Hans-Georg Gadamer hat geschrieben :
... Wird so Erfahrung auf ihr Resultat hin betrachtet, so wird damit der eigentliche Prozess der Erfahrung übersprungen. Dieser Prozess nämlich ist ein wesentlich negativer. Er ist nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten zu beschreiben. Diese Herausbildung geschieht vielmehr dadurch, dass ständig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam untypisiert wird. Das prägt sich schon sprachlich darin aus, dass wir in einem doppelten Sinne von Erfahrung sprechen, einmal von den Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen, sodann aber von der Erfahrung, die man macht. Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, dass wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. Sie ist nicht einfach eine Täuschung, die durchschaut wird und insofern eine Berichtigung, sondern ein weitgreifendes Wissen, das erworben wird. Es kann also nicht ein beliebig aufgelesener Gegenstand sein, an dem man eine Erfahrung macht, sondern er muss so sein, dass man an ihm ein besseres Wissen nicht nur über ihn, sondern über das, was man vorher zu wissen meinte, also über ein Allgemeines gewinnt. Die Negation, kraft deren sie das leistet, ist eine bestimmte Negation. Wir nennen diese Art der Erfahrung dialektisch.
Rovelli hat geschrieben : Der Ablauf sieht so aus, dass das Gehirn aufgrund vorheriger Geschehnisse und seines Wissens erwartet, dass es etwas sieht. Es erstellt dazu ein Bild als Vorausschau, was die Augen sehen müssten. Diese Information wird vom Gehirn über Zwischenstufen an die Augen übermittelt. Wird eine Abweichung zwischen den Erwartungen des Gehirns und dem Lichtsignal ermittelt, das in den Augen eintrifft, dann- und nur dann - werden über die neuronalen Schaltkreise Signale ans Gehirn geschickt. Was die Reise von den Augen zum Gehirn antritt, ist also nicht das Bild der beobachteten Umgebung, sondern nur die Meldung eventueller Abweichungen von dem, was das Gehirn erwartet.
Die Entdeckung, dass der Sehsinn auf diese Art funktioniert, bedeutete eine Überraschung. Aber denkt man darüber nach, wird klar, dass es sich dabei um eine effiziente Methode handelt, um Informationen aus der Umgebung zu erfassen. Welchen Sinn hätte es, Signale ans Gehirn zu übermitteln, die nur Bekanntes bestätigten? ...
Natürlich kann man das, was Gadamer beschreibt und das, was Rovelli beschreibt, nicht einfach in einen Topf werfen. Aber es gibt durchaus Überschneidungen. Gadamer schreibt im Text etwas später: "in der Tat ist, wie wir sahen, Erfahrung zunächst immer Erfahrung der Nichtigkeit: es ist nicht so, wie wir annahmen."