Hilary Putnam - das “Keine-Wunder-Argument”

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Dia_Logos
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Di 3. Okt 2017, 09:25

IMPULSBEITRAG
Hilary Putnams “Keine-Wunder-Argument”

Hilary Putnams “Keine-Wunder-Argument” soll ein realistisches Verständnis des Erfolges der Naturwissenschaften plausibel machen. Wissenschaftliche Realisten vertreten die Ansicht, dass die Gegenstände, von denen wissenschaftliche Theorien handeln, in einigen Fällen auch wirklich existieren und nicht bloß “theoretische Entitäten” sind. Beispiele dafür sind: Elektronen, Strings, Antimaterie und dergleichen mehr.
Wikipedia hat geschrieben : Der Wissenschaftliche Realismus sucht als Philosophie eine Begründung zu liefern dafür, dass die Meinung gerechtfertigt sei, dass wissenschaftliche Theorien in ihrer Anwendung eine praktisch brauchbare Beschreibung und Erklärung von Vorgängen und Strukturen liefern, wie sie in der Realität vorzufinden sind. Wenn eine wissenschaftliche Theorie gut bestätigt ist, dann rechtfertigt das die Annahme, dass die Realität so beschaffen ist, wie die Theorie es vorhersagt. Gegenteilige Annahmen würden wissenschaftliche Bestätigungen und wissenschaftlichen Fortschritt zu einem reinen Wunder machen, so das sog. (No-)Miracle-Argument(Keine-Wunder-Argument) für den wissenschaftlichen Realismus. Quelle
Putnam meint, dass andernfalls der immense und schwer leugbare Erfolg der Wissenschaften nicht mehr nachvollziehbar wäre - er wäre eine Art Wunder. Der Kern des Keine-Wunder-Arguments ist folgender: Die beste Erklärung für den Erfolg naturwissenschaftlicher Theorien (etwa bezogen auf ihrer Fähigkeit, korrekte Voraussagen zu treffen oder Objekte zu manipulieren) ist, dass diese Theorien – wenigstens annähernd – wahr sind.

Es spricht nach Putnam für den wissenschaftlichen Realismus, dass dieser im Grunde die einzige Philosophie ist, die den Erfolg der Wissenschaften nicht als solch ein Wunder begreift, denn im nahezu kosmischen Maßstab gesehen, wäre es ein sehr unwahrscheinlicher Zufall (=Wunder) wenn eine wissenschaftliche Theorie so viele richtige empirische Voraussagen treffen könnte, ohne dass ihre Aussagen über die grundlegenden Strukturen des Universums richtig oder zumindest “im Wesentlichen” oder “grundsätzlich” richtig sind.

Basierend auf: die 100 wichtigsten philosophischen Argumente.




Tosa Inu
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Mi 4. Okt 2017, 14:35

Lässt mich ehrlich gesagt relativ kalt. Dass und wie die Wissenschaft funktioniert bezweifelt doch, dort, wo sie es tut, niemand ernsthaft. Zweifel gibt es eher bezüglich ihrer erklärenden Kraft in den Gebieten Kosmologie, wo es zuweilen nicht mal mehr klar ist, wie man die theoretischen Modelle überhaupt empirisch testen soll und bei anderen prinzipiell testbareren Postulaten bleiben die Erfolge aus (bspw. hat man die dunkle Materie bislang noch immer nicht gefunden und die ist ja ihrerseits schon eine Hilfshypothese, die es - nähme man Popper ernst, was aber niemand tut - gar nicht geben dürfte, das wird dann irgendwann auch mal eng) und Neurologie, also der Naturalisierung des Geistes.

Aber dass das Internet funktioniert, braucht mir über die Tatsache, dass ich es bemerke hinaus niemand zu beweisen und ich vermute auch nicht, dass ein wunderbarer Geist des Internet dies ermöglicht.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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iselilja
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Mo 18. Dez 2017, 17:29

Dia_Logos hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 09:25

Putnam meint, dass andernfalls der immense und schwer leugbare Erfolg der Wissenschaften nicht mehr nachvollziehbar wäre - er wäre eine Art Wunder. Der Kern des Keine-Wunder-Arguments ist folgender: Die beste Erklärung für den Erfolg naturwissenschaftlicher Theorien (etwa bezogen auf ihrer Fähigkeit, korrekte Voraussagen zu treffen oder Objekte zu manipulieren) ist, dass diese Theorien – wenigstens annähernd – wahr sind.

Hm. Putnam geht offenbar von einem recht unreflektiertem Modell aus, wonach die Wissenschaft die Technik induziert - die Wissenschaft liefert Erkenntnisse auf denen die Techniker aufbauen. Aber genau das Gegenteil ist oftmals der Fall. Die meisten erfolgreichen Erfindungen sind den dazugehörigen wissenschaftlichen Erklärungen vorgelagert. Das heißt, der Erfolg ist bereits da, auch wenn man noch keine Ahnung hat, warum das überhaupt funktioniert.




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Jörn Budesheim
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Mo 18. Dez 2017, 18:02

iselilja hat geschrieben :
Mo 18. Dez 2017, 17:29
Hm.
Gegenhmm: Kannst du mir erklären, worin dein Einwand besteht?? :geek:




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iselilja
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Mo 18. Dez 2017, 18:58

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 18. Dez 2017, 18:02
iselilja hat geschrieben :
Mo 18. Dez 2017, 17:29
Hm.
Gegenhmm: Kannst du mir erklären, worin dein Einwand besteht?? :geek:
Ich weiß nicht, ob es als Einwand durchgeht. Putnam scheint mir jedenfalls sagen zu wollen, dass die Wissenschaft hinreichend oft richtig mit ihren Theorien liegt, so dass man davon ausgehen kann, dass sie auch tatsächlich die realen Zusammenhänge erfaßt (oder doch zumindest näherungsweise).

Soweit so gut.

Etwas seltsam ist allerdings der Verweis auf ihren Erfolg, denn der Erfolg kann ja unmöglich an der Theorie selbst abgelesen werden, sondern nur so, inwieweit die Theorie praktisch verifizierbar ist. Und hier ist das Problem. Denn diese Verifikation liegt ja oftmals schon vor, wenn es die Theorie dazu noch garnicht gibt. Heißt, wir wissen, dass es funktioniert, wir wissen bloß noch nicht warum (knowing how/knowing that). Nun kommt die Rolle der Wissenschaft eigentlich erst zu Tage - Experimente, Studien etc.- man findet letztendlich eine Theorie, die zu passen scheint. Das kann aber schlechterdings der Erfolg sein, auf den Putnam abzielt. Denn wir wissen ja auch, dass selbige Theorien oftmals wieder verworfen werden, weil Wissenschaftler xy ein Jahr später mit einem anderen Experiment plötzlich Ergebnisse bekommt, "mit denen wir so überhaupt nicht gerechnet haben". :-) Eine neue Theorie muss her usw. usw. Unabhängig davon funktioniert aber das, was eigentlich Gegenstand der Forschung ist immer noch genauso gut wie zuvor.

ist das nachvollziehbar worauf ich hinaus will?




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Jörn Budesheim
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Di 19. Dez 2017, 05:23

iselilja hat geschrieben :
Mo 18. Dez 2017, 18:58
ist das nachvollziehbar worauf ich hinaus will?
Sorry, ich muss passen.




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Alethos
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Di 19. Dez 2017, 22:33

Ich glaube, ich verstehe es. Bitte korrigieren, falls nicht :)

Die Wissenschaft kann sich nicht selbst wahrmachen. Sie wird wahrgemacht durch die Theorien, die sich bewähren. Theorien werden aber immer wieder verworfen, sie bewähren sich also nicht immer. Also muss die Wirksamkeit der Theorie nicht von der Theorie herkommen, sondern von etwas anderem.

Das, was wirklich ist, das ist stets wahr. Das Wahre ist daher immer wirklich, und weil es wirklich ist, ist es auch wirksam. Die Theorien kommen und gehen (manchmal), sie sind manchmal wahr und manchmal nicht. Also ist das Wirkliche das wirklich wirksame.

Gegen diese Auffassung, spricht aber folgendes: Es gibt beharrliche Theorien, also solche, die sich halten. Und es gibt ferner solche, aufgrund derer sich wiederholbar zuverlässige Voraussagen machen lassen (davon handelt ja der Thread). Dass sie das tun, sei aber kein Wunder, denn wäre es ein Wunder, dann würde das Wunder zu regelmässig geschehen :) Es gibt also eine Stetigkeit in Zuverlässigkeit der Wissenschaften, dass es wundersam wäre, hielte man sie für ein Wunder.



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iselilja
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Di 19. Dez 2017, 23:59

Jain. :-)

Also im ersten Absatz deines Beitrages finden wir gern zueinander. Das ist ja so eigentlich auch weitestgehend bekannt, dass Theorien und sogar Paradigmen kommen und gehen..


Der zweite Absatz ist etwas komplizierter, auch wenn Du momentan noch völlig davon überzeugt bist, wirst Du hoffentlich gleich erkennen, dass das alles wertlos ist.

Einen Versuch erfolgreich stringent wiederholen zu können - also salopp sein Resultat vorhersagen zu können - bedeutet noch nicht, dass die Theorie stimmt. Das ist eine immer wieder gern gemachte Fehlannahme. Allerdings halten sich solche Theorien wesentlich länger als solche, die leicht falsifiziert werden können. Das wohl bekannteste Beispiel einer schweren Falsifikationsmöglichkeit ist die Wende vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild. Denn das ptolemäische Erklärungsmodell hat wunderbar funktioniert. Man konnte die Vorhersagen (sofern im Erfahrunghorizont relevant) mit annähernd der selben Genauigkeit machen, wie im späteren kopernikanischen. Der Punkt ist, dass trotz der korrekten Vorhersagbarkeit die Theorie falsch war.




Timelaios
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Di 6. Okt 2020, 10:54

Es gibt doch quasifixierte Routinen im Alltagsleben ... Freuds Publikation dazu ist ganz erhellend (auch manches aus Traumdeutung): Menschen und Suchmaschinen ähneln, entsprechen sich im Arbeiten aber nicht vollständig.




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NaWennDuMeinst
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Di 10. Nov 2020, 00:12

Das Problem ist ganz einfach, dass man in der Theorie völlig falsch liegen und trotzdem in der Praxis Erfolg haben kann.
Wir irren uns dann nicht über den Erfolg, aber eventuell über das, was dem Erfolg zugrunde liegt (die Theorie von der Welt).

Beispiel:
Nehmen wir mal die Maßnahmen die die Regierung verhängt um die Ausbreitung des Cornoa-Virus einzudämmen.
Diesen Maßnahmen liegen eine ganze Reihe von theoretischen Annahmen über die Wirkungszusammenhänge bei der Virusausbreitung zugrunde.
Nun nehmen wir weiter an, dass wenn der Erfolg eintritt, also die Virusvermehrung erfolgreich gehemmt wird, dann unsere Theorien korrekt sind.
Das muss aber nicht zwingend so sein. Theoretisch wäre es auch möglich, dass die Virusausbreitung aufgrund eines anderen Mechanismus gehemmt wird, den wir zwar unwissentlich anwenden, aber dessen Bedeutung wir noch gar nicht erkannt haben. Wir hätten dann Erfolg, ohne aber die tatsächlichen Zusammenhänge verstanden zu haben.
Und in so fern ist Erfolg nicht zwingend ein Garant dafür, dass wir die Welt (in der Theorie) auch verstanden haben.

Deshalb ist es zumindest fraglich, ob Erfolg ein guter Indikator für echtes Wissen über die Welt ist.
Andererseits muss man auch festhalten, dass es genau dieses Erfolgsprinzip ist, das fehlerhafte Theorien aufdeckt.
Wir bemerken unseren Irrtum, wenn der Erfolg ausbleibt.



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Jörn Budesheim
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Di 10. Nov 2020, 05:31

Ich verstehe es so, dass Hilary Putnam hier ein Argument vorlegt für den wissenschaftlichen Realismus und gegen den wissenschaftlichen Antirealismus. Dabei scheint es mir nicht um einzelne Theorien zu gehen, die falsch sein können und dennoch gute Vorhersagen machen. Sondern eher darum, dass es zu viele "erfolgreiche" wissenschaftliche Theorien gibt, als dass der Antirealismus eine plausible Alternative wäre.




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NaWennDuMeinst
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Di 10. Nov 2020, 09:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 10. Nov 2020, 05:31
Ich verstehe es so, dass Hilary Putnam hier ein Argument vorlegt für den wissenschaftlichen Realismus und gegen den wissenschaftlichen Antirealismus.
So verstehe ich das auch.
Dabei scheint es mir nicht um einzelne Theorien zu gehen, die falsch sein können und dennoch gute Vorhersagen machen. Sondern eher darum, dass es zu viele "erfolgreiche" wissenschaftliche Theorien gibt, als dass der Antirealismus eine plausible Alternative wäre.
"Antirealsimus " ist hier was?
Die Annahme dass wir gar nichts über die Welt wissen können, oder die Annahme, dass wir nicht sicher sein können?



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Jörn Budesheim
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Di 10. Nov 2020, 09:54

Antirealismus würde ich jetzt einfach mit Konstruktivismus übersetzen.




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Jörn Budesheim
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So 15. Nov 2020, 11:49

Ein Beispiel wären vielleicht sogenannte "theoretische Entitäten". Soweit ich Hilary Putnam richtig verstehe, argumentierte dafür, dass sie tatsächlich existieren, während einer Antirealist wohl eher sagen würde, dass sie nur eine theoretische Rolle in unseren Modellen spielen, nur Konstruktionen sind und darüber hinaus keine Realität besitzen.




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