttäuscht.
Was so ein einfacher copy/paste Fehler für Folgen zeitigt!! Normalerweise hätte ich ihn heute morgen mit externer Hilfe eines admins korrigieren lassen können, aber die Effekte waren unerwartet doch in gewisser Weise eine willkommene Einführung in das Denken Blumenbergs - ungewollt, unfreiwillig, wenn dich das noch etwas beruhigen kann. Der eigentlichen Text liefere ich noch nach...




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https://www.deutscheakademie.de/de/ausz ... g/dankrede

(nachfolgend die Rede Blumenbergs zur Verleihung des "Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa" 1980. Der kurze Text ist vielleicht auch gut geeignet für die weitere Diskussion.)


Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

SIGMUND-FREUD-PREIS
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa wird seit 1964 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen. Ausgezeichnet werden Wissenschaftler, die in deutscher Sprache publizieren und durch einen herausragenden Sprachstil entscheidend zur Entwicklung des Sprachgebrauchs in ihrem Fachgebiet beitragen.

PREISTRÄGER

HANS BLUMENBERG
Philosoph
Geboren 13.7.1920
Gestorben 28.3.1996

Sigmund-Freud-Preis 1980
Laudatio von Odo Marquard
Dankrede von Hans Blumenberg



Nachdenklichkeit

Alles Leben strebt danach, seine Antworten auf die Fragen, die sich ihm stellen, unverweilt und unbedenklich zu geben. Zwar ist das Schema von Reiz und Reaktion eine zu große Vereinfachung der Sachverhalte, aber doch das heimliche Ideal für die Funktionstüchtigkeit organischen Verhaltens.
Der Mensch allein leistet sich die entgegengesetzte Tendenz. Er ist das Wesen, das zögert. Dies wäre ein Versäumnis, wie es das Leben nicht verzeiht, wenn der Nachteil nicht durch einen großen Aufwand an Leistungen ausgeglichen würde, dessen Resultat wir Erfahrung nennen. Daß wir nicht nur Signale, sondern Dinge wahrnehmen, beruht darauf, daß wir abzuwarten gelernt haben, was sich jeweils noch zeigt. Die riskante Unentschiedenheit vor der Alternative: Flucht oder Angriff mag der erste, in keiner Ausgrabung jemals nachweisbare Schritt zur Kultur als einem Verzicht auf die raschen Lösungen, die kürzesten Wege gewesen sein.

An der Norm glatter Funktion gemessen, kann man das Zögern durchaus als Folge einer Störung verstehen: Ein Wechsel des Biotops oder eine Veränderung von Flora und Fauna durch Klimaschwankung könnte die Eindeutigkeit und Vertrautheit von Umweltdaten für Verhalten getrübt, verformt, entstellt haben. Die erkenntnistheoretisch berühmte Synthese einer Mannigfaltigkeit von Empfindungen wäre dann aus dem Mangel an Deutlichkeit, aus der Entfremdung der Umwelt hervorgegangen.

Im Zögern steckt keine Funktionslust, aber im erzwungenen Aufschub der Aktion könnte Lust am Zögern gefunden worden sein. Jedes neu gewonnene Stück Geborgenheit hätte erlaubt, den Spielraum für solchen Lustgewinn zu erweitern. Das Leben verlangt Zweckmäßigkeit, doch seinen Günstlingen gewährt es das Erlebnis der Zweckfreiheit. Daraus wächst jede Kultur. Noch in ihren primitivsten Äußerungen, dem Schmuck, dem Ornament auf Nutzgerät, ist der Gestus des Gewinns von Zweckfreiheit, von suspendierter Ökonomie, enthalten. Aus dem Zögern als momentaner Ratlosigkeit, als bloßer Ausnutzung eines Aufschubs, kann Zuständlichkeit werden, die einen anderen Lebenswert als den der Abwägung von Optionen hat.

Für diesen Lebenswert erscheinen die sprachlichen Äquivalente weithin als abgenutzt. Etwa jene Beschaulichkeit des Alters, von der man einmal sprach und in der es nicht darauf ankommen sollte, etwas zu beschauen, um mit ihm fertig zu werden. Auch Nachdenklichkeit genießt nicht das Wohlwollen der Zeitgenossen, die Entscheidungsfreudigkeit zumindest verlangen. Nachdenklichkeit gilt als unziemlich müßiger Zeitverbrauch. Denken und Denken über Denken mag eine Fachkompetenz verleihen; Nachdenklichkeit wird von keiner Profession oder Disziplin als ihr Teil beansprucht.

Unser Bild vom Denken ist, daß es die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten herstellt, zwischen einem Problem und seiner Lösung, zwischen einem Bedürfnis und seiner Befriedigung, zwischen den Interessen und ihrem Konsens – entlang an dem diskursiven Seil, an dem schon kritische Kinder zu raschen Folgerungen und Emanzipationen kommen sollen.

Der Nachdenkliche genießt allenfalls Nachsicht. Resultate werden von ihm nicht erwartet, wenn er sich erhebt. Es regt niemand auf, was er tut oder vielmehr nicht tut, am wenigsten ihn selbst. Eine der Beschreibungen von Nachdenklichkeit lautet, man lasse sich durch den Kopf gehen, was und wie es gerade kommt.

In der Nachdenklichkeit liegt ein Erlebnis von Freiheit, zumal von Freiheit der Abschweifung. Die Bandbreite, in der auf Abschweifung reagiert wird, reicht von den Höhepunkten des Humors bis zur blanken Verzweiflung derer, die mit einer Sache vorankommen möchten.

Keine Intersubjektivität kann ihren Mitgliedern das Ausscheren aus dem Funktionsverbund gestatten. Der Exkurs beansprucht Freiheitsgrade, die man sich im Diskurs der Denkvermögen nicht leisten kann. Dialogstrategien überlassen keinen seiner Nachdenklichkeit. In ihr nämlich wäre erlaubt, dieses für jenes hingehen zu lassen, die Strenge der Kontrolle zu lockern und dafür der Größe der Fragen kein Maß anzulegen. Ob über den Sinn des Lebens ein Denken nach Regeln der Kunst möglich ist, läßt sich bezweifeln; nachdenklich wird man darüber sein dürfen, ohne je einer Antwort – auch nur einer unter vielleicht vielen möglichen und schließlich doch nicht möglichen – näherzukommen.

Philosophie gilt als methodische Disziplinierung solcher Fragen, im Grenzfall als deren Verbot wegen erwiesener Unerreichbarkeit ihrer Antworten auf zuverlässige Weise. Geregeltes Denken erscheint weit entfernt von bloßer Nachdenklichkeit. Aber viele Figuren der Philosophie sprechen gegen diese Trennung. War Sokrates ein Denker im Sinne solcher Strenge? Sein Ertrag wäre dann der dürftigste aller möglichen gewesen: Was konnte damit gewonnen sein zu wissen, daß man nichts weiß? Und was damit, sogar die anderen, die sich im Besitz von Wissen glaubten, ironisch hereinzuziehen oder hineinzutreiben in die Ratlosigkeit? Es sei denn, man versteht dies als Zurückführung des Denkens auf die Nachdenklichkeit als seinen Ursprung und Boden, den es zwar verlassen, zu dem es aber auch immer wieder zurückkehren muß.

Man mag dies den Boden der Lebenswelt nennen. Auf ihm hat die Philosophie alle Bezweiflungen ihrer Existenzberechtigung zum Erstaunen ihrer Totsager überstanden. Ich setze Philosophie nicht gleich mit Nachdenklichkeit, lasse sie aber ihre Herkunft von dieser und ihren Dienst an dieser nicht verleugnen. Der nach allen Regeln der Kunst sich absichernde und vor lauter Methodenreflexion am Gehen gehinderte ›Denker‹ ist nicht ausschließlich ihre Idealgestalt. Wären Sokrates, Diogenes, Kierkegaard oder Nietzsche sonst in ihre Geschichte eingegangen?

Sokrates hat im Kerker vor seinem Tod zu den Fabeln des Äsop gegriffen, die den Griechen von Kindesbeinen an vertraut waren. Dieser winzige Zug ist ein Hinweis, dem ich für einen Augenblick nachgehen möchte. Die äsopische Fabel ist ein Gebilde von großer und doch kunstvoller Einfachheit. Ich gebe ein Beispiel:

Ein Greis fällte einst Holz, lud es sich auf und ging eine lange Strecke. Der Weg ermüdete ihn. Er lud seine Last ab und rief nach dem Tod. Der erschien alsbald und fragte, weshalb er ihn gerufen habe. Der Greis antwortete: Um mir die Last wieder aufzuladen.

Man spürt, daß die kleine, die kleinstmögliche Geschichte, wenn man sich ihr überläßt, nachdenklich macht. Nichts weiter und nichts mehr als nachdenklich. Nun sind die unter dem Namen des Äsop überlieferten Fabeln mit dem, was sie erzählen, noch nicht am Ende. Sie haben Sprüche über das bei sich, was sie angeblich lehren sollen oder gesollt haben: ihr Epimythion, die Moral von der Geschicht’.

Seit je ist den Humanisten und Philologen das Mißverhältnis oder Unverhältnis dieser Lehrsprüche zu den Geschichten, denen sie zugeordnet sind, aufgefallen. Hat man sich auf die Nachdenklichkeit eingelassen, die die Fabel induziert, so ist ihre ›Moral‹, als das ihr vermeintlich abzulesende Resultat, oft nicht nur ernüchternd, sondern bestürzend und quälend in seinem Unverstand. Obwohl fast keine dieser Lehren als ganz falsch bezeichnet werden kann, haben sie etwas eigentümlich und unerklärt Unpassendes an sich.

Im Fall der von mir gewählten Fabel ›Der Greis und der Tod‹ steht da seit alter, aber vielleicht nicht ältester Zeit, die Geschichte (logos) zeige, daß jeder Mensch ein Lebensliebhaber (philózoos) sei, und dies sogar, wenn es ihm schlecht ergeht. Sicher nicht falsch, und doch enttäuschend. Nicht nur eine traurige Reduktion des Fabelsinns, sondern die Störung der gerade geweckten Nachdenklichkeit. Sie wird dazu genötigt, an der Banalität der Moral die Bedeutsamkeit des kargen Vorgangs zu messen; gezwungen zu dem Verdacht, ein solches Wunderwerk könnte wirklich auf diese Quintessenz hin erdacht worden sein.

Versucht man sich nun selbst darin, die vermeintliche Mitteilung der Fabel zu extrahieren, so bemerkt man schnell, daß jeder Satz, den man hier spricht, die Tiefe dessen verflacht, was nur in der Nachdenklichkeit umfaßt, nicht erfaßt werden kann. So richtig es sein mag, daß es keinen Grad der Miserabilität des Lebens geben kann, durch den dieses selbst völlig entwertet würde, es schließt zu vieles aus, als daß es akzeptiert werden könnte.

Nun möchte ich einen kleinen Schritt weitergehen, indem ich sage, die Nachdenklichkeit, die die Fabel bewirkt, habe es zu tun mit der Nachdenklichkeit, die sich in der Fabel darstellt. Der Greis, von dem erzählt wird, ist ja kein ›Denker‹, der zwischen dem Abwerfen der Last und der Ankunft des Todes eine Feststellung über den Unwert des Lebens geändert hätte. Aber er ist einer, der in der Verzögerung den Gewinn erfährt, den erst sie zuläßt. Er hat die unerträgliche Last abgeworfen, weil er zum Ende entschlossen ist und den Tod erwarten will. Doch das Abwerfen der Last gewährt ihm den Aufschub, Atem zu holen, sich umzusehen, die unter der Bürde unbeachtete Welt noch einmal anzublicken, um nun wahrzunehmen, was der Preis für die Endgültigkeit des Loskommens von der Last sein würde. Uber solcher Nachdenklichkeit tritt der Tod heran, wie gerufen; und es scheint, daß der Alte von ihm Verlängerung des Aufschubs erlangt, den er sich doch erst durch Überdruß am Leben verschafft hatte.

Die Fabel erzählt nichts von dem, was dem Greis durch den Kopf gegangen war, um den Tod als Helfer zum weiteren Tragen der Last zu bewegen, als sei er dazu gerufen worden. Eben durch das, worauf die Fabel verzichtet, gewährt sie uns den Spielraum der Nachdenklichkeit. Nachdenklichkeit stellt sich aber auch dar im Mißverhältnis von Fabel und Moral. Fast möchte man glauben, die Epimythia seien eigens dazu erfunden, Hörern und Lesern zu demonstrieren, wie wenig damit getan sei, eine Lehre aus der Geschichte zu ziehen, sie auf einen abschließenden und bequem transportablen Satz zu bringen – wogegen alles darauf ankomme, einen Zustand, eine Einstellung, eine Bedächtigkeit zu bewirken, die vor solchen Sätzen bewahrt. Nachdenklichkeit ist auch Aufschub gegenüber den banalen Resultaten, die uns das Denken gerade dann liefert, wenn nach Leben und Tod, Sinn und Unsinn, Sein und Nichts gefragt wird.

Mein Resultat – denn von Berufs wegen muß ich eins vorweisen – ist, daß die Philosophie etwas von ihrem lebensweltlichen Ursprung aus der Nachdenklichkeit zu bewahren, wenn nicht zu erneuern, hat. Deshalb darf sie nicht gebunden werden an bestimmte Erwartungen über die Art ihres Ertrages. Die Rückbindung an die Lebenswelt würde zerstört, sollte der Philosophie ihr Recht zu fragen eingeschränkt werden durch Normierung der Antworten oder auch nur durch den Zwang, sich die Frage nach der Beantwortbarkeit der Fragen schon von vornherein und zu deren Disziplin zu stellen.
Die Philosophie vertritt nur einen allgemeineren Befund an jeder Kultur: den der Ununterdrückbarkeit ihrer elementaren Bedürfnisse und Fragen durch deren vermeintliche Überwindung. Kultur ist auch Respektierung der Fragen, die wir nicht beantworten können, die uns nur nachdenklich machen und nachdenklich bleiben lassen. Heine hat über Kant seinen Spott ausgeschüttet, er habe die zweite Kritik, die der praktischen Vernunft, mit den Themen der Nachdenklichkeit: Freiheit, Existenz Gottes, Unsterblichkeit, nur seinem alten Diener Lampe zuliebe geschrieben. Wenn der Übermut des Spötters verklungen ist, wird man nachdenklich: Ob das nicht gar wahr sein könnte?

Man braucht die ehrwürdigen Namen nicht zu nennen. Lebensweltlich wollten und wollen wir wissen, woran wir sind. Und obwohl wir inzwischen sicher sein müssen, daß darauf keine Antworten zu formulieren und formulierte Antworten nicht durchzusetzen sein werden, lassen wir uns doch zum Verzicht nicht leicht, nur zeitweise, nur im Vertrauen auf Antwortersatz bewegen. Woran wir sind, daran denken wir, weil wir dabei gestört wurden, nicht daran zu denken.

Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war. Das ist alles.




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epitox hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 14:42

Was so ein einfacher copy/paste Fehler für Folgen zeitigt!! Normalerweise hätte ich ihn heute morgen mit externer Hilfe eines admins korrigieren lassen können ...
Dafür ist es auch noch nicht zu spät. - Es geht nicht um einen "copy/paste Fehler". Das ist geschenkt. Ein simples "oh, da hab ich was verwechselt" hätte die Angelegenheit im Licht der Heiterkeit belassen. Es geht darum, daß Du heute vormittag noch nachlegst und das Platon-Zitat gegen Blumenberg wendest ("Beides Getriebene"), so als ob es auf die Verwechslung gar nicht ankäme. Und nun versuchst Du sogar noch mit einem gewissen Stolz, auf diese Weise der Sache eine Pointe abgewinnen zu können ("eine willkommene Einführung in das Denken Blumenbergs") -

Die Administration/Moderation kann aus "Blumenberg" "Platon" machen und die Angelegenheit ist erledigt. -




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Vielleicht noch mal etwas ganz Allgemeines -

Die Absicht dieses Threads (wie auch des Nachbar-Threads) zielt weder auf psychologische Befindlichkeiten eines Philosophen noch auf religiöse Empfindlichkeiten seiner Leser. Wendungen wie "transzendente Unterhaltsleistungen" sollen der Prägnanz in der Sache dienen, nicht der Ignoranz gegenüber den Sachwaltern.

Rendezvous zwischen philosophischen und theologischen Ansprüchen können sich zu Speed-Flirts entwickeln mit Enttäuschungspotentialen auf beiden Seiten. Trotzige Bekenntnisse gleich welcher Couleur helfen dann meist nicht weiter. Was bleibt ist die beharrliche Beschreibung dessen, was man sieht und seine Sichtbarmachung für andere. Sich dabei im Schutzkreis von Texten aufzuhalten, ist nicht das Schlechteste. Allerdings kennen Texte keine Erbfolge. -

Ein Sich-Mokieren aus einer atheistischen Sicht oder aus einer "modernen" Sicht über theologische Traktate begibt sich eigenhändig um das Verständnis der Herkunft des Modernen. Man wird - davon bin ich allerdings überzeugt - die Gegenwart, in der man lebt besser verstehen können, wenn man die Wege, aus denen sie sich zur Moderne geformt hat, nachschreitet. Zeitdiagnosen sind anamnesepflichtig. Dazu bedarf es Akteneinsicht in Naturwissenschaft und Kunst, Philosophie und Theologie, verbunden mit der "Obligation, Menschliches nicht verloren zu geben" (Blumenberg). Die Aktualität dieser Obligation beglaubigt der flüchtigste Blick ins Zeitgeschehen. -




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Nauplios hat geschrieben :
Mi 21. Aug 2019, 15:11
Es geht darum, daß Du heute vormittag noch nachlegst und das Platon-Zitat gegen Blumenberg wendest
Erstaunlich wie verschieden die Wahrnehmungen sind! Ja, es gibt Unterschiede zwischen den beiden, aber sie sind gradueller Natur. Blumenberg verkörpert das Bild des Antreibers. Er treibt seine Leser an, seine Texte provozieren. Sie erschließen sich dem Leser nicht vollständig. Sie zeigen eine Unbegreiflichkeit, die der Leser überwinden muss, aber dafür muss er sich dieser Unbegreiflichkeit aussetzen und sich an etwas klammern und hoffen, dass er gerettet wird (Bild des Schiffbrüchigen). D.h. er kommt zur einer Erkenntnis, zur Einsicht. Platon hingegegen verkörpert eher den mütterlichen Typus, der den Leser/Schüler in seiner "Schiffbrüchigkeit" helfend zur Seite steht - natürlich nur zu in einem gewissen Grade, denn das Fünklein muss dem Schüler selber kommen.

Blumenberg: Bild des Maulwurfs: als Getriebener in der Philosophie/Theologie: blind, kein Ziel habend, unsystematisch arbeitend, tiefschürfend aber plötzlich auftauchend (Fünklein), macht den Boden lebensweltlich unsicher, weil er alles durchwühlt.
"Der Geist weht nicht, wo und wohin er will – und er weht eben gar nicht, sondern er wühlt. Damit ist ein Wechsel des Mediums; in Antiker Sprache: des Elements, verbunden. Denn’geweht wird in der Luft,’gewühlt wird im Boden. Das macht die Verschärfung aus, und das nicht nur und erst im Sinne der Radikalität, dass es im Boden an die Wurzeln geht. Das Wühlen im Boden’unterwühlt diesen, macht alle Sicherheit des Stehens und Gehens auf ihm dubios. Der Boden verliert seine Lebensweltfunktion, wenn in ihm gewühlt werden kann." (Höhlenausgänge, 645)




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Mi 21. Aug 2019, 18:32

Ergänzung zu oben:
Aber das Wühlen ist die Unruhe ohne Richtung, ohne Orientierung, die blinde Bewegung des Maulwurfs, bei der abgewartet werden muß, wo er sich herauswühlt.“(Höhlenausgänge, 646)




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