Erfahrungen

Drei wichtige philosophische Schulen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, welche die Philosophie europäischer und amerikanischer Provenienz mitgeprägt haben
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Jörn Budesheim
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So 23. Jul 2023, 11:13

Hans-Georg Gadamer hat geschrieben :
... Wird so Erfahrung auf ihr Resultat hin betrachtet, so wird damit der eigentliche Prozess der Erfahrung übersprungen. Dieser Prozess nämlich ist ein wesentlich negativer. Er ist nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten zu beschreiben. Diese Herausbildung geschieht vielmehr dadurch, dass ständig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam untypisiert wird. Das prägt sich schon sprachlich darin aus, dass wir in einem doppelten Sinne von Erfahrung sprechen, einmal von den Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen, sodann aber von der Erfahrung, die man macht. Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, dass wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. Sie ist nicht einfach eine Täuschung, die durchschaut wird und insofern eine Berichtigung, sondern ein weitgreifendes Wissen, das erworben wird. Es kann also nicht ein beliebig aufgelesener Gegenstand sein, an dem man eine Erfahrung macht, sondern er muss so sein, dass man an ihm ein besseres Wissen nicht nur über ihn, sondern über das, was man vorher zu wissen meinte, also über ein Allgemeines gewinnt. Die Negation, kraft deren sie das leistet, ist eine bestimmte Negation. Wir nennen diese Art der Erfahrung dialektisch.
Rovelli hat geschrieben : Der Ablauf sieht so aus, dass das Gehirn aufgrund vorheriger Geschehnisse und seines Wissens erwartet, dass es etwas sieht. Es erstellt dazu ein Bild als Vorausschau, was die Augen sehen müssten. Diese Information wird vom Gehirn über Zwischenstufen an die Augen übermittelt. Wird eine Abweichung zwischen den Erwartungen des Gehirns und dem Lichtsignal ermittelt, das in den Augen eintrifft, dann- und nur dann - werden über die neuronalen Schaltkreise Signale ans Gehirn geschickt. Was die Reise von den Augen zum Gehirn antritt, ist also nicht das Bild der beobachteten Umgebung, sondern nur die Meldung eventueller Abweichungen von dem, was das Gehirn erwartet.

Die Entdeckung, dass der Sehsinn auf diese Art funktioniert, bedeutete eine Überraschung. Aber denkt man darüber nach, wird klar, dass es sich dabei um eine effiziente Methode handelt, um Informationen aus der Umgebung zu erfassen. Welchen Sinn hätte es, Signale ans Gehirn zu übermitteln, die nur Bekanntes bestätigten? ...
Natürlich kann man das, was Gadamer beschreibt und das, was Rovelli beschreibt, nicht einfach in einen Topf werfen. Aber es gibt durchaus Überschneidungen. Gadamer schreibt im Text etwas später: "in der Tat ist, wie wir sahen, Erfahrung zunächst immer Erfahrung der Nichtigkeit: es ist nicht so, wie wir annahmen."




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Jörn Budesheim
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So 23. Jul 2023, 12:00

Gadamer hat geschrieben : ... Erfahrung selber kann nie Wissenschaft sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder technischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung. Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen. Die Vollendung seiner Erfahrung, das vollendete Sein dessen, den wir erfahren nennen, besteht nicht darin, daß einer schon alles kennt und alles schon besser weiß. Vielmehr zeigt sich der Erfahrene im Gegenteil als der radikal Undogmatische, der, weil er so viele Erfahrungen gemacht und aus Erfahrungen gelernt hat, gerade besonders befähigt ist, aufs neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen zu lernen.




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Quk
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So 23. Jul 2023, 23:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 23. Jul 2023, 11:13
Gadamer schreibt in dem Text wenig später: "in der Tat ist, wie wir sahen, Erfahrung zunächst immer Erfahrung der Nichtigkeit: es ist nicht so wie wir annahmen."
Erfahrung als Korrektur der Vermutung. Das leuchtet ein. Das entspricht auch der wissenschaftlichen Methode der Falsifikation von Theorien.

Aber: Warum schreibt Gadamer das Wort "immer"? Warum "immer Erfahrung der Nichtigkeit"?

Kann es nicht auch solche Erfahrungen geben, die komplett neu sind und denen keinerlei Vermutung vorausgeht? Wenn es so etwas komplett Neues nicht geben könnte, so müsste doch das lernende Lebewesen seit seiner Geburt einen unendlich großen Vorrat an Vermutungen in sich tragen, sodass bei jeder Erfahrung ein Stück Vermutungs-Vorrat ver-nicht-et wird. -- Vielleicht habe ich da einen weiteren Kontext übersehen?

Edit:
Oder meint Gadamer, dass eine Vermutung auch einen Augenblick kurz vor der Erfahrung entwickelt werden kann, sodass man eben "immer" eine Vermutung zur Vernichtung parat hat, auch dann, wenn die Vermutung gerade erst entstanden ist und nicht auf Vorrat war? -- Aber auch in diesem Fall muss doch das Wesen es kommen sehen, dass gleich eine Erfahrung stattfinden wird. Wie kann dieses Kommensehen "immer" gegeben sein?




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Jörn Budesheim
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Do 27. Jul 2023, 09:12

Ich bringe jetzt etwas mehr Kontext. Ich hoffe, dass ich die Fehler der OCR einigermaßen korrigiert habe. Nach meinem Verständnis geht es Gadamer um einen umfassenderen Erfahrungsbegriff, der nicht völlig "empiristisch" verkürzt ist, sich also nur an dem orientiert, was sich in Richtung Naturwissenschaft "bewegt". Insbesondere scheinen ihm historische Momente wichtig zu sein. (Quelle trage ich später nach, ich habe es aus einem Reclamheft, dass Texte der Philosophie versammelt.
Gadamer hat geschrieben : Der Begriff der Erfahrung scheint mir - so paradox es klingt - zu den unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die wir besitzen. Weil er in der Logik der Induktion für die Naturwissenschaften eine führende Rolle spielt, ist er einer erkenntnistheoretischen Schematisierung unterworfen worden, die mir seinen ursprünglichen Gehalt zu verkürzen scheint. Ich erinnere daran, dass schon Dilthey dem englischen Empirismus Mangel an geschichtlicher Bildung vorgeworfen hat. [...] In der Tat ist es der Mangel der bisherigen Theorie der Erfahrung, der gerade auch Dilthey einschließt, dass sie ganz auf die Wissenschaft hin orientiert ist und deshalb die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung nicht beachtet. Es ist das Ziel der Wissenschaft, Erfahrung so zu objektivieren, dass ihr keinerlei geschichtliches Moment mehr anhaftet. Das leistet das naturwissenschaftliche Experiment durch die Weise seiner methodischen Veranstaltung. Ähnliches vollbringt aber auch die historisch-kritische Methode in den Geisteswissenschaften. Auf beide Weise soll dadurch Objektivität verbürgt werden, dass man die zugrunde liegenden Erfahrungen für jedermann wiederholbar macht. Wie in der Naturwissenschaft Experimente nachprüfbar sein müssen, so soll auch in den Geisteswissenschaften das gesamte Verfahren kontrollierbar werden. Insofern kann der Geschichtlichkeit der Erfahrung in der Wissenschaft kein Platz gelassen werden.

Die moderne Wissenschaft führt dadurch auf ihre methodische Weise nur weiter, was in aller Erfahrung schon angestrebt war. Alle Erfahrung ist ja nur in Geltung, solange sie sich bestätigt; insofern beruht ihre Dignität auf ihrer prinzipiellen Wiederholbarkeit. Das bedeutet aber, dass Erfahrung ihrem eigenen Wesen nach ihre Geschichte in sich aufhebt und dadurch auslöscht. Schon für die Erfahrung des täglichen Lebens gilt das, und erst recht für jede wissenschaftliche Veranstaltung derselben. Insofern ist es keine zufällige Einseitigkeit der modernen Wissenschaftstheorie, sondern sachlich begründet, dass die Theorie der Erfahrung ganz teleologisch auf den Wahrheitserwerb bezogen ist, der in ihr erreicht wird.

In neuerer Zeit hat insbesondere Edmund Husserl dieser Frage seine Aufmerksamkeit gewidmet. Er hat die Einseitigkeit der in den Wissenschaften vorliegenden Idealisierung der Erfahrung in immer neu ansetzenden Untersuchungen aufzuklären unternommen.¹ Husserl gibt in dieser Absicht eine Genealogie der Erfahrung, die als Erfahrung der Lebenswelt der Idealisierung durch die Wissenschaften noch vorausliegt. Jedoch scheint er mir selbst noch von der Einseitigkeit beherrscht, die er kritisiert. Denn er projiziert die idealisierte Welt der exakten wissenschaftlichen Erfahrung insofern in die ursprüngliche Welterfahrung noch immer hinein, als er die Wahrnehmung als äußere, auf die bloße Körperlichkeit gerichtete für alle weitere Erfahrung das Fundament sein lässt. Ich zitiere wörtlich: »Wenn es auch sogleich aufgrund dieser sinnlichen Anwesenheit unser praktisches oder Gemütsinteresse auf sich zieht, sogleich als dieses Dienliche, Anziehende oder Abstoßende sich für uns gibt - aber all dies fundiert eben darin, dass es ein Substrat ist mit schlicht sinnlich erfassbaren Beschaffenheiten, zu denen jederzeit ein Weg möglicher Auslegung führt.« Husserls Versuch, auf den Ursprung der Erfahrung sinngenetisch zurückzugehen und die Idealisierung durch die Wissenschaft zu überwinden, hat offenbar im besonderen Maße mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass die reine transzendentale Subjektivität des Ego nicht als solche wirklich gegeben ist, sondern immer in der Idealisierung der Sprache, die allem Erfahrungserwerb schon einwohnt und in der sich die Zugehörigkeit des einzelnen Ich zu einer Sprachgemeinschaft auswirkt.

In der Tat, wenn wir auf die Anfänge der modernen Wissenschaftstheorie und Logik zurückgehen, ist es dieses Problem, wieweit es einen reinen Gebrauch unserer Vernunft, nach methodischen Prinzipien vorzugehen und allen Vorurteilen und Voreingenommenheiten - vor allem den verbalistischen - überlegen zu sein, überhaupt geben kann. Es ist die besondere Leistung von Bacon auf diesem Gebiet, dass er sich nicht mit der immanenten logischen Aufgabe begnügte, die Theorie der Erfahrung als die Theorie einer wahren Induktion zu entwickeln, sondern dass er die Schwierigkeit und anthropologische Fragwürdigkeit einer ganze moralische solchen Erfahrungsleistung erörtert hat. Seine Methode der Induktion will sich über die regellose und zufällige Art erheben, in der die tägliche Erfahrung zustande kommt und erst recht über deren dialektischen Gebrauch. Er hat in diesem Zusammenhang in einer das neue Zeitalter der methodischen Forschung ankündigenden Weise die in der humanistischen Scholastik noch vertretene Theorie der Induktion aufgrund der enumeratio simplex aus den Angeln gehoben …




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Quk
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Sa 23. Sep 2023, 10:20

Meine vorige kritische Frage bezüglich des Begriffs "immer" gilt nicht nur im Kontext der wissenschaftlichen Methode oder der Empirie, sondern in jedem Kontext jeglicher Erfahrung, einschließlich der "Geschichte der Erfahrung".

Es geht mir nur um Logik.

Wenn vor jedem Blau-Pups schon "immer" ein Grün-Pups da ist, den der Blau-Pups nichtig macht, welcher irgendwann durch einen Grau-Pups vernichtet wird und so weiter, dann ist die Menge aller Pupse konstant durch die ganze Geschichte. Was für ein Problem soll diese These lösen? Gibt es denn ein Problem mit dem Wachstum des Erfahrungswissens während der Lebenszeit, weshalb das Ausmaß des Erfahrungswissens besser konstant sein sollte? Ich sehe da kein Wachstums-Problem. Übrigens, mit "Wissen" meine ich hier "Vermutungswissen", denn es gibt meines Erachtens nie ein endgültig valides Erfahrungswissen. Man muss immer mit einer Berichtigung rechnen. Da sind wir uns alle bestimmt einig.

Ein Problem sehe ich vielmehr in dieser vermeintlichen Konstanz, die davon ausgehen muss, dass die Menge aller Pupse stets konstant ist, sodass bereits ein Neugeborenes im Gedächtnis einen großen Müllhaufen aus Pupsen inne haben muss, die nach und nach in der Geschichte der Erfahrung durch andere Pupse ersetzt werden. Dass es eine Geschichte der Erfahrungen gibt, ist offensichtlich. Siehe auch Rovelli. Dass aber diese Geschichte, wie Gadamer indirekt sagt, "immer" mit sich selbst beschäftigt ist, sodass man die Empirie mit ihren neu hereinkommenden Informationen vernachlässigen kann und stattdessen allein die bisherigen Erfahrungen miteinander spielen lässt, erscheint mir unlogisch, weil diese Geschichte, dieses Buch sozusagen, auf seiner ersten Seite so viel Buchstaben haben muss, wie das Buch insgesamt. Warum ist das ein philosophisches Problem, wenn ein Neugeborenes mit wenig Erfahrung sein Leben startet und dann weitere, neue Erfahrungen sammelt -- und -- dabei mit seinem Verstand alte und neue Erfahrungen stets verknüpft oder verwirft? Warum wird hier die These der ergänzenden Neuerfahrung so vehement abgelehnt, zumal die Interaktion mit anderen Lebewesen ja ebenfalls empirisch assistiert wird und nicht magisch kongruent oder sonstwie zauberhaft instantan im Hirn aufpupst.




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Jörn Budesheim
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So 24. Sep 2023, 08:26

"Wenn vor jedem Blau-Pups schon "immer" ein Grün-Pups da ist, den der Blau-Pups nichtig macht, welcher irgendwann durch einen Grau-Pups vernichtet wird und so weiter, dann ist die Menge aller Pupse konstant durch die ganze Geschichte. Was für ein Problem soll diese These lösen?" (Quk)

Aber ist das wirklich Gadamers These? Gadamer schreibt meines Erachtens ungefähr folgendes: Der Prozess der eigentlichen Erfahrung ist wesentlich negativ. Er läßt sich nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten beschreiben. Vielmehr geschieht diese Herausbildung durch die Widerlegung falscher Verallgemeinerungen durch die Erfahrung. Dass nur dies die eigentliche Erfahrung ist, zeigt sich schon darin, dass wir von Erfahrung in einem doppelten Sinne sprechen, einmal von der Erfahrung, die sich in unsere Erwartung einfügt und sie bestätigt, dann aber auch von der Erfahrung, die man macht. Letztere, die eigentliche Erfahrung, ist immer negativ. (Also gerade kein Pups ;) )

Warum also schreibt Gadamer "immer"? Warum "immer" die Erfahrung der Nichtigkeit? Das ist für mich kein einschließendes immer, das beide Arten der Erfahrung umfasst, sondern ein "ausschließendes": Immer dann (nur dann), wenn wir eine Erfahrung der Nichtigkeit machen, haben wir es mit einer wirklichen/eigentlichen Erfahrung zu tun.




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Quk
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So 24. Sep 2023, 10:31

Gut, dann finde ich aber in diesem Kontext das Wort "Nichtigkeit" zu radikal. Besser wäre: "Bearbeitung" -- oder sowas ähnliches, weil das sowohl Vernichtung als auch Ergänzung zuließe.

Ich denke, eine neu hereinkommende Information kann zu einem dieser beiden Prozesse führen (das wäre jetzt für das Wort "Erfahrung" aufgefasst als "Herausbildung typischer Allgemeinheiten"):

• Totale Vernichtung einer bisherigen Erfahrung: "Noch nie vom Hund gebissen; sie beißen nie" --> "Bin gebissen; manche beißen"
• Ergänzung einer bisherigen Erfahrung: "Es gibt Wein aus Trauben" --> "Es gibt Wein aus Trauben, es gibt Wein aus Äpfeln"

Auch bei "der prompten Sinneserfahrung innerhalb einer Sekunde" sehe ich jene zwei Möglichkeiten:

• Totale Vernichtung einer Millisekunden alten Erfahrung: "Schwarzer Pixel auf Bildschirm" --> "Käferlein auf Bildschirm"
• Ergänzung einer Millisekunden alten Erfahrung: "Wein schmeckt nach Trauben" --> "Wein schmeckt nach Trauben und Kork"

Naja, strenggenommen könnte man jetzt sagen, die Abwesenheit von Korkgeschmack sei die bisherige Erfahrung. Wenn er dann hinzukommt, negiert er die Abwesenheit, woraus sich dann eine positive Anwesenheit ergibt. Denkt Gadamer dermaßen strikt mathematisch? Ich weiß es nicht. Lernfrage.




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Jörn Budesheim
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So 24. Sep 2023, 10:54

Ich bräuchte noch mehr Text von Gadamer selbst, peinlicherweise weiß ich gar nicht mehr, wo ich das her habe. Wenn ich es gescannt habe, wird es wohl aus einem Buch sein, ich muss mal schauen ob ich es wieder finde :) vielleicht gibt er selbst mal ein Beispiel für eine Erfahrung, die im vorgeschwebt. Ich könnte mir vorstellen, dass solche Erfahrungen eher selten sind, vielleicht eine existenzielle Dimension haben, oder was auch immer.




Burkart
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So 24. Sep 2023, 11:55

Quk hat geschrieben :
So 24. Sep 2023, 10:31
Gut, dann finde ich aber in diesem Kontext das Wort "Nichtigkeit" zu radikal. Besser wäre: "Bearbeitung" -- oder sowas ähnliches, weil das sowohl Vernichtung als auch Ergänzung zuließe.
"Bearbeitung" (oder "Änderung", "Erweiterung" o.ä.) gefällt mir auch besser.
Ich denke, eine neu hereinkommende Information kann zu einem dieser beiden Prozesse führen (das wäre jetzt für das Wort "Erfahrung" aufgefasst als "Herausbildung typischer Allgemeinheiten"):

• Totale Vernichtung einer bisherigen Erfahrung: "Noch nie vom Hund gebissen; sie beißen nie" --> "Bin gebissen; manche beißen"
• Ergänzung einer bisherigen Erfahrung: "Es gibt Wein aus Trauben" --> "Es gibt Wein aus Trauben, es gibt Wein aus Äpfeln"
"Ergänzung" passt gut, aber "totale Vernichtung..." kann ich nicht nachvollziehen, da es bisher ja noch gar keine Erfahrung "vom Hund gebissen" gab, die vernichtet werden könnte.
Klar, dem allgemeinen persönlichen Erfahrungsschatz kann man entnehmen: "wurde noch nicht von Hund gebissen", aber ich würde es nicht als explizite, einzelne Erfahrung ansehen, die es halt als solche nicht gab.
Wenn schon "totale Vernichtung...", dann von "Wissen", "Einschätzung" o.ä.



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Jörn Budesheim
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So 24. Sep 2023, 19:22

Hast du die zitierten Texte von Gadamer gelesen, Burkart?




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Jörn Budesheim
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Ich habe das Reclamheft, in dem sich der Aufsatz befindet, gefunden und spreche jetzt noch ein oder zwei Zitate ein, die teilweise ihrerseits Zitate sind:

Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung. So erhält das geschichtliche Sein des Menschen als ein Wesensmoment eine grundsätzliche Negativität, die in dem wesenhaften Bezug von Erfahrung und Einsicht zutage tritt.

[Aischylos] hat die Formel gefunden, oder besser gesagt in ihrer metaphysischen Bedeutung erkannt, die die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung aussagt: durch Leiden lernen. ... Was der Mensch durch Leiden lernen soll, ist nicht dieses oder jenes, sondern ist die Einsicht in die Grenzen des Menschseins, die Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Grenze zum Göttlichen hin. [Erinnert mich an den Faden zum Transhumanismus!] Es ist am Ende eine religiöse Erkenntnis – diejenige Erkenntnis, aus der die Geburt der griechischen Tragödie erfolgt ist.

Erfahrung ist also Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist, wer ihrer inne ist, wer weiß, dass er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist. Der Erfahrene nämlich kennt die Grenze alles Voraussehens und die Unsicherheit alle Pläne. In ihm vollendet sich der Wahrheitswert der Erfahrung.


Ich verstehe Gadamer so, dass er zu einem vollen Erfahrungsbegriff zurückkehren will, nachdem dieser in der Philosophie oft "erfahrungswissenschaftlich" verkürzt und damit unserem Leben entrückt wurde.




Burkart
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So 24. Sep 2023, 19:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 24. Sep 2023, 19:22
Hast du die zitierten Texte von Gadamer gelesen, Burkart?
Teilweise.



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