Nauplios hat geschrieben : ↑ Mi 7. Jul 2021, 16:56
Zur Debatte steht insofern weniger
der Realismus oder
ein Realismus als mehr das
Neue am Neuen Realismus.
Unbehagen bereitet mir vor allem die autoenthusiastische Selbstwahrnehmung des Neuen Realismus als eine Zäsur in der Geschichte der Philosophie, bei der es ein v.G. und ein n.G. gibt, eine Zeitenwende, die augenzwinkernd auf den 23. Juni 2011 (ungefähr 13.30 Uhr) terminiert wird, kürzlich also 10-jähriges Jubiläum hatte. Aus dem Augenzwinkern ist längst ein Augenrollen geworden, was den Blick auf die Zeitachse v.G. betrifft.
Die Attitüde dieses Selbstverständnisses ist bei Gabriel eine des Lassen-Sie-mich-durch-ich-bin-Philosoph geworden.
Die Debatte scheint sich aber auch zu drehen um die Attitüde des Philosophen, dem man unterstellt, ein neues Evangelium bringen zu wollen. Es fallen dann Beurteilungen wie „autoenthusiastisch“ oder „penetrante Missionierungsversuche“, was in dieser Betrachtungsweise wohl folgerichtig ist, wenn man den Philosophen am Massstab seiner Motiviertheit und seinem Drang zur öffentlichen Präsenz misst. Man kann sich fragen, ob wir dieses mediale Gebahren Gabriels anders beurteilten, wenn wir es von Aristoteles und Kant her schon kannten, dass sie ihre Thesen auf Social Media und allen verfügbaren Kanälen verbreitet hätten. Ob uns der Mitteilungsdrang, der bei Philosophen immer schon ausgeprägt war, weniger auffallen würde? Neu am Neuen Realismus ist sicherlich auch die Art und Weise, in den Medien breite Schichten flächendeckend ansprechen zu können, was im Namen von Kant und Aristoteles eifersüchtig machen kann, wenigstens aber irritieren kann, weil es keine philosophiegeschichtliche Praxis gibt, die es normal und üblich machte. Ich jedenfalls kann mir gut vorstellen, dass sich Kant oder Schopenhauer prominent in jedem gefragten oder ungefragten Moment geäussert hätten, und wir würden es ihren Nachahmern nachsehen.
Ja, auch ich denke, dass Slogans wie „Die Welt existiert nicht.“ tatsächlich Slogans sind. Slogans, weil sie auf den Effekt der Aufmerksamkeitserregung ausgelegt sind. Der Effekt ist der: Behaupte von der Welt, die offensichtlich jeder sieht, dass es sie nicht gibt. verheimliche aber gleichzeitig dass du nur einen bestimmten Sinn von Welt
meinst. Existieren oder Nichtexistieren bezieht sich immer auf das So-Existieren eines Gegenstands. Für alles gilt, dass es nicht existiert in einem übergeordneten Sinn. Keine Welt, kein „Glas Milch“, kein Grashalm, kein Lufthauch, kein Gedanke, kein Gott: Nichts existiert in einem einzigen Sinn. Die Grundthese des ontologischen Pluralismus lautet gerade, dass Existenz immer lokale Realisierungsbedingungen hat. Jedes Ding, so abstrakt oder konkret es auch immer sein mag, ist gebunden an die begriffliche Pluralität von Wirklichkeit, und existiert damit immer relational zum Feld, in welchem es erscheint. Die Welt ist also nicht allein in ihrem Nichtexistieren, weil es viele Dinge nicht gibt in der Art, wie wir behaupten können, dass es sie gebe. Insofern behauptet Gabriel für den Buchtitel ein Sosein der Welt und deren Nichtexistenz, was korrekt ist, aber er sollte dann nicht gleichzeitig nachwerfen, dass alles existiere. Denn sowenig Welt im Sinne von „Sinnfeld aller Sinnfelder“ allein gemeint sein muss, sowenig muss „alles“ heissen, dass ein Jedes in jedem erdenklichen Sinn gemeint sei. Gerade das ist nicht die Wahrheit, dass alles existiere in jedem Sinn.
Aber der Neue Realismus ist nicht nur ein Marketingvehikel für eitle Gedanken, weil er auch Antworten gibt auf Fragen, auf die Relativisten keine befriedigenden Antworten haben. Es kann bspw. nicht befriedigen zu sagen, dass die Richtigkeit eines moralischen Urteils abhängig sei vom Kulturkreis. Gälte dieses Argument, so müsste es weitergedacht werden bis auf die Ebene des Individuums, dass moralisch richtig sei, was der Einzelne für richtig befinde. Denn, wenn Richtigkeit relativ sein soll zur Ansicht eines Kulturkreises, mit welchem Grund könnten wir denn behaupten, dass der Kulturkreis hier und dort aufhöre? Mit keinem. Es wäre dann genauso legitim zu sagen, dass die Wahrheit eines moralischen Urteils von jenen vielen Angehörigen eines bestimmten Kreises abhänge, wie dass sie nur abhänge von der Ansicht eines Einzelnen. Das wäre aber eine absurde Behauptung, wenn wir sagen wollten, es sei moralisch richtig, was immer jede:r glauben wolle, denn gerade sind moralisch relevante Sachverhalte jene, die uns als Mitmenschen betreffen und wir lassen nicht alles mit uns machen (ob aber bspw. jemand gleichgeschlechtlichen Sex haben will oder nicht, das wäre ein moralisch neutraler Sachverhalt, weil er uns als Mitmenschen nicht betrifft und es sozusagen nichts mit uns macht). Moralität ergibt sich aus der Betroffenheit und aus dieser die Unbeliebigkeit des moralisch richtigen Urteils.
Nun können wir des Weiteren auch nicht mit gutem Recht behaupten, dass für einige Urteile Relativität gelte und für andere nicht. Wir können bspw. nicht sagen, bei Dingen der Physik gälten Objektivitätskriterien, hier sei Wahrheit nicht relativ, sondern gelte absolut und müsse ablesbar sein an Instrumenten und reproduzierbar in Experimenten. Bei diesen Dingen gebe es Objektivität, aber bei anderen Dingen der Wirklichkeit gebe es sie nicht. Warum (und ich meine, mit welchem Argument) könnten wir denn behaupten, die physischen Dinge, Gesetze usw. seien Tatsachen, aber andere Sachverhalte der Wirklichkeit, wie Moral, nicht? Wie wollten wir das begründen? Das können wir schliesslich nur behaupten, wenn wir die Moral von der Wirklichkeit loslösen und sie in einen anderen Wirklichkeitsbereich transferieren und für diesen andere Gesetze des Wirklichseins postulieren. Aber welche Gesetze sollen das sein? Welche Bedingung, wenn nicht die des Vorkommens (des Erscheinens) überhaupt kann gelten als Kriterium für das Wirklichsein? Wenn wir nun solche Bereiche schafften, in denen andere Gesetze herrschten, hätten wir doch zu begründen, anhand welcher Kriterien wir sie in diese Bereiche aufteilten. Wir müssten angeben können, was es heisst, in einem Fall wirklicher und im anderen Fall u!wirklicher Gegenstand zu sein (wo doch der Begriff Gegenstand allein schon impliziert, dass
es ein Zugegensein in Wirklichkeit hat)
Oder wir behaupten, Moral sei eine Illusion, Illusionen im Übrigen nichts Reales, müssten dann aber erklären, wie das Phänomen der Moralität (auch als kollektives Korrektiv in Gesellschaften) wirksam werden kann, was es tut, wenn es irreal sein soll. Wenn Moral nur Ansichtssache wäre, d.h. die Ansicht sowohl wahr als zugleich unwahr sein könnte, müssen wir uns die Frage gefallen lassen, warum wir nach bestem Wissen und Gewissen handeln so, als sei es wahr, dieses Handeln als richtig und jenes als falsch anzusehen. Warum lassen wir dem Bösen nicht einfach freien Lauf, wenn es keine wahren Ansichten gibt darüber, dass es tatsächlich falsch ist?
Man hat die Antwort mit logischen Argumenten relativ schnell bei der Hand: Nichts von alledem
kann wahr sein. Nicht ist Moral nur eine Illusion noch ist das moralische Urteil relativ wahr. Alles ist real, und weil es real ist, sind über es wahrheitsfühige Urteile möglich, die sich an der Realität des Gegenstands orientieren, über den man Ansichten hat (und nicht umgekehrt). Und alles Reale gehört zur selben Wirklichkeit.
Alles hat, sofern es ist, als dieses Seiende bestimmte Eigenschaften, die es zu diesem Seienden machen, das es ist. Moralische Gegenstände, Kunstgegenstände, Gedankendinge, physische Objekte: Alle diese Dinge sind gleichermassen real (weil es keine Degradationsmöglichkeit des Realen gibt. Sofern etwas ist, ist es real). Das moralische Ding (z.B. eine moralisch relevante Situation) ist real, und sie ist der reale Gegenstand, an dem sich die wahre Ansicht ausrichtet. Dieser Gegenstand ist nicht weniger real als
ein Tisch, an den wir sitzen können. Es gibt aber „diesen Tisch dort“ nie bloss in einem
Sinn, sondern in vielen, als geometrische Figur, als Erinnerungsstück, als Kunstobjekt, als Farbträger, als sozialer Brennpunkt in familiären Szenarien etc. In keiner dieser Tischvarianten ist dieser Tisch realer, ist keine seiner Eigenschaften wirklicher oder unwirklicher als wirklich. Und so ist auch die moralische Situation, ob hier oder dort, in diesem oder jenem Sinn, zu dieser oder jener Zeit immer gleich wirklich. (Moralisch kann ein Gegenstand nur sein, wenn er andere betreffen kann, insofern kann ich keine moralischen oder unmoralischen Gedanken oder Träume oder Ansichten haben, die ich nicht auslebe).
Wenn das nun so ist, dass jeder Gegenstand seine lokale Spezifität hat, müssen wir uns da nicht auch jedesmal bestimmen, welches der genaue Gegenstand sei, über den wir die Wahrheit sagen wollen? Wollen wir doch wissen, was wahr oder unwahr sei über diesen Tisch und müssen auch angeben, was wir meinem mit „dieser“? Das ist zu bejahen Erst dieses Verfahren des präzisen Bestimmens des Gegenstands lässt wahrheitsfähige Schlüsse zu, weil nur diese Bestimmung in Rechnung stellt die anvisierte Existenz des zu Beurteilenden. Das ist die Hauptbotschaft des Neuen Realismus: Dass man das lokale Phänomen achte, sich auf es beziehe: Denn nur, wo wir die Gegenstände als das ins Auge fassen, was sie sind, ist Erkenntnis über sie möglich und damit auch wahre Urteile (mit Kant gesagt: Ist Wahrheit möglich als Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand).
Wenn wir bei Kant sind: Der Neue Realismus sagt nicht, dass Kant vollkommen falsch lag, sondern nicht konsequent genug weiterdachte. Dass die Erkenntnis eines Dings an sich unmöglich sei, wie Kant behauptete, weil Dinge uns immer nur erscheinten, nie aber als Dinge an sich gegeben sein könnten, bedeutet - mit dem Neuen Realismus gesprochen - nicht, dass Erscheinung einen Verzerrungsfilter darstellte, der uns den Blick auf das wirklichere Ding versperrte, sondern dass diese Erscheinungsform des Dings (Phänomen, Gegenstand der Erscheinung) die wirkliche Form des Dings an sich ist und zwar in der Spezifität seiner Existenz als uns Erscheinendes. Anders gesagt: Die Erscheinung ist das Ding an sich in der Relation zum Erkenntnissubjekt, das es erkennt.
Darum ist Physik ja auch nicht wirklicher als Phatamorganas, da sowohl das physische Ding, das wir objektiv messen (z.B. seine Temperatur, seine Lage, der Spin seiner Atome etc.) als auch die nur subjektiv wahrnehmbare illusion eines physischen Gegenstands der Aussenwelt in der Einbildung gleichermassen Erscheinungen sind, d.h. Dinge an sich sind in der Perspektive (d.h. in der Relationalität) der sie erkennenden Subjekte. Kein Atom ist in jenem Fall seiner Darstellung auf einem Elektronenmikroskop wirklicher (im Sinne von seiender) als das Grün der Wiese in meinem Hirn. Nichts an dieser Tatsache macht aus den Dingen konstruierte oder aus ihrer Wahrheit etwas Relatives. Sie sind, was sie sind, objektiv und relational.