Wahrheit die 99. ...

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Jörn Budesheim
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Do 8. Jul 2021, 11:01

  • Stefan Schulz kommentiert einen Interview-Beitrag von Markus Gabriel.
  • In diesem Interview-Beitrag geht es u.a. um Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
  • Das sind für Gabriel Beispiele des Bösen.
  • Das Böse bestimmt Gabriel knapp gesagt so: "Das Gute und das Böse bezeichnen die Extrempole [...] Das Gute und das Böse sind universale Werte: Das Gute ist universal moralisch geboten [...] während das Böse universal moralisch verboten ist."
  • Stefan Schulz kennt diese Erläuterung, nach eigenem Bekunden.
Das scheint mir alles ziemlich unbezweifelbar zu sein. Und was ich oben schreibe, ergibt sich zwingend daraus.




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NaWennDuMeinst
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Do 8. Jul 2021, 11:25

Daraus dass Schulz die vereinfachende Zweiteilung in Gut und Böse ablehnt, folgt nicht, dass er Völkermord befürwortet.
Das ist aber ein gängiges Muster bei Dir. Wer an keine objektive Moral glaubt ist ein Befürworter von Völkermord, Kinderquälerei usw.
Na gut, das kann die Gegenseite auch: Wer noch an eine objektive Moral glaubt ist eben ein mittelalterlicher Hinterwäldler (der im Zweifel auch bereit ist für "das Gute" Morde zu begehen, denn er glaubt sich ja im Recht).
Nach Stefan Schulz ist es ein Rückfall ins Mittelalter ist, der Ansicht zu sein, dass Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dem gehören, was universal moralisch verboten ist, dem Bösen.
Schulz stellt die Dichotomie von Gut und Böse in Frage. Das sagt er genau so.
Du machst, finde ich, daraus was völlig anderes.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
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Jörn Budesheim
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Do 8. Jul 2021, 11:32

Schulz kommentiert eine Stellungnahme von Gabriel zu Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das nennt Gabriel böse. Das Gute und das Böse bezeichnen bei Gabriel Extrempole. Gabriel nennt Völkermord böse. Und Schulz fragt direkt darauf bezogen, wie weit wir es mit der Normativität treiben wollen. So und nicht anders liegen die Dinge.




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NaWennDuMeinst
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Do 8. Jul 2021, 11:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 8. Jul 2021, 11:32
So und nicht anders liegen die Dinge.
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 7. Jul 2021, 22:51
Gabriel in seinem "Banane-Auftritt":

"Das Gute hat tatsächlich insofern immer die Oberhand als das Gute eben auf der Seite der Wahrheit steht [..} Das Gute steht für die Wahrheit, für die Tatsachen, für die Fakten, und ist auf dieser Seite und das Böse arbeitet immer mit Methoden der Verwässerung, der Täuschung, der dunklen Zeiten der Manipulation, Ideologie und Proaganda."
SO - und nicht anders - stehen die Dinge.
Und ich denke das da oben kann und MUSS man kritisieren, weil es jede angebrachte Differenzierung vermissen lässt. Das ist primitives Schwarz-weiß-denken.
Als ob sich "das Gute" (oder das was wir als solches bezeichnen) niemals der "Täuschung, Manipulation, Ideologie und Proaganda" bedienen würde.



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Alethos
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Do 8. Jul 2021, 11:54

Nauplios hat geschrieben :
Mi 7. Jul 2021, 23:15
Das zu diskutieren, wäre Gegenstand von "Wahrheit die 100. ..." ;)
Keine Sorge, mit mir wird es so bald keine Wahrheitsdiskussion mehr geben. Vielleicht schalte ich mich bei der 202ten ein. :) In drei Wochen.



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Alethos
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Do 8. Jul 2021, 12:05

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 7. Jul 2021, 23:18
Alethos hat geschrieben :
Mi 7. Jul 2021, 23:01
Es geht mir doch nicht um Gabriel. Ob du ihn magst oder nicht, das ist mir nicht wichtig, dass du ihn verstehst und korrelt wiedergibst, hingegen schon.
Aber was gibt es denn da zu verstehen? In Bezug auf eine "objektive Moral" kommen wir einfach nicht zusammen.
Und das - also diese meine Einstellung - ist tatsächlich unabhängig von Gabriel.
Man muss es ja nicht so weit treiben und zum Ammoralisten werden. Aber das da ist... einfach nur peinlich und rückständig.
Ich frage mich ja auch, für wen eine solche Moralphilosophie gemacht sein soll? Für den Atheisten, der Gott ablehnt und sich aber trotzdem "moralische Führung" mit Absolutheitsanspruch wünscht?
Ich weiß es nicht. Keine Ahnung was das soll.
Zum Abschluss meiner Teilnahme an der Dikussion hier möchte ich noch antworten:

Für den Relativisten müsste es als Tatsache gelten, dass man einen Feind foltern darf. Und ebenso das Gegenteil müsste für ihn als Tatsache gelten, dass man einen Feind nicht foltern darf. Auf die Umstände komme es an.

Findet man nun heraus, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und zugleich, dass dies in jedem Fall gilt, dürfte logisch folgen, dass Folter in jedem Fall falsch ist.
Selbst dann, wenn man durch die Folter eines Einzelnen das Leben von Tausenden retten kann, hiesse das nicht, dass Folter gut ist, sondern bloss, dass man in diesem Fall verrechnet hat die Würde des Einen mit der Würde der Tausenden. Gut wird Folter dadurch nicht, wenn gilt, dass die Würde unantastbar ist. Falls das gilt!



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NaWennDuMeinst
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Do 8. Jul 2021, 12:20

Alethos hat geschrieben :
Do 8. Jul 2021, 12:05
Für den Relativisten müsste es als Tatsache gelten, dass man einen Feind foltern darf
Alethos, was ist das für ein Satz in dem der Relativist zusammen mit den "moralischen Tatsachen" vorkommt?
Ich verstehe das nicht.
Ich verstehe auch nicht, wieso ein Relativist Folter gutheissen muss?
Ist ein Relativist ein Mensch, der vollkommen in der Irrationalität gefangen jegliches rationale Argument ignoriert?
Warum soll ein Relativist nicht Argumenten und Begründungen zugänglich sein und die Qualität derselben nicht auch abschätzen können?
Was spukt da eigentlich für eine Vorstellung vom "Relativismus" in dir rum?

Dass es für den Relativisten keine objektive Moral (moralische Tatsachen) gibt, bedeutet doch nicht, dass er jede Begründung für welche Moralvorstellung auch immer für plausibel befindet.
Auch der Relativist kann eine Vorstellung davon haben wie moralische Regeln gestaltet sein sollten und wie man dazu kommt.
Zum Beispiel gilt doch auch für den Relativisten, dass philosophische Theorien im besten Fall in sich widerspruchsfrei sein sollen.
Allein wenn man das zugrunde legt (und das ist gar nicht anders möglich, wenn man nicht ins Irrationale abrutschen will) fallen schon viele Moralvorstellungen einfach raus.
Relativist zu sein, heißt doch nicht "das Denken einstellen".

Aber lass uns das mal wirklich so machen wie besprochen. Eine Pause vom Thema tut uns allen gut. Insbesondere deshalb weil momentan die Stimmung auch etwas "angespannt" ist.



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Nauplios
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Do 8. Jul 2021, 12:28

"So und nicht anders liegen die Dinge."
"SO- und nicht anders - stehen die Dinge."

Daß man darüber, wie die Dinge liegen oder stehen, ob sie so oder SO liegen oder stehen, ob also die "reale Faktenlage", die "Realität" höchstselbst so oder SO ist und dazu auch "nicht anders" ist ... daß man darüber heute zu keiner Übereinkunft kommt, läßt nicht erwarten, daß man in drei Wochen dazu kommt, so oder SO nicht. ;)

Eigentlich ist es jetzt schon Folter. ;)




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NaWennDuMeinst
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Do 8. Jul 2021, 12:38

Nauplios hat geschrieben :
Do 8. Jul 2021, 12:28
"So und nicht anders liegen die Dinge."
"SO- und nicht anders - stehen die Dinge."

Daß man darüber, wie die Dinge liegen oder stehen, ob sie so oder SO liegen oder stehen, ob also die "reale Faktenlage", die "Realität" höchstselbst so oder SO ist und dazu auch "nicht anders" ist ... daß man darüber heute zu keiner Übereinkunft kommt, läßt nicht erwarten, daß man in drei Wochen dazu kommt, so oder SO nicht. ;)

Eigentlich ist es jetzt schon Folter. ;)
Sagt der Mann, der zuvor das Folterwerkzeug bereitgelegt hat.
;-)

Naja, da wir uns ja alle einig darüber sind, dass Folter "das Böse" ist, stellen wir die mentale Folter hier ein.
Es ist ja wirklich so. Das Ganze ist eine ewige Wiederholung.



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Jörn Budesheim
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Do 8. Jul 2021, 13:08

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 8. Jul 2021, 11:39
Als ob sich "das Gute" (oder das was wir als solches bezeichnen) niemals der "Täuschung, Manipulation, Ideologie und Proaganda" bedienen würde.
Das Gute kann sich nicht der "Täuschung, Manipulation, Ideologie und Propaganda" bedienen, weil es dann nicht das Gute ist. Denn das Gute ist das, was geboten ist: und Täuschung, Manipulation, Ideologie und Propaganda sind eben gerade nicht geboten.




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NaWennDuMeinst
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Do 8. Jul 2021, 13:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 8. Jul 2021, 13:08
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 8. Jul 2021, 11:39
Als ob sich "das Gute" (oder das was wir als solches bezeichnen) niemals der "Täuschung, Manipulation, Ideologie und Proaganda" bedienen würde.
Das Gute kann sich nicht der "Täuschung, Manipulation, Ideologie und Propaganda" bedienen, weil es dann nicht das Gute ist.
Das würde aber bedeuten, dass das Gute ein in der Welt nicht vorkommendes Ideal ist. Denn Fakt ist nunmal , dass sich nicht nur "die Bösen" der Manipulation, Propaganda, Ideologie und Täuschung bedienen.
Das wäre eine Möglichkeit.
Eine andere wäre, dass diese Defintion einfach unbrauchbar ist. In der Realität gibt es diese scharfen Grenzen einfach nicht. Gut und Böse stellt sich uns (meistens) so einfach nicht dar.
Beim Triumph über das böse Nazireich haben "die Guten" das volle Repertoire an List und Täuschung, Manipulation und Propaganda ausgeschöpft. Und man kann sicher auch nicht behaupten, dass die Guten damals frei von jeglichen Ideologien gewesen wären.

Also: Diese scharfe Trennung ist problematisch. Und ebenso ist auch Gabriels Definition problematisch, weil er zum Beispiel das Gute mit der Wahrheit gleichsetzt, ohne aber erklären zu können wie wir die Wahrheit als Wahrheit erkennen.
Das Gute ist das Wahre und Wahrheit ist das Gute. Klingt schön. Ist aber bei genauer Betrachtung nicht sehr hilfreich, weil das tautologisch ist.

Und nun darfst Du gerne noch das Schlußwort schreiben, aber ich werde nicht mehr antworten, sondern verweise einfach auf die zahlreichen anderen Diskussion zu diesem Thema.



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Jörn Budesheim
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Do 8. Jul 2021, 13:38

Es ist einfach nicht richtig, dass Gabriel, dass Gute und das Wahre gleichsetzt. Das sagt er nicht. Er sagt nach meinem Verständnis stattdessen, dass das Gute eben auf der Seite der Wahrheit steht (wie es einige der Zeugen in dem fraglichen Prozess es auch gesagt haben). Das Gute steht für die Wahrheit, für die Fakten und für die Tatsachen. Und das Böse arbeitet mit Täuschung und Manipulation. Dass die Unrechtsregime der Welt es seit je her so gehalten haben, kann man schwerlich von der Hand weisen. Deswegen ist zum Beispiel in Unrechtsstaaten die Freiheit der Presse immer in Gefahr.

Die Verurteilung von Ratko Mladic findet übrigens auch Stefan Schulz gut. Das sagt er wörtlich, wenn auch nicht gerade mit Nachdruck. Wie kann er einerseits die Verurteilung zum Guten rechnen, aber anderseits die Rede von gut und böse als mittelalterlich abtun?




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Jörn Budesheim
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Do 8. Jul 2021, 16:30

Moralische Klarheit, Leitfaden für erwachsene Idealisten (Susan Neiman)

Ich weiß, wo ich bin.

Geboren wurde ich zwar in Atlanta, Georgia, seit 1982 lebe ich aber überwiegend in Berlin, einer Stadt, in der nichts unklarer scheint als die Moral und nichts unmoralischer als die Klarheit. Mir ist also nicht entgangen, dass der Titel dieses Buches zunächst auf Unverständnis stößt. Wie sollte es auch anders sein in einem Land, in dem das Wort Held verstaubte Bilder toter Verwandter in Wehrmachtsuniformen hervorruft und das Wort moralisch eher als Schimpfwort denn als Auszeichnung taugt? Aber auch in Amerika war der Titel als Provokation gemeint. Ebenso wie in Europa werden moralische Begriffe dort zunehmend von den Rechten, die jede Unterscheidung zwischen Denken und Dogma, zwischen Klarheit und Einfachheit verwischen, gebraucht. Ausgehend von der Annahme, dass vereinfachte Moralbegriffe gefährlich, gar unmoralisch sein können, haben fortschrittliche Kräfte – kann man das Wort links noch benutzen? – entschieden, auf den moralischen Wortschatz zu verzichten. Eine solche – in letzter Konsequenz nicht nur sprachliche – Selbstverstümmelung mag verständlich sein, sie ist aber am Ende fatal. Aus Angst vor Missbrauch werden die stärksten Begriffe, die wir haben, gerade denjenigen überlassen, die sie am ehesten missbrauchen. Wer aber die Missstände einer Gesellschaft verändern möchte, steht ohne eine Sprache der Moral mit leeren Händen da.

Dieses Buch verbindet zwei Projekte, die mich seit Jahren begleiten. Das erste entsprang dem Wunsch, eine Replik auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« auszuarbeiten. Denn trotz aller Nuancen und Einsprüche dieser Autoren bleibt nach der Lektüre ihres Buches kaum Hoffnung auf eine Aufklärung, die nicht dazu verdammt ist, sich selbst zu zerstören. Die Resignation wird durch andere einflussreiche Autoren noch verstärkt: wie etwa durch Foucault, der behauptete, die wichtigste Leistung der Aufklärung sei nur eine verschleierte Fortentwicklung der Herrschaftsmethoden. Gegen solche gängigen Vorstellungen wollte ich bereits seit Langem zeigen, wie viel Kraft in der Aufklärung noch steckt, wenn man sie von ihren Karikaturen befreit.

Diese philosophischen Ansätze auszuarbeiten, wurde durch die Politik des neuen Jahrhunderts noch dringlicher. Wie manch andere Entwicklung auch zeigte sich die Vereinnahmung der Sprache der Moral durch die Rechten in den USA am deutlichsten. Leider beweisen die sogenannten Tea Parties, dass der Missbrauch moralischer Begriffe, die die Bush-Regierung kennzeichnete, keine vorübergehende Phase war. Umso überraschender wirkt die Reaktion vieler ihrer Gegner: Anstatt zu überlegen, wie man verantwortlich mit der Sprache der Moral umgeht, werden Begriffe wie böse oder Held nicht wie Werkzeuge, sondern wie Waffen betrachtet, zu denen nur einer wie Bush oder bin Laden greift.

Auch wenn dieses Problem durch die amerikanische Rhetorik in den USA offensichtlicher zutage tritt, ist es längst auch in Europa präsent. Wer unverfroren von Moral, Ehre, Eigenverantwortung oder Helden spricht, wird als konservativ, wenn nicht rechts eingestuft. Wer herumnuschelt, wenn nach Idealen oder Fortschritt gefragt wird, steht heute eher links. Dies hat seine Ursache in den kulturellen Entwicklungen, deren philosophische Grundsätze hier analysiert werden. Doch das Buch will nicht nur analysieren; die Leser werden auch aufgefordert, den Mut aufzubringen, Begriffe zu benutzen, die ihnen vorher peinlich erschienen. Denn ohne die Sprache der Moral sind wir nicht einmal in der Lage, die Welt zu beschreiben – geschweige denn, sie zu verändern.

Susan Neiman, Berlin im Mai 2010




VVralda777
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Wahrheit, was ist die Wahrheit?

Die Wahrheit ist etwas das bereits geschähen ist und woran sich nichts mehr ändern kann.




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Jörn Budesheim
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Es kann doch auch Wahrheiten über die Zukunft geben: Die Sonne wird nur noch fünf Milliarden Jahre leuchten :-)




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Lucian Wing
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VVralda777 hat geschrieben :
Fr 3. Feb 2023, 01:21
Wahrheit, was ist die Wahrheit?

Die Wahrheit ist etwas das bereits geschähen ist und woran sich nichts mehr ändern kann.
Das kommt darauf an. Ian McEwan lässt in seinem Roman "Menschen wie ich" eine Figur Folgendes sagen:
Die als Dekonstruktion bekannte akademische Bewegung hatte die Sozialgeschichte »im Sturm erobert«. ... Da sie an einer traditionellen Universität studiert hatte, die auf altmodische Art narrative Berichte über die Vergangenheit produzierte, musste sie ein neues Vokabular lernen, eine neue Art zu denken. ... Als gegeben anzunehmen, dass überhaupt etwas geschehen war, gehörte sich nicht mehr. Es galt allein, historische Dokumente zu berücksichtigen, den sich ändernden wissenschaftlichen Zugang zu diesen Texten und unser eigenes, sich änderndes Verhältnis zu diesen jeweiligen Zugängen, die allesamt durch ihren Zusammenhang mit Macht und Wohlstand, mit Rasse, Klasse, Geschlecht und sexueller Orientierung definiert waren.
Wahr (oder falsch) zu sein ist eine Eigenschaft von Sätzen. Wo das Adjektiv zum Substantiv wird, beginnt der Glaubenskrieg.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 3. Feb 2023, 11:52
Wahr (oder falsch) zu sein ist eine Eigenschaft von Sätzen.
Das heißt, es war deiner Ansicht nach gar nicht der Fall, bzw. es war nicht wahr, dass sich der Mond um die Erde drehte, bevor es Sätze gab?




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Lucian Wing
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Fr 3. Feb 2023, 12:40

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 3. Feb 2023, 12:15
Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 3. Feb 2023, 11:52
Wahr (oder falsch) zu sein ist eine Eigenschaft von Sätzen.
Das heißt, es war deiner Ansicht nach gar nicht der Fall, bzw. es war nicht wahr, dass sich der Mond um die Erde drehte, bevor es Sätze gab?
Woraus ergibt sich dein Schluss? Weil etwas der Fall ist, ist der Satz, in dem der Sachverhalt ausgedrückt ist, wahr, sofern wir davon ausgehen, dass die Beschaffenheit der Welt festlegt, welche unserer Sätze wahr sind. Wo ist das Problem?



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"Wahr (oder falsch) zu sein ist eine Eigenschaft von Sätzen" verstehe ich so: Nur Sätze können wahr oder falsch sein. Das Problem dabei ist, dass nach dieser Ausdrucksweise nur dann etwas der Fall, bzw. wahr sein kann, wenn es Sätze gibt. Demnach war nichts der Fall, bevor es Sätze gab.




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Lucian Wing
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 3. Feb 2023, 12:45
"Wahr (oder falsch) zu sein ist eine Eigenschaft von Sätzen" verstehe ich so: Nur Sätze können wahr oder falsch sein. Das Problem dabei ist, dass nach dieser Ausdrucksweise nur dann etwas der Fall, bzw. wahr sein kann, wenn es Sätze gibt. Demnach war nichts der Fall, bevor es Sätze gab.
Nein, der Umkehrschluss kann aus dem Gedanken, dass die Beschaffenheit der Welt darüber entscheidet, ob eine in einem Satz ausgedrückte Theorie wahr oder falsch ist, m.E. nicht gezogen werden. Der Gedanke der Objektivität beinhaltet doch genau das, dass die Beschaffenheit der Welt nicht von unseren Theorien darüber abhängig ist, sondern unsere Theorien, die wir nur in Sätzen ausdrücken können, von der Beschaffenheit.

A hat B ermordet, ist genau dann wahr, wenn das der Fall war. Hier kommt man, weil es ein singuläres, nicht wiederkehrendes Ereignis und keine allgemeine Tatsache wie das Verhältnis Mond/Erde ist, auch nicht auf die Idee zu fragen, ob das erst der Fall war, wenn jemand den Satz geäußert hat. Eine allgeine, immer gültige Tatsache wird halt im Präsens ausgedrückt, eine abgeschlossene Handlung eben im Perfekt.



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