Die Einbildungskraft ist meines Erachtens eines unserer wichtigsten Vermögen. Sinngemäß findet man dazu im Internetz: „Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen, die nicht gegenwärtig sind. Sie kann in zwei Hauptformen unterschieden werden: die reproduktive Einbildungskraft, die vergangene Sinneseindrücke reproduziert, und die produktive Einbildungskraft, die neue, kreative Vorstellungen schafft.“
Meiner Ansicht nach ist sie nahezu in jedem Moment, bewusst oder unbewusst, von größter Bedeutung. Der sensorische Input des Augenblicks reicht nie aus, um die Szenen, in denen wir uns bewegen, wirklich zu verstehen.
Wenn ich jetzt zum Beispiel aus dem Fenster schaue, sehe ich nicht nur Bäume und eine Häuserfront mit Balkons unter einem schwarzen Himmel. Ich sehe die mir vertraute Szenerie, die sich mir seit Jahrzehnten so oder so ähnlich darbietet. Ich sehe, dass der Herbst naht, dass ein Gewitter aufziehen könnte, und vieles mehr. Dies kann ich nur, weil ich automatisch frühere Erfahrungen mit der jetzigen Wahrnehmung abgleiche.
Würde das Sehen allein mit dem sensorischen Input des Moments auskommen müssen, wüsste ich nichts davon.
Doch es geht noch weiter: Ich weiß auch, wo ich mich befinde, und habe eine ungefähre Vorstellung davon, wo in der Stadt das Haus, in dem ich wohne, liegt. Das ist vielleicht kein bewusstes, direktes Element der Wahrnehmung, aber es spielt im Hintergrund mit und bleibt jederzeit abrufbar. Unser Weltbild spielt in jedem Moment mit hinein. Wenn ich mich in Gedanken aus dieser Szene herauszoome, befinde ich mich in Kassel, Nordhessen, Deutschland, Europa, auf der Erde, im Sonnensystem, und so weiter. Würde ich dieselbe Wahrnehmung vor 2000 Jahren machen, wäre meine Vorstellung von diesem Zoom eine völlig andere.
Für meine Arbeit als Zeichner ist die Einbildungskraft unersetzbar. Manchmal habe ich einen zeichnerischen Zwischenstand vor mir und überlege, in welche Richtung ich weitergehen sollte. Hier hilft mir die Einbildungskraft, verschiedene Optionen durchzuspielen. In solchen Fällen ist die Fantasie eine Antenne des Fantastischen :) Und das gilt natürlich nicht nur für die Kunst, sondern für viele andere Bereiche ebenso.
Ohne Einbildungskraft wüssten wir über unsere Umwelt nicht mehr als Überwachungskameras – praktisch nichts. Durch unsere Erfahrungen, unser Hintergrundwissen und die produktive Kraft unserer Einbildung sind wir stets in der Lage, über den Moment hinauszusehen und gleichsam über den Dingen zu schweben.
Da es keine Erkenntnis ohne Fantasie (ich nutze die Ausdrücke Fantasie und Einbildungskraft synonym) gibt, habe ich diesen Faden in den Bereich Erkenntnistheorie gepackt. Aber das muss für die Diskussion nicht leitend sein. Mir würde es ausreichen, wenn wir den Begriff und dem Phänomen einfach etwas nachspüren.
Einbildungskraft
- Jörn Budesheim
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