Alethos hat geschrieben : ↑ So 9. Aug 2020, 18:24
Wir haben es also unter dem Aspekt des Wandels und wegen der Tatsache des geschichtlichen Hintergrunds unseres Verstehens bei Begriffen nicht mit "absolut feststehenden" Grössen zu tun, sondern mit den historischen Gezeiten mitlaufenden, den Zirkularitäten eines geschichtlichen Gangs mitschwingenden Potenzialen zu tun. Dieses ist kein geschichtlicher Gang des steten Vorwärts als vielmehr ein in- und auseinander Hervorgehen von Verstehen durch historiokinetische Kräfte.
Donnerlittchen! - "historische Gezeiten" ... "mitschwingende Potenziale" ... "ein in- und auseinander Hervorgehen von Verstehen" ... "historiokinetische Kräfte" ... Zwar hat sich die M.M. Warburg Bank kürzlich aus der Schweiz weitgehend zurückgezogen (das Privatkundengeschäft hat die St. Galler Kontonalbank übernommen), doch die "Wanderwege der Kultur", von denen Aby Warburg, Sohn des damaligen Bankchefs Moritz M. Warburg, spricht, haben den Kunsthistoriker nicht nur zu den Pueblo-Indianern geführt, sondern - krankheitsbedingt - auch in die Schweiz, nach Kreuzlingen, in Ludwig Binswangers Sanatorium
Bellevue. Nun ist die Schweiz nur in der Höhe riesengroß; von Gunten nach Kreuzlingen sind´s gut zweihundert Kilometer. Könnte es sein, daß die Familiengenealogie ALETHOS Vorfahren in Kreuzlingen ausweist, die dort Kontakt zur Denkwelt Aby Warburgs hatten?
Ernst Cassirer und Fritz Saxl haben ihn dort besucht; es könnte also eine Art Schweizer Zelle in der Nähe des Bodensees gegeben haben. DENN: Die "historischen Gezeiten", von denen Du sprichst, Alethos, finden sich als "Gegenzeiten" bei Warburg wieder, die "mitschwingenden Potenziale" als "Pathosformeln", das "In- und auseinander Hervorgehen" als "Ein- und Ausströmen" und die "historiokinetischen Kräfte" gehen als "Ästhetik der Kräfte" ein ins Warburg´sche "Dynamogramm". - So werden wir mit dem oben zitierten Absatz Zeugen eines kunsttheoretischen Nachlebens, dessen "Wanderwege" vom Bodensee nach Gunten geführt haben.
Bleibt noch nachzutragen, daß Ludwig Binswangers Sanatorium
Bellevue eine "Privatanstalt für heilfähige Kranke und Pfleglinge aus den besseren Ständen der Schweiz und des Auslandes", so die offizielle Bezeichnung, war. Die "besseren Stände" hatte auch das Bankhaus M.M. Warburg bei seinem Rückzug aus dem Schweizer Privatkundengeschäft im Blick, denn dieser sollte Anlaß sein, sich künftig besser "auf Leistungen für größere Familienvermögen" (
Handelsblatt) konzentrieren zu können. - So verbanden die Häuser Binswanger und Warburg vergleichbare Interessen, die weder für ein Hamburger Bankhaus noch für eine Schweizerische Nervenheilanstalt als unschicklich gelten mögen. -
Was das alles mit Philosophie zu tun hat? - Binswanger war von Haus aus Psychiater und Psychoanalytiker, dessen Interessen jedoch über die Grenzen seines Fachs hinausgingen. In einer ersten Phase stand er dem Neukantianismus nahe, was sich mit Erscheinen von
Sein und Zeit 1927 änderte, das ihn ins Lager Heideggers wechseln ließ. Zur Phänomenologie war er vorab bereits durch jenen Wilhelm Szilasi ("Es gibt kein Ding an sich, sondern nur Dinge-an-siche") gekommen, der eine zeitlang
Poetik und Hermeneutik unsicher machte und in Freiburg die Husserl-Nachfolge angetreten hatte. Warburg wiederum hatte in Ernst Cassirer seinen Mentor gefunden und man ahnt schon, worauf es jetzt hinausläuft. Schauplatz ist wieder die Schweiz: Davos, da-wo´s nur noch "bessere Stände" mit "größeren Familienvermögen" gibt. März 1929. Gipfeltreffen in Davos: Heidegger gegen Cassirer. Warburg ist da schon wieder in Hamburg. Im Oktober 1929 stirbt er.
Binswanger hat eine auf Heideggers
Sein und Zeit aufbauende "Daseinsanalyse" als wissenschaftliche Fundierung der Psychiatrie konzipiert, die wiederum von Medard Boss, ebenfalls ein Psychiater, weiterentwickelt wurde. Dieser Medard Boss hatte es nach dem Krieg verstanden, den Kontakt zu Martin Heidegger zu finden und war später mit ihm eng befreundet. Er konnte Heidegger für seine spezifisch tiefenpsychologische "Daseinsanalyse" gewinnen und lud ihn mehrfach zu Privatseminaren ein. Natürlich in die Schweiz - wo sonst - nach Zollikon am Zürichsee. So entstanden die
Zollikoner Seminare (Gesamtausgabe, Bd. 89) .
So hängt am Ende doch alles mit allem zusammen. Und alle "Wanderwege der Kultur" führen immer - in die Schweiz.