Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
Im Jahr 1853 erschien ein Buch von Karl Rosenkranz mit dem Titel Ästhetik des Hässlichen.
Ein kluger Kontrapunkt.
Karl Rosenkranz kannte ich noch nicht, ich habe, weil mir die Art zu denken gefallen hat, bei wiki nachgeschlagen und erfahren, daß Rosenkranz zu der Schule der Hegelianer gehörte und durchaus einflußreich war.
Zur Frage des Häßlichen.
Ein Wert kann nicht existieren ohne den Gegenwert, der vom Standpunkt des Wertsetzenden der Unwert ist. Das gilt freilich nur unter der Voraussetzung der Binarität. Es können auch multipolare Werte koexistieren. Theoretisch bedeutet das eine Mehrdimensionalität, die allerdings nicht lineare Unabhängigkeit aufweisen muß (wer sich das schwer vorstellen kann, denke an die Minkowskische Raumzeit).
Bei dem Wert des Schönen denkt man wahrscheinlich zuerst an das sogenannte Naturschöne, auf das wir unmittelbar mit positiven Gefühlen reagieren. Kunst jedoch emanzipiert sich von dieser Vorgabe. Sie vermag Häßliches in Schönes zu verwandeln. Das heißt allerdings nicht, daß sie die Wertung einfach invertiert, sie verändert nur die Kriterien, unter denen dann manches Häßliche schön wird, und manches Schöne häßlich. Um das als Rezipient zu realisieren, muß man der gesetzten Ordnung zustimmen und folgen können.
Die Soldaten.
Ich teile die Meinung der Musikkritiker, die dieses Werk für eine der besten, schönsten Opern der zeitgenössischen Musik halten. Und ich teile die allgemeine Wertschätzung des Komponisten, wie übrigens auch die seines Namensvetters Walter Zimmermann, der eine ganz andere Musik geschrieben hat.
Auf eine musikalische Analyse muß ich verzichten, die würde kaum jemanden ansprechen, hier kann es nur darum gehen, einmal hereinzuhören und zu versuchen, sich dabei einzuhören. Mit der Vertrautheit wächst die Möglichkeit, der Schönheit gewahr zu werden.
Das Schöne in der Kunst ist ein vielschichtiger Begriff, um das Mindeste zu sagen. Er kann das Gefällige bedeuten, selten das Hübsche, manchmal das Faszinierende und anderes mehr. Einige Autoren sind jedoch der Meinung, dass das Schöne in der Kunst einfach das Gelungene ist. Das Hässliche ist dann nicht unbedingt analog als das Misslungene zu verstehen. Was man beispielsweise als hässlich empfindet, kann durchaus Teil eines gelungenen Kunstwerks sein. Umgekehrt wird das, was durch und durch schön und ohne Brüche ist, manchmal als misslungen empfunden, weil es langweilig und eintönig ist.
Was der Begriff "schön" jeweils bedeutet, wo der Schwerpunkt liegt, muss sich immer an der Autonomie des Werkes selbst bemessen.
Zumindest nicht in der , nach meinem Gefühl , doch sehr "durchgeknallten" Art ...
Eberhard Webers Bassspiel ist alles andere als "durchgeknallt", es paßt durch seinen Kontrast sehr gut zu Kate Bushs ätherisch-engelhaft zarten, auch etwas flachen Stimme. Webers Bass ist tragend, melodiös, erdig, ein perfekter Kontrapunkt zu Bush.
.. wie dem auch sei ..
...
.. vor die Wahl gestellt , zu entscheiden welche Musik schöner ist, so gehe ich mit dir jede Wette ein, dass sich die überwiegende Mehrheit für Kate Bush entscheiden würden und du kannst uns doch sicherlich auch sagen , warum ....
. Die rationale Analyse ersetzt nicht das Kunsterlebnis, aber sie tötet es nicht und kann es bereichern. In diesem Sinn würde ich hier gern über Musik sprechen, bevorzugt über klassische, da sie besonders ergiebig ist, aber gern auch über andere.
.. zeugt doch deine hier , in diesem Thread bisher vorgeführten rationalen Analysen zu anderen Musiken , von profunden Kenntnissen in der Musiktheorie.
Übrigens
Beim Anhören von Eberhard Webers Bassspiel an der Stelle 1:09 Min blitzte in mir die Erinnerung an folgendes wieder auf ..
Wo wir schon mal dabei sind , so würde ich davon ausgehen , dass auch in diesem Fall Eberhard Webers Bassspiel das Nachsehen hätte.
Eberhard Weber und Wolfgang Dauner haben in ihren Karrieren zu kongenialer Zusammenarbeit gefunden. Ich stelle hier einen der raffiniertesten Einfälle von Dauner vor, "Wendekreis des Steinbocks", das in a-Moll steht und stehen muß, da es auf der modalen Struktur unserer Tonleiter mit weißen und schwarzen Tasten aufbaut und so, solange es modal bleibt, dem Spieler maximale Schnelligkeit erlaubt, da er fast nicht falsch spielen kann, indem er den Tonraum der weißen Tasten nicht verläßt, und ihn wunderbar verlassen kann durch Anspruchnahme der schwarzen Tasten. Das kann man schön in dem ersten Video beobachten, einer wunderbaren Aufnahme mit Mangelsdorff und Lauer. Es beginnt mit einer Kombination von einem linke-Hand-Ostinato, das in der Themenvorstellung durchgehalten wird, und einer ebenfalls weitgehend durchgehaltenen Wellenbewegung in Terzen der rechten Hand, die nur unterbrochen wird, um das in/gegen diesen Klangteppich gelegte Thema des Stücks, eine Kadenzformel, nämlich A-c-c-H-G-E-A', zu unterstützen. Diese Kadenzformel wird eingebettet in die größere diatonische (A'-)F'-E'-D'-C'-H''-A''. wunderschön, wenn diese Formel verletzt wird, indem nicht H'', sondern B'' gespielt wird, dieser leiterfremde kleine Sekundschritt.
Zu den Improvisationen über das Thema will ich gar nicht viel sagen, Mangelsdorff hat selten besser, hochkonzentriert, ohne Mätzchen, gespielt als hier, und Lauer ist ebenfalls voll präsent. Wunderbar, wie die Soli aus der Wellenbewegung aufsteigen, sich individualisieren und wieder im Meer der ewigen Wellen versinken. Leider ist das Ende des Stückes abgeschnitten, aber ich wollte auf seine Vorstellung nicht verzichten.
Und hier nun, vielleicht ist weniger in diesem Fall noch besser, denn hier ist das Stück trotz größerer Besetzung noch mehr auf den Punkt gebracht, die Kadenz orchestral verdichtet zu A'-F'-D'-B''-A'' (Terzschichtung, die der Pianowelle entspricht), eine Version des United Jazz und Rock Ensemble, mit Eberhard Weber. Besser kann man den Bass nicht singen lassen. Und ergreifend, wie ab 6:22 eine Basslinie aufnehmend das Orchester eine Tonikaschleife aufbaut und in 7:33 ihre endgültige Gestalt erreicht und endet.
Heute ist mir wieder dieses Motiv durch die Ohren gelaufen, das ich bisher als "Seufzermotiv" verstanden habe. Und mit diesem plakativen Beispiel hier kann ich endlich Dich als Experte konkret fragen: Ist dieser Halbtonschritt nach unten, genau bei 00:18, in der Fachsprache ebenfalls ein sogenanntes "Seufzermotiv"?
Das ist, unter anderem, oft bei Mozart zu hören -- und leider auch in Beethovens Gesamtwerk ein oder zwei Mal, wobei ich seine Klaviermusik nicht besonders kenne. Aber in einer seiner Sinfonien -- ich weiß grad nicht mehr, in welcher -- kommt das ein Mal vor. Ich finde diesen Ton sehr schleimig-neckisch und bieder; diese Biedermeierei macht alles kaputt, finde ich. Da bin ich halt doch zu sehr Rock'n'Roller. Deshalb überrascht mich das auch bei Beethoven.
Und Schostakowitsch ist ja nun auch nicht gerade ein Mauerblümchen des Biedermeiers. Vielleicht verlangte Stalin von ihm, dass er diesen Schleimton reinsetzt.Edit: Ich ziehe den Scherz zurück; ist nicht witzig.
Mit 0:18 meinst Du sicher den Halbtonschritt (lang auf betontem, kurz auf unbetontem Taktteil) nach oben gis-a, auf die Quinte von d-Moll. Man kann das als Seufzer sehen, ein Seufzer der Erleichterung, aber man muß nicht. Diese Halbtonschritte kommen zu oft auch isoliert in der klassischen Musik vor, als daß man sie alle als Seufzer hören müßte.
Das Stückchen von Schostakowitsch ist tatsächlich etwas biedermeierlich schlicht, allerdings kann es bei einem völlig ungebildeten Publikum, für das es offensichtlich geschrieben ist, durchaus einen Ohrwurmcharakter entfalten.
Es ist noch nicht so lange her, daß ich eine Musik vorgestellt habe, die mich immer wieder begeistert, aber offensichtlich auch das Gegenteil bewirken kann, denn mindestens einer Foristin ist sie total auf den Nerv gegangen.. Keineswegs um besagte Dame zu ärgern, aber ich kann einfach nicht darauf verzichten, hier etwas nachzulegen, ich will damit nicht provozieren, sondern begeistern, Ohren und Herzen öffnen. Also Carla Bley, zum zweiten.
Carla beginnt mit einem Einzelton auf dem Klavier, g. Dann singt Julie Tippetts (das ist die kristallklare Stimme von Julie Driscoll, die das Rockpublikum mit "Season of the Witch" elektrisiert hat) dazu cis-g-e-fis-g-cis-fis-e-cis-g-e-fis. Bemerkenswert, das cis ist der Tritonus zu g, hier wird die alterierende Tonleiter cis-dis-e-fis-g angesungen. Und in der Wiederholung: e-fis-g-cis-fis-cis-g-e-fis-g-cis-fis. Trotz des unaufgelösten Akkords der Terzschichtung hört man selbstverständlich durch das Klavier-g einen Vorhalt zu g-Moll, andrerseits - empfindet man die insistierende Stimme stärker, dürfte man eher Unbestimmtheit, aber noch stärker e-Moll hören (mit dem, was ich schon in diesem Thread ganz scharfes Moll genannt habe). Ein faszinierender Klang aus einem Klavierton und einer monotonen Gesangsphrase. Kann man sanfter und unbeirrter zugleich ein wundersam-trauriges Liedchen anstimmen?
Betrachte ich es als Eingangsakkord, so wird cis-e-g aufgelöst in g-Moll (bei 0:22), die leere Quarte gespielt und den Akkord d-g-b, aufsteigend gesungen. Wir sind nun eindeutig in g-Moll, aber die Gesangsstimme mäandert um das g-Moll herum, c-as statt d-g, ges-des statt g-d, dann mit raffiniert unsicherer Intonation c'-cis'-c'-a-h, worauf das Klavier auf den einen Ton b absinkt, begleitet vom D des Cellos nun in versöhnlichem B-Dur, die akkordische Grundlage von 0:55 bis 1:15, dieses D-b wird umsungen von H-d-g-g-fis-cis-dis-dis, das D-b wird dann durch das noch sanftere, aber sonore A'-D ersetzt, was den Wechsel von B-Dur nach D-Dur bedeutet, eigentlich eine entspannte, elegische Entwicklung, die jedoch kontrapunktiert wird durch die bedrohliche, zumindest drängende und nervös das g repetierende Stimme (1:15 - 1.34), wobei ein wenig ambivalent bleibt, ob der Gesangston die "falsche" Quart zu D-Dur ist oder die Septime zu A-Dur, mit dem "falschen" D. Tatsächlich passiert die Umdeutung von D zu A (A') in diesem Akkord, denn die Musik wird tatsächlich in A-Dur fortgesetzt. Damit ist der emotionale Höhepunkt erreicht, die schmachtende Kantilene "Even the end Minding in the ocean", die nach dem Wechsel von A-Dur zurück zu D-Dur von David Hollands Cello fortgesetzt wird: es'-d'-b'-a'-es''-d''-g''-ges''. Genial. Um wieder in D-Dur zu landen.
Damit endet die taktlose, fast bewegungslose musikalische Einleitung bei 1:57, eine Art Rezitativ, sie wird durch eine scharf getaktete, rastlose Dauerschleife ersetzt, nicht zu vergessen die arhythmischen Einschübe 2:18 - 2:33, als würde im Getriebe hochgeschaltet, Ruhe schlägt um in das Tempo der Wildnis, die subjektive einsame Stimme weicht der tropischen Fülle von Fauna und Flora, und mit dem Urwald kennt sich Gato Barbieri bestens aus, der Mann aus der Pampa trifft perfekt den Jungle-Sound und steigert sich in Extase, erhitzt die anderen Mitspieler bis zu den entfesselten Keyboard-Clustern von Carla, die Musik findet im ermattenden bzw leerlaufenden Bass-Solo von Steve Swallow und der angehaltenen Kadenz 6:56-7:16 zum Thema von Gato zurück, bis sie abrupt von einer das Chaos im Marsch bändigenden Musik einer marching band abgelöst wird, die langsam weiterzieht. Da kann man gerne an Charles Ives denken. Als Coda in Form des intimen Anfangs wird noch der Musiktitel zitiert.
Ziel dieses Blogs ist ja, die Schönheit der Musik soweit wie möglich rational zu beschreiben. Ich greife hier ein sehr bekanntes "Salonstückchen" auf, den vielleicht delikatesten Walzer, den Chopin komponiert hat, und möchte die Ohren auf einen Punkt in diesem Stückchen lenken, an dem paradigmatisch eine Entscheidung für die Schönheit getroffen wurde, und ich hoffe, daß sie verstanden werden kann.
Chopin ist für mich nicht der bedeutendste Komponist der Romantik, obwohl er der einflußreichste Vertreter dieses neuen, die Stilistik der Klassik ablösenden und einem veränderten Lebensgefühl Rechnung tragenden Musikstils sein könnte. Für mich bringen etwa Schubert und Franck diesen romantischen Gestus noch überzeugender vor. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß auch bei Chopin, im Unterschied zu manch seichtem Romantiker, Musik auf dem hohen erreichten Niveau des musikalischen Denkens, das weniger explizit als intuitiv beherrscht wird, komponiert wird. Daher liegt für mich die Bedeutung Chopins weniger in dem, wofür er vom Massenpublikum so geliebt wird, sondern in dem, was von den meisten überhört wird. Chopin war ein exzellenter Kontrapunktiker, und so bewundere ich mehr den Bach in Chopin als den Erfinder gefühlvoller Melodien oder ergreifender Ohrwürmer (man denke an seinen Trauermarsch aus der Sonate), der er zweifellos auch war.
An Gefühl mangelt es dem cis-Moll Walzer op. 64.2 sicher nicht. Aber welch perfekter Kontrapunkt der linken Hand gegen die rechte Melodie ob im A- oder im B-Teil (ab 0:54). Der Kontrapunkt ist es auch, der verhindert, daß in diesem sextenlastigen Stück, hauptsächlich, wo es sich nach Dur wendet, die Musik in Kitsch gleitet. Ich möchte aber eine ganz bestimmte Stelle beleuchten, das Ende der in repetierten Noten chromatisch absinkenden und sich verlangsamenden Bewegung bei 0:29. Dieser Lauf geht bis zum h und hat dann keine Zeit mehr, strukturell bis zum gis fortgesetzt zu werden, das ist aber der Endpunkt, die Quinte zum Grundton, die er erreichen muß. Nun könnte der Lauf mit b oder a fortgesetzt werden, da er noch in der Dominante steht, wäre b der (tonleitermäßig) richtigere Ton, Chopin wählt aber den viel eindrucksvolleren a, der nicht dem gis-Moll der Dominante, sondern der Moll-Sexte des Ziels cis-Moll entspricht. Das ist wunderbar, gerade weil es mehrdeutig ist und gegenüber b dissonant wirkt.
Auch Wolfgangs Versuche, das "Schöne in der Musik" als eine menschenunabhängige objektive Schönheit zu beschreiben, sind meiner Ansicht nach seinem Ziel keinen Millimeter vorangekommen.
Es mag sein, daß ich hier keinen Millimeter vorangekommen bin. Entweder hört man, was ich sage, oder man hört es nicht. Auf den Prozeß, Neues strukturell hören zu können, habe ich kaum Einfluß, etwas mehr Einfluß hätte es, wenn die vorgestellte Musik intensiv gehört würde, aber ich wundere mich nicht darüber, daß das nicht passiert und daher sich keine Erkenntnis über Schönheit einstellt, die über das hinausgeht, was man schon kennt.
Im großen gesellschaftlichen Experiment jedoch kann man es beobachten. Der "Sacre" hat einen Skandal ausgelöst, oder das berühmte Watschenkonzert. Heute ist das nicht mehr vorstellbar. Die Leute gehen massenhaft in die Konzerte und lieben diese Musiken. Natürlich sind diese Konzertbesucher nur eine kleine Minderheit, aber das waren sie auch, als sie sich maßlos über die neuen Töne aufgeregt haben.
... etwas mehr Einfluß hätte es, wenn die vorgestellte Musik intensiv gehört würde, aber ich wundere mich nicht darüber, daß das nicht passiert und daher sich keine Erkenntnis über Schönheit einstellt, die über das hinausgeht, was man schon kennt.
Das trifft nicht auf mich zu. Ich höre intensiv und fast schon autistisch zu, erkenne die von Dir beschriebene Struktur des vermeintlich objektiv "Schönen", aber ich weiß immer noch nicht, warum das jetzt objektiv sein soll statt subjektiv, zumal ich persönlich -- trotz Erkennens -- nicht alles darin schön finde. Wenn das tatsächlich objektiv sei, dann muss das doch auch auf mich als Erkennenden und Verstehenden genau so schön wirken wie auf Dich. Jetzt kannst Du natürlich immer sagen, ich missverstünde Deine Beschreibung. Und ich kann immer sagen, ich verstünde sie sehr wohl. Das Unterfangen ist doch sinnlos, Loide.
Wenn das tatsächlich objektiv sei, dann muss das doch auch auf mich als Erkennenden und Verstehenden genau so schön wirken wie auf Dich.
Nein, so meine ich das nicht. Wenn Du die Struktur verstanden hast, mußt Du sie noch lange nicht mögen. Wenn sich für Dich nichts emotionales damit verbindet, wird es Dich nicht ergreifen. Wenn ich sage, daß man die Schönheit objektiv erfassen kann, dann nicht in dem Sinne, daß sie schön ist, weil sie die Struktur realisiert. Daher meine ich ja auch nicht, daß die Analyse das Erlebnis ersetzen kann. Stell Dir also die umgekehrte Frage, warum gefällt Dir ein Stück oder besser eine Stelle, die ich vorgeschlagen und analysiert habe. Versuche also das nächste Mal, darauf eine eigene Antwort zu geben. Wenn Du dann etwas ganz anderes benennst, einen ganz anderen Grund findest, dann war meine Erklärung nicht verallgemeinerbar. Ich denke, daß der, dem meine Musikbeispiele gefallen, in der Regel auf keine bessere Erklärung kommt. Und wenn die Struktur in einer Musik gefällt, wird die gleiche Struktur auch in anderer Musik gefallen. Das Schönheitsempfinden schlägt sich in objektiven Strukturen nieder. Daher hat man Lieblingskomponisten. Denn die haben eine persönliche Musiksprache. Man liebt nicht einzelne Kompositionen und verwirft andere, sondern man hat eine Affinität zu der spezifischen Machart.
Es gibt wenige Komponisten, die beginnen groß und enden kläglich, es gibt deutlich mehr Komponisten, die ihre besten Sachen in hohem Alter zustande gebracht haben, die meisten sind in ihren mittleren Jahren auf dem Gipfel ihrer Kunst. Die wirklich bedeutenden Komponisten präsentieren sich zwar in ihren Werken unterschiedlich gut, aber mit seltenen Ausnahmen immer auf überragendem Niveau. Ich möchte diesmal über einen der bedeutendsten russischen Komponisten sprechen, Sergei Prokofjew, und sein erstes Klavierkonzert. Es ist noch in Studienjahren komponiert und ist dennoch das beste, das er geschrieben hat. Es ist durchaus zu Recht als gelegentlich oberflächlich, mit leerlaufender musikantischer Virtuosität durchsetzt kritisiert worden. Und tatsächlich hat sich das Prokofjew wohl zu Herzen genommen und die trivialen, nicht die einfachen Töne aus seinen folgenden Kompositionen verbannt, in dieser Hinsicht sind die anderen Klavierkonzerte vielleicht handwerklich besser gemacht. Aber er hat selten die Suggestivität und Raffinesse der kontrastierenden Einfälle wie in diesem sich auf den Leib geschriebenen Konzert (Prokofjew war ein hervorragender Pianist, bevor er sich aufs Komponieren konzentrierte) erreicht.
Wenn ich nach einem Werk suchen müßte, das den jugendlichen Optimismus, Sturm und Bedrängnis artikuliert, böte sich dieses Werk an. Aber bevor ich konkret auf die Musik eingehe, möchte ich eine allgemeine musikästhetische, auch auf alle Künste übertragbare Überlegung vorausschicken, die dieses Konzert besser verstehen läßt.
Es mag eine kontemplativ erfahrbare Naturschönheit geben. Die Schönheit der Kunst, das Ästhetische, ist eine kommunikative Erfahrung, sie hat wesentlich mit dem Prozeß und Progreß des sozialen Verstehens zu tun. Das Kunstschöne ist ein kommunikatives Angebot, das vor allem, in der Musik mehr als in anderen Künsten, emotional angenommen oder verworfen wird, im ersteren Falle nennen wir es schön. Schönheit ist die Notwendigkeit, Stimmigkeit des Nichtnotwendigen. Es hat primär keine andere Funktion als in dieser Form angenommen, genossen zu werden. Und der erste, der dies annehmen muß, ist der gestaltende Künstler. Er arbeitet mit den vorhandenen Sprachen der Kommunikation, aber er ist auch kreativ, wo sie nicht ausreichen.
Die Sprachen sind der Ordnungsrahmen, die Ausdrücke, Sätze in der Sprache sind das Ordnende. Die informative Sprache hat die Funktion, die Ordnung der Welt sprachlich zu rekonstruieren bzw modellieren, dann reden wir von Wahrheit. Die künstlerische, ästhetische Ordnung bedient sich zwar teilweise der informativen Sprache, ich würde sogar sagen immer, insofern sie immer auf semantisch Gehaltvolles zugreift, das muß nicht wahrheitsfähig sein, das gilt sogar für die abstrakteste Kunst, aber ihre Hauptfunktion ist eine andere. Nicht was die Ordnung ist, sondern wie sie sich ausdrückt, ist ästhetisch entscheidend. Ich muß nicht etwas Richtiges sagen, ich muß es richtig sagen, am überzeugendsten, wirkungsvollsten, eindrücklichsten.
Zum künstlerischen Ausdruck gehört also eine syntaktische und eine semantische Komplexitätsreduktion. Etwas erkennbar sagen zu können, heißt, daß jeweils beim Sender und beim Empfänger mit einem bestimmten sprachlichen Ausdruck immer das Gleiche (nicht unbedingt, aber möglichst dasselbe) verbunden wird, die Wiedererkennbarkeit von Sprachobjekten. Bei einem Musikstück sind das Tonhöhen, Tondauern, auch Tonfarben auf der elementaren Ebene, und dann die strukturellen Beziehungen zwischen den Elementarausdrücken. Sie müssen wiedererkennbar sein. Gleichzeitig dürfen die Ausdrucksfolgen nicht zu einfach sein, sich zu sehr wiederholen, denn dann werden sie langweilig. Ein schönes Musikstück hält die richtige Balance zwischen (Wieder-)Erkennbarkeit und überraschendem Kontrast. Das ist die rational leichter erfaßbare syntaktische Ebene der Schönheit. Die schwierigere, zu einem großen Teil nicht objektivierbare Wirkung wird auf der semantischen Ebene erzielt. Wenn Musik, was nur von wenigen derer, die intensiv über Musik nachdenken, bestritten wird, eine semantische Dimension besitzt (Adorno hat einmal die Frage gestellt "Sind Töne nichts als Töne?", ich weiß nicht mehr, ob das ein Essaytitel ist oder ein Ausdruck, der in einem Rundfunkvortrag gefallen ist), dann ist die Wirkung der Schönheit auf die Suggestivität der Gestalt annehmenden musiksprachlichen Ausdrücke zurückzuführen. Auch hier muß das richtige Verhältnis von Wiederholung (Redundanz) und Abwechslung (Kontrast) gefunden werden.
Das einsätzige Klavierkonzert ist eine Art Rondo mit der Großform A-B-A'-C-A°, das Rondothema zählt 24 Takte (+ 2 Vor-, 1 Nachtakt), besteht aber aus einem einzigen eintaktigen Motiv, das ständig, mit einer winzigen Modifikation, und transponiert, wiederholt wird, 23 mal. Wer das nicht wiedererkennt, hört Musik zum ersten Mal. Prokofjews Musik ist sehr motorisch und von daher prädestiniert für Repetitionen und Sequenzialisierungen, hier treibt er es auf die Spitze. Ein Mittel, den diachronen Verlauf der Musik zu ordnen, also die Vielfalt durch wiederholte markante Tonfolgen zu reduzieren, einem Musikstück Charakter und Notwendigkeit zu verleihen, ist die Melodie. Solche Melodien müssen eingängig sein, insbesondere, wenn sie sehr lang sind. Hier ist jedoch die Melodie auf das minimalistische Motiv einer Viertonfolge im Intervall einer Terz geschrumpft, einfacher geht es kaum (naja, Beethovens V. kommt mit g-g-g-es aus); die Melodie besteht in der Repetition und Versetzung des Motivs: g-as-ges-f.
Das ist, nur noch etwas symmetrischer, fast identisch mit dem berühmten B-A-c-H, wird auf dem zweiten Ton betont, und durch die Stellung im Takt auch auf dem letzten, ohne explizit (durch Vortragsbezeichnung) betont zu werden, dadurch hört man es als spiegelsymmetrisches Gebilde g-as│ges-f. Dadurch hört man aber auch die tonalitätserzeugende kleine Terz. Dieses Motiv schraubt sich in der Folge von Quart-großer Terz-kleiner Terz um eine Oktave hoch, wobei der Aufstieg einer in den Intervallen des Dur-Dreiklangs ist, der dann notwendigerweise von Dur in Moll und wieder zurück in Dur erfolgen muß. Nicht genug mit dieser melodischen Entwicklung, wird sie harmonisch eingebettet in die Harmoniefolge Dur-Dur-Dur-Moll-Moll-Moll-unbestimmt Dur (große Terzschichtung)-Dur-Dur-Dur, mit dem Durakkord As'-Des-F-As, dem Mollakkord B'-Des-F-B, dem unbestimmten A'-Des-F-A, und zurück zum Ausgangsakkord. Genial. Wunderschön.
Und dann geht es raffiniert wieder die Oktave absteigend, wobei das Terzmotiv in eine diatonische Doppelterz (Doppelterz ist eine Terzschichtung, ein Dreiklang aus Terzen, gT+kT=Dur, kT+gT=Moll, gT+gT=Dur-artig unbestimmt, kT+kT=Moll-artig unbestimmt) verwandelt wird und im Fortgang die chromatische Verschiebung nach unten durch Verwendung des Terzmotivs als Durterz suggestiv gemacht wird, nochmals genial.
Aber dies wäre ein falscher, nicht zum Thema passender Schluß, also ist die Rückkehr zum Anfang nur das Luftholen zu einem noch dezidierteren Aufstieg, der jetzt, nach den dreioktavigen Parallelen vom Klavier noch massiver vom Orchester übernommen wird und bei der Duodezime (Oktave+Quinte) in einem strahlenden Dur endet, das die Kraftanstrengung beim Hochschrauben nicht verleugnet, den Höhepunkt also als ultimativ erscheinen läßt.
Ich beende hier vorläufig meine Analyse, um die geneigten Leser, die mir bis hier gefolgt sind (wenn es solche gibt), nicht zu überfordern, denn die Analyse muß so dicht sein wie das Musikstück, und wem das nicht geläufig ist, der muß eine hohe Konzentration aufbringen. Aber ich werde demnächst die Analyse fortsetzen.
Ich möchte meine Betrachtung des 1. Klavierkonzerts von Prokofjew fortsetzen, denn so mitreißend dessen Beginn ist, den größten Effekt erzielt der Komponist mit einem Wechselbad von Dur und Moll sowie schnell und langsam, wie es in der Konzertmusik üblich ist, indem er zwei Prinzipien des Rondothemas variiert und so dem Werk trotz seiner schillernden Erscheinung einen einheitlichen, zwingenden, verführerischen Charakter verleiht.
Der B-Teil beginnt mit einer wilden Fortsetzung der vom Thema mobilisierten positiven Energie, die die Semantik von Dur, Repetition (das Motorische), des g-as-(ges-f) und dem Oktavanstieg darstellt. Das Ziel dieser Beschleunigung und der noch folgenden schnellen Satzteile ist die Erzeugung eines starken Kontrasts zu den langsamen Mollteilen, die zum schönsten gehören, was Prokofjew je komponiert hat, und damit um so heller die Apotheose der Schlußwiederholung einleitet.
Das eine Prinzip des Kopfteils ist die schon erwähnte Sequenzierung/Sequentialisierung, die meist wörtliche Versetzung eines Motivs. Versetzung eines Motivs kann als harmonisches Narrativ gehört werden, also das Motiv als eine Einheit, durch deren Versetzung ein harmonischer Gang, ein Durchlaufen einer harmonischen Entwicklung zustandekommt (das möchte ich abweichend vom häufigsten Sprachgebrauch "harmonische" Sequenzierung nennen). Im Unterschied dazu ist die "melodische" Sequenzierung ein chromatisches, diatonisches oder in anderen Tonleiterschritten durchgeführtes Sequenzieren, welches die Tonart befestigt. Beides findet bei Prokofjew reichlich Anwendung. Sequenzierung ist die Haupttechnik zur Erzeugung der Fingerfertigkeit, so ist sie die beherrschende Methode in Übungsstücken. Ich vermute das als Grund der von Fachleuten gelegentlich vorgebrachten Kritik an diesem Werk von Prokofjew, seiner angeblich leerlaufenden Schematismen. Es war Chopin mit seinen großen Etüdenzyklen, der das Übungsstück zu höchster Kunst adelte. Und Prokofjew steht in dieser Tradition.
Hier sei mir eine kleine Abschweifung gestattet. Der Geigenvirtuose Niccolo Paganini hat schon vor Chopin für sein Instrument die Fingerübung in höchst anspruchsvolle künstlerische Virtuosität verwandelt, am extremsten in seiner Caprice Nr. 24, die viele Komponisten zu bedeutenden Transkriptionen und Bearbeitungen veranlaßt hat, ua Liszt, Brahms, Rachmaninoff, am schönsten vielleicht Witold Lutoslawski. Dabei ist bemerkenswert, wie schon Liszt die Tonsprache verändert, bei Lutoslawski wird das Original durch minimale, aber extrem effektive Eingriffe zu einem Werk moderner Musik, eine Transformation, welche auch Hindemith in seinen Weber-Metamorphosen gelingt.
Das ist die gleiche Sequentialisierungstechnik wie Prokofjew. Besonders schön in dem zweiten Motiv, das dem Rondomotiv ähnelt als auch dem Paganinimotiv: Es ist wiederum in Des-Dur, aber es kreist nicht um die Quinte as, sondern um die Terz f, statt as-ges-f-g-as: repetiert f'-c'-des'-es'-f', geht statt von Des-Dur auf b-Moll von Des-Dur auf die Dominante As-Dur mit repetiertem b, dann über Dur-unbestimmt c-e-as-c' zurück zur Tonika. Dann wird auf des-Moll gewechselt mit repetierter kleiner Terz e', notiert als cis-Moll (=des-Moll), über das unbestimmte c-e-as-c' wird auf die Tonika Des-Dur zurückgeführt. Dieses zweite Motiv ist eng verwandt mit dem ersten, aber noch mehr mit dem Paganinischen a''-a'-a'-c''-h'-a'-e''-e'-e'-gis'-fis'-e'-a'-a-a-c'-h-a-usw, vermutlich hatte Prokofjew diese Caprice im Ohr, als er das Klavierkonzert komponierte.
Zurück zum Klavierkonzert. Da muß ich als durchgängiges Konstruktionsprinzip noch das rhythmische Grundmuster erwähnen, das Motorische dieser Musik liegt an den vielen Repetitionen, schnellen Läufen und an der Bevorzugung punktierter Rhythmen. Letztere haben die Form 1-4-1-4- (oder 3+1-3+1-). Das Hauptthema bildet zwar eine gleichmäßige Viertelbewegung, allerdings muß man die Betonung berücksichtigen, dann ist man bei dem 4(Auftakt)-1-4-1-4-, und dieser punktierte Rhythmus wird sich durchgängig zeigen wie die schnellen, teils extrem schnellen diatonischen Läufe. Bleiben wir aber erst einmal bei der Motivik.
Bemerkenswert, wie in Takt [11]-4 in C-Dur moduliert wird, alle Vorzeichen werden aufgehoben. Dies zeigt eine weitere sehr dominante Charakteristik, die Tonartverschiebungen um eine kleine Sekunde. ich spare mir, all die Stellen zu benennen, an denen Prokofjew musikalische Passagen um einen Halbton nach oben oder unten transponiert, wer sucht, wird leicht fündig werden. Eine Stelle möchte ich jedoch erwähnen, weil sie so naheliegend wie ungebräuchlich ist. Der kleine Sekundschritt ist ja die Kadenzformel, nach oben oder nach unten auf den Grundton, sie kann aber als verzögerte Kadenz benutzt werden, indem sie auf die Quinte zielt, und damit den Kadenzfall von der Quinte auf die Tonika einschiebt, die Regel bei der Schlußkadenz. Dies geschieht vier Takte vor [7] in den Takten 88-92 mit dem Wechsel a-as-a-as- (a=Doppel-b vor h) und gis-a-gis-a- in den Takten 79-87.
Diese Kadenz ist jedoch keine Schlußkadenz, sondern wie alle ausschließlich der letzten, ultimativen, ein Schluß und Neustart. Es geht weiter bei [7] in Des-Dur mit dem zweiten Hauptthema, einem sequenzialisierten Motiv im Unterschied zum ersten Hauptthema im Intervall der großen statt der kleinen Terz, aber dem harmonischen Gang von Dur(Tonika-Dominante-Tonika)-Moll-unbestimmt Dur-Durtonika. Und hier sind wir in dem vorher erwähnten punktierten Rhythmus, der mit dem vewandten triolischen ergänzt und kontrastiert wird.
Vor und mit [12] endet die Durchführung des zweiten 'Themas auf der Tonikaquinte, das Tempo wird radikal verlangsamt und auf der Quinte der Mollparallele fortgesetzt. Vom zweiten Thema bleibt in der Mollvariante, ich möchte sie das Trauerthema nennen, weil sie einem schleppenden Trauermarsch ähnelt (man könnte aber auch Schmerzensthema sagen, denn sie artikuliert ein unstillbar offenes süß-sauer), nur das rhythmische Motiv in Vierteln statt Achteln und harmonisch zusammengezogen auf Molltonika-unbestimmt dominant (durch den "falschen" Edelstein des f - des aufgelösten fis von e-Moll -, das die kleine Terzschichtung der e-Moll-Dominante h-Moll H-d-f mit dem Tritonus H-f bereichert)-Molltonika. Besser kann man die Einheit in der Differenz nicht verweben. Und dann zieht sich über den leeren Quinten, Quarten, Oktaven des Klaviers der orchestrale Mollakkord nach diesem harmonischen Muster wellenförmig auseinander und zusammen, von der Mollterz zum oben beschriebenen Tritonus H-f: eingerahmt von e-h bzw H-e-h öffnet und schließt sich g-gis+ges-f+a-gis+ges-g, der dritte Schritt wird allerdings oft ausgelassen, die Musik bleibt auf dem Tritonus stehen. Das ist mit den minimalen chromatischen Schritten das volle Ausschöpfen der Ausdrucksbreite: Moll (der reine e-Moll-Dreiklang), dann Dur mit großer Sekunde (e-fis-gis-h), dann die Unbestimmtheit der Ganztonleiter mit dem in ihr enthalenen Tritonus (H-dis-f-a), dann zurück über Dur, das auch H-Dur sein könnte, auf e-Moll.
Zur Wiederholung schwingt sich dann das Soloklavier in den wunderbaren Triolen der Takte 73 und 74 zu einer heftig bewegten Umspielung des langsamen Themas im Orchester auf, wobei dieser Triolenlauf aus zwei sich umeinander hochrankende Linien besteht (das ist der Grund, den punktierten Rhythmus in die Triolen zu transformieren), der Terzschichtung E-G-H-d-f-a und der sich aufspreizenden Chromatik es-e-f-g-a-d'*, die zweite Hälfte wird von e-Moll auf d-Moll verschoben und so wird der Übergang zur Subdominante a-Moll vermittelt.Schließlich wird die Musik unter Sekundverrückung angehalten - und stretto fortgesetzt. Dadurch gelingt eine organische Überführung in das Kopfthema.
Falls noch jemand mitliest, ich will hier meine Analyse langsam beenden, obwohl noch viel Bemerkenswertes passiert, aber als Vorlage zum Besprechen ist der Text ohnehin schon viel zu lang geworden, wenngleich das der Multivalenz der Musik entspricht. Aber ein paar Hinweise kann ich mir nicht verkneifen, zB den Hinweis auf die faszinierende Verwandtschaft der anderen, nicht weniger ausdrucksstarken langsamen Teile. Da ist das zweite, ich würde es Sehnsuchtsmotiv nennen, das ab [21]=Takt 269 in gis-Moll den Rhythmus des ersten nicht bloß repetiert, sondern mit einer Wechselnote umspielt, und, das ist der eigentliche Clou, oktavversetzt, so das Schmachtintervall einsetzt: h'-ais'-h.
Und in der letzten Mollpassage wird das Motiv auf die Vorkadenz = Kadenz auf die Tonikaquinte wieder verengt. Aber zunächst tänzelt es in dem punktierten Rhythmus dahin, bis das Basta a'-gis'-gis'! kommt, immer entschiedener und schließlich beschleunigt und in Dur umschlagend in die finale Wiederholung des Kopfthemas mündet. Welch eine aufwühlende, alle Gefühle ansprechende Musik. Und es ist nicht nur die harmonische Breite von Konsonanz und Dissonanz, die melodische Breite von Kurzmotiv und schier endloser Geläufigkeit, von Akzentuierung und Schwebeklang, Intimität des elegischen Klaviersolos und massivem Tutti. Was wäre ein extrem motorisches Stück ohne den Kontrast eines Zurruhekommens oder eines Innehaltens, was eine gleichmäßige Bewegung ohne Akzente, ohne Punkte oder einen Punkt zu setzen? Ein verschenktes Ausdrucksmittel.
Zum Schluß möchte ich auf solche Stellen hinweisen, sie finden sich an den Nahtstellen der Einzelteile. Auf die ersten beiden habe ich schon hingewiesen, den Übergang zum zweiten Hauptthema und den zum ersten Mollthema, Haltestellen, die eine im Schaukelschritt der kleinen Sekunde, die andere in dem des Tritonus. Dann unmittelbar vor der stretto-Passage des ersten langsamen Themas die raffinierte Verunklarung des tonalen Bezugspunktes: e oder f. Vor dem zweiten Mollthema kommt die Musik einfach zur Ruhe, ein fade-out. Die zweite langsame Passage endet mit einem wunderbar unbestimmten Akkord im Takt [27]-6, der eigentlich gar kein Takt mehr ist, weil sich das Zeitmaß verliert (die akkordischen Orchesterstimmen weisen noch eine Struktur auf, im Klavierpart ist die Taktung aufgegeben), man könnte den 'Takt ad lib verändern, indem das Orchester verlangsamend mit dem stehenden Klang eine Fortimprovisation des Pianisten begleitet (die selbstverständlich den Klavierlauf sinngemäß fortsetzen müßte). Der unbestimmte Klang ist die ideale Vorlage für den sich anschließenden Scherzoteil. Der endet in einem seltsamen wie reizvollen Schwebezustand, durch die bipolare Spannung, die man polytonal oder frei tonal deuten kann, ich spare mir die genauere Analyse, aber ich denke, man kann es hören: eingerahmt von E₂-E₁-e'-e'' schaukelt die Musik in den Takten 342-345 zwischen dem auf den Grundton Gis₂-Gis₁ bezogenen c'-e'-fis'-a' und auf den Grundton Cis₁-Cis bezogenen h-d'-fis'-a', zitiert noch einmal das zweite Hauptthema mit dem repetierten e auf a-Moll und landet modulierend auf der Quinte von Gis-Dur: Dis, kann sich dann aber nicht entscheiden, ob der Zielpunkt tatsächlich Dis (dem Tritonus zu A) sein soll oder nicht doch lieber E, die Vorschlagsnote E wird scheinauflösend nach A-Moll zum Leitton, führt über die zwei Cadenza überschriebenen Takte dann aber zur Parallele C-Dur. Da hat das Scherzo noch einmal eine Volte gedreht.
* Falls jemandem ein Widerspruch auffällt: mir geht es bei der Analyse von Notentexten in der Regel um relative Tonbeziehungen, daher transponiere ich manchmal zum besseren Verständnis auf die Tonika C-Dur oder a-Moll, bei großen Bereichen transponiere ich gerne um eine Oktave nach oben, so daß mein besprochenes C eigentlich c ist.
Von Hilary Hahn habe ich fast alle Alben, und ausgerechnet ihr Paganini-Album ist dasjenige, was mir nicht gefällt. Ich finde Paganini nervig, kalt und angeberisch. Das ist in meinen Ohren keine Musik; das ist Zirkusakrobatik. Ich gehe nicht gerne in den Zirkus. Paganini hatte ja selbst bekanntgegeben, dass dies eigentlich nur aneinandergereihte Übungsfragmente sind. So hört es sich auch an. Langweilig.
Ich meine das hier unten. Aber im Caprice Nr. 24 gehts ähnlich langweilig zu.
Das ist in meinen Ohren keine Musik; das ist Zirkusakrobatik.
Du sprichst einen delikaten Punkt an, ich habe ja auch schon auf die nicht ganz unberechtigte Kritik an leerlaufender Virtuosität hingewiesen, das Zirzensische. Bei virtuoser Musik stellt sich immer die Frage, ob genug Substanz sie legitimiert oder sogar absolut notwendig macht. Man kann aus "mein Hänschen klein" ein virtuoses Variationenwerk gestalten, je virtuoser, desto mehr wird unangenehm die mangelnde musikalische Substanz auffallen. Wer von Musik etwas versteht, wird solche Virtuosität nicht fasziniert goutieren, sondern sich vom Kitsch abgestoßen fühlen. Kitsch = Unangemessenheit von bombastischem Aufwand und Dürftigkeit der musikalischen Substanz, des musikalischen Ausdrucks. Virtuosität erhöht die Kitschgefahr, wie übrigens auch das Gegenteil, eine allzu schlichte Komponierweise. Paganini und Liszt waren Kinder ihrer Zeit, sie sind gelegentlich diesen Gefahren erlegen. Aber für die Caprice gilt das kaum. Sie hat vielmehr, und das ist der Grund, warum so viele bedeutende Komponisten sie bearbeitet haben, mithilfe der Virtuosität eine Tür zur Entwicklung der musikalischen Kunst aufgestoßen, das Ausdrucksspektrum enorm erweitert. Gerade an Lutoslawski kann man das studieren. In seiner Bearbeitung findet sich kein einziger kitschiger Ton, es ist eine Musik der Moderne, ohne Effekthascherei, ohne Manierismen, und daß das möglich ist, ist eine Leistung der Vorlage.
Paganini und Liszt haben der Virtuosität gehuldigt, ich sagte es schon, es war eine Zeit des Geniekults, der Saiten- und Tastenmonster, der Beginn des professionellen Entertainments, Ken Russell hat das schön verfilmt. In welchen Widersprüchen sich die Kunst entwickelt hat, zeigt besonders krass Franz Liszt, dieser Inbegriff des Virtuosen, der am Ende seines Lebens, unter Wagners Einfluß, seine besten Kompositionen kreiert hat, die ihn als das Gegenteil des öffentlich angehimmelten Künstler zeigen. Eine Musik ganz ohne überflüssige Noten, einfach, klar, nachhaltig, um nicht zu sagen magisch, suggestiv.
Daß Virtuosität nichts mit oberflächlicher Belanglosigkeit zu tun haben muß, zeigt sehr schön Maurice Ravel, der uns wunderbare Werke in schlichtester Form geschenkt hat, als Beispiel sei "ma mère l'oye" genannt, aber auch eines der technisch anspruchsvollsten Klavierwerke. den Scarbo:
Kurz zum Zirzensischen nochmal: In Paganinis Violinkonzert oben ist häufig eine große Trommel zu hören. Es ist keine Pauke, sondern eine Basstrommel, wie man sie in Marsch- und Zirkuskapellen sieht, mit dem Trommelfell zum Publikum gerichtet (nicht in den Himmel gerichtet wie bei einer Pauke). Wann immer Paganini ein Häppchen seiner Virtuosität vollendet, ertönt dieser Trommelschlag. Es fehlt nur noch Konfetti. Es ist tatsächlich wie im Zirkus :-)
Oder wie im Karneval. Nach jedem Häppchen: Ta täää, ta täää, ta täää.