Dichterische Vernunft
María Zambrano begreift die menschliche Vernunft dualistisch – als dichterische und philosophische. Das verächtliche Herabblicken der analytischen razón filosófica auf die erlebende razón poética lehnt sie ab. Denn im bloßen Rationalismus, insbesondere jenem Kants und Hegels, erkennt Zambrano den Verlust „intellektueller Demut“, die einem die Begrenztheit der razón filosófica vor Augen führe. Deshalb brauche es auch stets die razón poética. Denken ist für Zambrano immer dialogisch, weshalb es im Wechselspiel zwischen beiden Vernunftarten die „Gesamtheit des Menschlichen“ umfassen müsse.
-Quelle: Philosophie Magazin-
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- Jörn Budesheim
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suhrkamp hat geschrieben : María Zambrano
María Zambrano, 1904 bei Málaga geboren, gilt als Schülerin Ortega y Gassets, dem sie jedoch schon allzu früh allzu unabhängig in ihrem Denken war. Während des Spanischen Bürgerkriegs engagiert sie sich auf der Seite der Republik; sie ist Mitbegründerin der berühmten Zeitschrift Hora de España. 1939 geht sie ins Exil, von Frankreich nach Mexiko, Kuba, Puerto Rico, Italien, in die Schweiz. Erst 1984 kehrt sie nach Spanien zurück. 1988 erhält sie den Cervantespreis, den höchsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt, bevor sie drei Jahre später stirbt.
https://www.suhrkamp.de/person/maria-zambrano-p-5449
Ich will gerne zugeben, Andrea, daß ich den Namen María Zambrano bis jetzt noch nie gehört habe; zu bedeuten hat das nichts.AndreaH hat geschrieben : ↑So 4. Sep 2022, 00:54
María Zambrano begreift die menschliche Vernunft dualistisch – als dichterische und philosophische. Das verächtliche Herabblicken der analytischen razón filosófica auf die erlebende razón poética lehnt sie ab. Denn im bloßen Rationalismus, insbesondere jenem Kants und Hegels, erkennt Zambrano den Verlust „intellektueller Demut“, die einem die Begrenztheit der razón filosófica vor Augen führe.
-Quelle: Philosophie Magazin-

"Bloßer Rationalismus ... intellektuelle Demut" - Das erinnert an Vorstellungen wie sie etwa in der Mystik beheimatet sind oder auch in der Gnosis. Bei Meister Eckhart gibt es dieses Bild von der Seele, die ihre Nähe zu Gott verliert, wenn sie "mit ihren fünf Sinnen spazieren geht". Die Welt, so wie wir sie wahrnehmen wird dann als ein Schleier verstanden, der sich immer weiter verdichtet je mehr wir uns mit "weltlichen Dingen" beschäftigen und die Seele des Menschen dadurch von Gott getrennt wird. Dem Wahrnehmen wird dann das Spüren gegenüber gesetzt, das Spüren einer inneren "Verbindung" mit der Natur beispielsweise, die ja bei María Zambrano eine zentrale Stelle einnimmt oder mit dem Sein oder mit der kosmischen Ordnung u.ä. Die Seele ist dann gleichsam der Resonanzboden, der Wahrgenommenes in Schwingung versetzt und daraus Gespürtes macht. Im Gespür schwingt dieses Momentum noch mit. "Ahndung flog durch Leontinens Seele, sie wagt' es kaum zu denken", heißt es bei Eichendorff.
Ein quasi-religiöser Einschlag kommt mit der "intellektuellen Demut" hinzu. Anklänge an Pascal lassen sich - ahnen. Das menschliche Dasein hat über die Seele eine Verbindung zur geheimen Ordnung des Kosmos und dieses Eingewobensein erfordert dann angemessene Sprach- und Darstellungsformen, razón poética.
"Denn im bloßen Rationalismus, insbesondere jenem Kants und Hegels ..." schreibt das Philosophie Magazin
Es ist ja gerade Kant, welcher in der Kritik der reinen Vernunft dieser razón filosófica die Grenzen aufzeigt. Ich denke, daß man von einem "bloßen Rationalismus", der in dem Text des Philosophie Magazins beiläufig abgetan wird, gerade bei Kant nicht reden kann. Aber dem tiefer nachzugehen, das wäre eine Großbaustelle für sich.
Es ist ja gerade Kant, welcher in der Kritik der reinen Vernunft dieser razón filosófica die Grenzen aufzeigt. Ich denke, daß man von einem "bloßen Rationalismus", der in dem Text des Philosophie Magazins beiläufig abgetan wird, gerade bei Kant nicht reden kann. Aber dem tiefer nachzugehen, das wäre eine Großbaustelle für sich.
Was nun die "intellektuelle Demut" betrifft, ich mag mich täuschen, aber kommt nicht darin die Vorstellung eines Absoluten zum Ausdruck, das diese Demut einfordert, dem wir diese Demut schuldig sind? -
Das muß nicht Gott sein, nicht mal ein Gott, dennoch atmet es den Hauch augustinischer Gnade. Es kann auch eine vorgegebene Schöpfung sein, ein Geheimnis des Lebens, die Konstruktion einer weltsetzenden Subjektivität, die Erhabenheit der Natur, die Unergründlichkeit des Seins, die Schönheit des Kosmos ... jedenfalls etwas mit der Lizenz zum Absoluten.
Das muß nicht Gott sein, nicht mal ein Gott, dennoch atmet es den Hauch augustinischer Gnade. Es kann auch eine vorgegebene Schöpfung sein, ein Geheimnis des Lebens, die Konstruktion einer weltsetzenden Subjektivität, die Erhabenheit der Natur, die Unergründlichkeit des Seins, die Schönheit des Kosmos ... jedenfalls etwas mit der Lizenz zum Absoluten.
Alles über Futurologie
Ein Soliloquium
- Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können.
- Nein, wir müssen es nicht.
- Aber?
- Aber wir werden es machen.
- Und weshalb?
- Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können.
(aus: Hans Blumenberg; Ein mögliches Selbstverständnis; S. 19)
Ein Soliloquium
- Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können.
- Nein, wir müssen es nicht.
- Aber?
- Aber wir werden es machen.
- Und weshalb?
- Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können.
(aus: Hans Blumenberg; Ein mögliches Selbstverständnis; S. 19)
"Die Sprache ermöglicht uns, nicht hinschauen zu müssen", schreibt Paul Valéry. Die Sprache öffnet Möglichkeitsspielräume. Das Schauen in diese Spielräume ist kein empirisches Schauen, eher ein stereoskopisches Schauen, das sich von Philosophie und Literatur gleichermaßen anregen läßt. "Wir haben anzuerkennen, daß nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst Erkenntnis vermittelt, und die Philosophie steht von Anbeginn zwischen beiden. Insofern hat sie Teil an der propositionalen Erkenntnis der ersteren und an der nicht-propositionalen der letzteren." (Gottfried Gabriel; Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie, in: Christiane Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie; S. 25)
Winckelmann hat die bildende Kunst der griechischen und römischen Antike zum Vorbild der modernen Kunst gemacht. Diesen Klassizismus dürfte sich heute niemand mehr zu eigen machen, so wenig wie moderne Kompositionen sich den Generalbass Claudio Monteverdis zum Vorbild nehmen. Dennoch käme niemand auf die Idee, Musik des Frühbarock als veraltet nicht mehr zur Kunst zu zählen. Ähnlich verhält es sich mit der Philosophie und der Literatur. "Sowohl literarische wie philosophische Texte zeichnen sich vor anderen Texten dadurch aus, daß sie prinzipiell immer wieder neu aktualisierbar sind. Sie veralten nicht oder zumindest anders als Texte aus der Geschichte der Einzelwissenschaften und können immer wieder als gleichsam zeitgenössische gelesen werden. (...) Sie können deshalb jederzeit eine neue Rezeptionslinie stiften." (Christian Benne, Christine Abbt; Mit Texten denken; S. 31)
Das ist ja u.a. auch ein Gedanke der Rezeptionsästhetik. Die Rezeption eines Textes reichert diesen wieder an. Antike Stoffe werden auch heute noch rezipiert, aufgeführt, adaptiert.
Das ist ja u.a. auch ein Gedanke der Rezeptionsästhetik. Die Rezeption eines Textes reichert diesen wieder an. Antike Stoffe werden auch heute noch rezipiert, aufgeführt, adaptiert.
Um noch einmal auf Kant zurückzukommen: aus dem Jahre 1776 (evtl. auch 1778) stammt ein kurzer Text, der im Zusammenhang mit Kants Anthropologie-Vorlesungen entstanden sein dürfte und im Nachlaß Kants den Titel Reflexion 903 trägt. Darin greift Kant auf die Aeneis Vergils zurück und spricht von einer Selbstüberschätzung des "einäugigen Gelehrten" als eines "Zyklopen": "Das zweyte Auge ist also das der Selbsterkenntnis der Menschlichen Vernunft, ohne welche wir kein Augenmaas der Größe unserer Erkenntnis haben." (Kant; Reflexion 903; in: Akademie-Ausgabe; Bd. 15; S. 395)
Dieses Bild vom Zyklopen findet sich dann auch in Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Kant hat hier den "Egoisten" im Auge
, der sich "als die ganze Welt in seinem Selbst befassend begreift" und zu keinem Perspektivenwechsel fähig ist und mit einem Auge keinen stereoskopischen Blick haben kann. Deshalb schlägt Kant in geradezu zeitgenössischer Diktion einen "Pluralismus" der Perspektiven vor. Eingegangen ist dieser Pluralismus in Kants Kategorie der Modalität: Wirklichkeit im Sinne der Modalkategorie wäre eine eigene Thematik; das aber auch nur am Rande.
Vor dem Hintergrund dieser Kritik der zyklopischen Gelehrsamkeit sei noch mal ein Fragezeichen hinter den "bloßen Rationalismus" Kants gesetzt. -
Dieses Bild vom Zyklopen findet sich dann auch in Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Kant hat hier den "Egoisten" im Auge

Vor dem Hintergrund dieser Kritik der zyklopischen Gelehrsamkeit sei noch mal ein Fragezeichen hinter den "bloßen Rationalismus" Kants gesetzt. -
- Jörn Budesheim
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Ich habe mich heute den ganzen Tag der poetischen Vernunft gewidmet. Im Moment ist für mich Poesie eigentlich die Überschrift für Kunst schlechthin.








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Gleich zu Beginn von Philosophie als strenge Wissenschaft schreibt Husserl: "Eine endgültige Fixierung der wissenschaftlichen Sprache setzte die vollendete Analyse der Phänomene voraus", um alsbald zu dem ernüchternden Befund zu kommen, dieses Ziel liege "in grauer Ferne". (Edmund Husserl; Philosophie als strenge Wissenschaft; S. 24)
Ein alter cartesianischer Idealzustand: Hier die vollendete, auch im Sinne einer an ihr Ende gekommenen, philosophischen Terminologie - dort das dieser Terminologie korrespondierende Ideal der Gewißheit. In einem Eins-zu-Eins-Verhältnis decken sich Sprache und "die Sachen selbst" (Husserl).
Hier ließe sich schon eher von einem "Rationalismus" sprechen, sofern die Vernunft irgendwann sich derart entfaltet hat, daß ihre Begriffe namensgleich jedes Phänomen mit dem höchst möglichen Maß an Genauigkeit erfaßt und durchdringt und der ratio in strenger Methodik zur Gewißheit bringt - irgendwann, "in grauer Ferne".
Und bis dahin?
Ein alter cartesianischer Idealzustand: Hier die vollendete, auch im Sinne einer an ihr Ende gekommenen, philosophischen Terminologie - dort das dieser Terminologie korrespondierende Ideal der Gewißheit. In einem Eins-zu-Eins-Verhältnis decken sich Sprache und "die Sachen selbst" (Husserl).
Hier ließe sich schon eher von einem "Rationalismus" sprechen, sofern die Vernunft irgendwann sich derart entfaltet hat, daß ihre Begriffe namensgleich jedes Phänomen mit dem höchst möglichen Maß an Genauigkeit erfaßt und durchdringt und der ratio in strenger Methodik zur Gewißheit bringt - irgendwann, "in grauer Ferne".
Und bis dahin?
Kurze Randnotiz:
Der Stein ist von eigenartiger Dignität. Das Alte ist steinalt, der Reiche steinreich, das Solide steinhart, das Beständige in Stein gemeißelt. Die philosophische Mineralogie kennt den lapsis philosophorum, den Stein der Weisen. Der Stein hat eine Konzession fürs Ewige, für den Brückenschlag in saecula saeculorum. Einzig das Fluidum von Ovids gutta cavat lapidem vermag dem Stein etwas anzuhaben und das auch nur unter Beihilfe der Stetigkeit: non vi, sed saepe cadendo, nicht durch Kraft, sondern durch oftmaliges Fallen - was beim steten Tropfen der Fall ist. So bestätigt sich, was in den Attischen Nächten steht: Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit - vielleicht das Einzige, "was der Stein vom Augenblick weiß".
Sehe nur ich zwei Grabsteine?
Maria Zambrano verwebt das Logische mit dem Poetischen, das Dichten mit dem Denken.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 4. Sep 2022, 20:05Ohne das jetzt für die Goldwaage vorzusehen, vielleicht ist "dualistisch" zu ersetzen durch "komplementär"?
Das Wort "komplementär" ist da etwas stimmiger.
Nachtrag: Ein möglicher Titel für die letzte der vier Zeichnungen: "Hegels Entzweiung".
Eine interessante Interpretation, das Absolute gefällt mir sehr gut darin.Nauplios hat geschrieben : ↑So 4. Sep 2022, 16:17Was nun die "intellektuelle Demut" betrifft, ich mag mich täuschen, aber kommt nicht darin die Vorstellung eines Absoluten zum Ausdruck, das diese Demut einfordert, dem wir diese Demut schuldig sind? -
Das muß nicht Gott sein, nicht mal ein Gott, dennoch atmet es den Hauch augustinischer Gnade. Es kann auch eine vorgegebene Schöpfung sein, ein Geheimnis des Lebens, die Konstruktion einer weltsetzenden Subjektivität, die Erhabenheit der Natur, die Unergründlichkeit des Seins, die Schönheit des Kosmos ... jedenfalls etwas mit der Lizenz zum Absoluten.
Ich hätte es so gesehen,
Die Demut erfolgt aus dem Grenzbereich auf dem man stößt.
Wissenschaften bieten beispielsweise die Genauigkeit des Wissens über Aufbau, Name, Struktur einer Blume,
jedoch um das Wesen, die Lebendigkeit, das wahre Sein der Blume zu begreifen, ..... dazu braucht man Kunst, Literatur, Musik um es im Absoluten für sich zu erschließen.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 4. Sep 2022, 19:46Ich habe mich heute den ganzen Tag der poetischen Vernunft gewidmet. Im Moment ist für mich Poesie eigentlich die Überschrift für Kunst schlechthin.
Jörn du hast ein absolut schönes Beispiel mit deinen Bildern gezeigt.
Sie laden zum Verweilen ein.

Manchmal blickt man auf ein Bild, lässt sich in den Bann des Bildes ziehen und das Denken stagniert. Es erschließt sich aber in einem etwas, dass man nicht erklären kann.
Ein anderes Mal blickt man auf ein Bild und ein Impuls wird für das Denken freigesetzt.
Daher soll dieser Thread auch ein Fundus werden, der die Verbindung von Philosophie zur Kunst, Literatur und Musik aufzeigt.
Sei es der Roman von Robert Musil "der Mann ohne Eigenschaften" oder Francisco de Goyas Werk "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer"
Die Kunst, Literatur, Musik fordert uns heraus zu Denken und Wahrzunehmen.
Sei es der Roman von Robert Musil "der Mann ohne Eigenschaften" oder Francisco de Goyas Werk "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer"
Die Kunst, Literatur, Musik fordert uns heraus zu Denken und Wahrzunehmen.
Ich sehe zwei Wesen die in die gleiche Richtung blicken.Nauplios hat geschrieben : ↑Mo 5. Sep 2022, 00:11Kurze Randnotiz:
Der Stein ist von eigenartiger Dignität. Das Alte ist steinalt, der Reiche steinreich, das Solide steinhart, das Beständige in Stein gemeißelt. Die philosophische Mineralogie kennt den lapsis philosophorum, den Stein der Weisen. Der Stein hat eine Konzession fürs Ewige, für den Brückenschlag in saecula saeculorum. Einzig das Fluidum von Ovids gutta cavat lapidem vermag dem Stein etwas anzuhaben und das auch nur unter Beihilfe der Stetigkeit: non vi, sed saepe cadendo, nicht durch Kraft, sondern durch oftmaliges Fallen - was beim steten Tropfen der Fall ist. So bestätigt sich, was in den Attischen Nächten steht: Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit - vielleicht das Einzige, "was der Stein vom Augenblick weiß".
Sehe nur ich zwei Grabsteine?
In meiner Betrachtung wurden die Steine zu etwas Lebendigen.
