Der "Weltknoten"

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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AufDerSonne
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Sa 16. Mär 2024, 10:56

Burkart hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 10:43
Ich denke nicht, dass es AufDerSonne darum geht, was es alles gibt, sondern was die Grundlage für alles Existierenden ist. Ohne Energie/Materie u.ä. gäbe es nichts, ohne unser Bewusstsein schon - auch wenn wir dann natürlich nicht so schön darüber philosophieren könnten ;)
Es geht mir um zwei Sachen. Das, was du sagst, ist das eine. Damit bin ich einverstanden. Also ohne Materie kein Bewusstsein.

Das andere ist, was es ganz sicher gibt. Da Materie grundlegender ist als Bewusstsein (ohne Materie gäbe es ja kein Bewusstsein), muss Materie ganz sicher existieren. Oder wenigstens sicherer als Bewusstsein. Übrigens finde ich Bewusstsein nicht so geheimnisvoll. Es ist auch nicht weither mit dem, was uns bewusst ist. Meistens sind das die alltäglichen Gegenstände, die in unserer Umgebung sind. Wenn ich meinen Tisch sehe, dann ist mir mein Tisch bewusst. Wenn ich meinen PC sehe, dann ist mir dieser bewusst. Ist ja klar. Was Bewusstsein darüber hinaus sein soll, ist mir nicht ganz klar.



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Jörn Budesheim
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Sa 16. Mär 2024, 11:19

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 10:56
sicher
Sicherheit ist keine Sache irgendwo in der physikalischen Welt, sie ist eine epistemische Kategorie. Und für diese ist für Wesen wie uns das Bewusstsein grundlegend. Wenn du kein Bewusstsein hättest, wäre für dich nichts sicher, also ist das Bewusstsein grundlegend dafür, dass dir etwas als sicher erscheint.

Dass Materie grundlegend ist, ist meiner Meinung nach spekulative Metaphysik, weil das weit außerhalb dessen liegt, was du wissen kannst. Was Du aber mit Sicherheit weißt, ist, dass Du zumindest gelegentlich bewusst bist.

Chalmers macht in dem vorangegangenen Video deutlich, dass eine der verschiedenen Möglichkeiten das Problem, wie Bewusstsein in unserer naturwissenschaftliches Weltbild passt, darin besteht, anzunehmen, dass überhaupt alles bewusst ist. Und wenn dem so wäre, dann wären Bewusstsein und "Materie" gleichursprünglich. Welche der von ihm vorgestellten Optionen richtig ist, darauf legt er sich nicht fest, das wissen wir eben "noch" nicht. (Vielleicht werden wir es auch nie wissen.) Das ist ein interessanter Punkt, wie vorsichtig hier jemand ist, der sich sein ganzes philosophisches Leben lang vor allem mit diesem Thema beschäftigt hat.




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Nauplios
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Sa 16. Mär 2024, 12:12

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 10:56

Es ist auch nicht weither mit dem, was uns bewusst ist. Meistens sind das die alltäglichen Gegenstände, die in unserer Umgebung sind. Wenn ich meinen Tisch sehe, dann ist mir mein Tisch bewusst. Wenn ich meinen PC sehe, dann ist mir dieser bewusst. Ist ja klar. Was Bewusstsein darüber hinaus sein soll, ist mir nicht ganz klar.
Die je aktuelle Wahrnehmung, die ja oft nur kurze Augenblicke dauert - jetzt den Tisch, jetzt der Blick durch's Fenster in den Garten, jetzt das grüßende Nicken der Nachbarin, jetzt das Buch auf dem Tisch, seine Seiten, die einzelnen Wörter - all diese Einzelwahrnehmungen setzen ja eines voraus: Erinnerung. Hätte ich die Nachbarin noch nie zuvor gesehen, wüßte ich gar nicht, daß es meine Nachbarin ist. Ich könnte es vielleicht daraus schließen, daß sie im angrenzenden Garten steht, aber auf diese umständliche Prozedur ist mein Bewußtsein gar nicht angewiesen. Ohne die Leistung der Erinnerung wäre auch das Lesen in dem Buch gar nicht möglich. Ich würde immer nur das einzelne Wort wahrnehmen, vielleicht gar nur die einzelnen Buchstaben oder nur Formmerkmale einzelner Buchstaben. Ohne die Erinnerungsleistung des Gedächtnisses gäbe es weder die Nachbarin noch den Text und schließlich nicht mal den Tisch, den ich ja als Tisch wahrnehme, ohne ihn zur Gänze sehen zu können, weil meine Wahrnehmung perspektivisch angelegt ist. Auch wenn der Tisch vollständig mit Büchern bedeckt ist, von ihm also fast nichts mehr zu sehen ist, sehe ich den Tisch.

Ohne Gedächtnis könnte es kein Bewußtsein geben. Während ich gedankenverloren am Schreibtisch sitze, kann der jetzt aktuelle Bewußtseinsinhalt der erste Kuß sein, der sich vor 50 Jahren ereignet hat. Ohne Erinnerungsleistung wäre das Lesen eines Buches undenkbar; ich wüßte um 12.00 Uhr nicht mehr, was ich um 11.00 Uhr gelesen hab'.

Ohne Vergessen allerdings wäre auch kein Bewußtsein denkbar. Es würde unter der schier unendlichen Fülle von Einzelwahrnehmungen kollabieren. Würde ich mich an jeden einzelnen Buchstaben erinnern, wäre das Fassungsvermögen meines Bewußtseins gesprengt. Für's Lesen reicht es ja vollkommen aus, sich an einzelne Passagen und Sätze zu erinnern; entscheidend ist, daß ein Zusammenhang entstehen kann, eine Kohärenz und Kontinuität. Es gilt hier die erste der Grice' schen Gesprächsmaximen, die der Quantität.

In der Phänomenologie spricht man deshalb oft von einem Bewußtseinsstrom, um dieses Phänomen der Beteiligung des Gedächtnisses mit dieser Metapher zu veranschaulichen.

"Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewusstseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die blinde Macht des Gedächtnisses unser Bewusstsein in so viele Splitter als es Augenblicke zählt." (Ewald Herig - 1870)

Von dieser Überlegung aus läßt sich übrigens auch eine Linie zur Rezeptionsästhetik ziehen. Auch das Sehen selbst unterliegt geschichtlichen Veränderungen. Das hat der Kunsthistoriker Johannes Grave in seiner Studie Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens herausgearbeitet. (Ich hab' darauf gestern in meiner Sprachnachricht am Schluß noch hingewiesen, aber da war das Diktiergerät meine Ausführungen bereits leid.) ;)

Für das Thema des "Weltknotens" zwischen Materie und Bewußtsein ist vielleicht auch Henri Bergsons Materie und Gedächtnis interessant.

Vom Standpunkt der Erinnerung aus gesehen ist es also mit dem Bewußtsein durchaus "weither". ;)




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Mär 2024, 12:42

Nauplios hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 12:12
Ohne Gedächtnis könnte es kein Bewußtsein geben.
Für uns ist das Gedächtnis entscheidend, meiner Meinung nach noch mehr die Phantasie, die Vorstellungskraft, von der die Erinnerung und die Antizipation der Zukunft nur Sonderformen sind. Daraus folgt meines Erachtens aber nicht, dass es kein Bewusstsein ohne Gedächtnis geben kann. Sehr einfache Existenzformen könnten in einem Dämmerzustand des ewigen Jetzt leben, bewusste Erlebnisse und Reaktionen darauf könnten z.b. fest verdrahtet sein, wie z.B die Reaktion von Fröschen auf schwarze Punkte.




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Nauplios
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Sa 16. Mär 2024, 18:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 12:42
Nauplios hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 12:12
Ohne Gedächtnis könnte es kein Bewußtsein geben.
Für uns ist das Gedächtnis entscheidend, meiner Meinung nach noch mehr die Phantasie, die Vorstellungskraft, von der die Erinnerung und die Antizipation der Zukunft nur Sonderformen sind. Daraus folgt meines Erachtens aber nicht, dass es kein Bewusstsein ohne Gedächtnis geben kann. Sehr einfache Existenzformen könnten in einem Dämmerzustand des ewigen Jetzt leben, bewusste Erlebnisse und Reaktionen darauf könnten z.b. fest verdrahtet sein, wie z.B die Reaktion von Fröschen auf schwarze Punkte.
Ja gut, das ist schon richtig. Das Interesse der Phänomenologie (im Sinne Husserls) richtet sich natürlich auf die Struktur des menschlichen Bewußtseins. Was die Phantasie betrifft, ist einer der zentralen Texte der Phänomenologie Husserls Phantasie und Bildbewußtsein. Das sind Texte aus dem Nachlaß Husserls, die sich in Band XXIII der Husserliana finden.




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AufDerSonne
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Sa 16. Mär 2024, 20:16

Nauplios hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 12:12
Ohne Gedächtnis könnte es kein Bewußtsein geben. Während ich gedankenverloren am Schreibtisch sitze, kann der jetzt aktuelle Bewußtseinsinhalt der erste Kuß sein, der sich vor 50 Jahren ereignet hat. Ohne Erinnerungsleistung wäre das Lesen eines Buches undenkbar; ich wüßte um 12.00 Uhr nicht mehr, was ich um 11.00 Uhr gelesen hab'.
Aber ist das nicht auch eine Frage der Definition von Bewusstsein. Dann ist mir eben eine Erinnerung bewusst. Gut, ich gebe zu, dass das etwas anderes ist als das Wahrnehmen eines materiellen Gegenstands, wo mir der Gegenstand bewusst wird. Folgende Unterscheidung könnte noch interessant sein. Einen Tisch sehen und einen Tisch bewusst sehen (wahrnehmen). Was ist der Unterschied? Das Sehen des Tisches liegt in beiden Fällen vor, ob bewusst oder nur so. Wenn ich den Tisch bewusst wahrnehme, dann kommt nach der Wahrnehmung noch eine Gedanke dazu, nämlich der, dass ich den Tisch gesehen habe. Bewusstsein kann heissen, ich denke (noch einmal) an das, was ich gedacht habe. Ich mache es mir bewusst. Bewusstsein könnte auch einfach eine Art von Wachheit sein.
Bewusstsein heisst, es kommt noch etwas hinzu. Wenn ich nur einen Gedanken habe, muss er mir nicht bewusst sein. Aber wenn ich in irgend einer Form einen Gedanken an einen Gedanken habe, dann ist mir letzterer bewusst. Also ich lege den Fokus auf etwas. Ich konzentriere mich auf etwas. Ich krame aus meinem Gedächtnis hervor, was mir zu der Sache noch alles in den Sinn kommt.



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Burkart
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So 17. Mär 2024, 00:06

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 10:56
Burkart hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 10:43
Ich denke nicht, dass es AufDerSonne darum geht, was es alles gibt, sondern was die Grundlage für alles Existierenden ist. Ohne Energie/Materie u.ä. gäbe es nichts, ohne unser Bewusstsein schon - auch wenn wir dann natürlich nicht so schön darüber philosophieren könnten ;)
Es geht mir um zwei Sachen. Das, was du sagst, ist das eine. Damit bin ich einverstanden. Also ohne Materie kein Bewusstsein.

Das andere ist, was es ganz sicher gibt. Da Materie grundlegender ist als Bewusstsein (ohne Materie gäbe es ja kein Bewusstsein), muss Materie ganz sicher existieren. Oder wenigstens sicherer als Bewusstsein. Übrigens finde ich Bewusstsein nicht so geheimnisvoll. Es ist auch nicht weither mit dem, was uns bewusst ist. Meistens sind das die alltäglichen Gegenstände, die in unserer Umgebung sind. Wenn ich meinen Tisch sehe, dann ist mir mein Tisch bewusst. Wenn ich meinen PC sehe, dann ist mir dieser bewusst. Ist ja klar. Was Bewusstsein darüber hinaus sein soll, ist mir nicht ganz klar.
Schon richtig, Grundlage und "was es sicher gibt", sind zwei unterschiedliche Dinge. Letzteres ist irgendwie "Geschmackssache", also ob man das eigene Denken nach Descartes als Grundlage nimmt oder ähnlich sein Bewusstsein.
Aber was ist schon alles sicher bzw. inwiefern? Ich sehe es wissenschaftlich, dass etwas für mich solange sicher ist, was ich weiß bzw. kenne, solange mir nichts Gegenteiliges bewiesen wird. So kann man gewisse Dinge ablehnen, die gewisse Menschen(gruppen) einem aufschwatzen wollen, was vermeintlich richtig oder besser sein soll. Andererseits kann man für sich auch Dinge bewusst als sicherer/richtig/besser ansehen, die für Einen z.B. gesundheitlich besser sind (ich versuche mich an den Geschmack von irgendwas wie z.B. Oliven zu gewöhnen, was/die ich bisher nicht mochte, aber wohl gesund ist bzw. sein soll).



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Jörn Budesheim
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So 17. Mär 2024, 07:12

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 20:16
Definition von Bewusstsein
Hier haben wir es mit einem ähnlichen Fall zu tun wie beim Begriff der "Überzeugung". Auch der Begriff des "Bewusstseins" wird in der Philosophie in manchen Kontexten anders verwendet als wir ihn im Alltag gebrauchen. Im Alltag sprechen wir z.B. von Umwelt- oder Klassenbewusstsein, davon, dass wir uns entschieden haben, bestimmte Dinge bewusster zu tun und so weiter.

Der Hirnforscher und Philosoph Christof Koch fasst den Begriff jedoch etwas allgemeiner, er sagt schlicht: "Bewusstsein ist Erleben". Damit ist alles gemeint, was wir (in welcher Form auch immer) erleben, vom Aufwachen bis zum Schlafengehen und natürlich auch unsere Träume.

Eine eingängige Formel dafür stammt von dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel: Ein System ist bewusst, wenn es sich für es "irgendwie anfühlt", genauer gesagt, wenn es für es "irgendwie ist", in diesem Zustand zu sein. Zum ersten Mal verwendete er diesen Ausdruck wohl in seinem legendären Essay "What Is It Like to Be a Bat? / Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?". In diesem Aufsatz macht er auch deutlich, welche Grenzen das Bewusstsein seiner wissenschaftlichen Forschung setzen kann. Denn wie es für die Fledermaus selbst ist, mit dem Echo-Radar durch den Wald zu fliegen, das können wir mit wissenschaftlichen Methoden allein niemals erforschen.

Mit Bewusstsein ist in diesem Zusammenhang also nicht nur gemeint, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten. Den Tisch sehen, einfach so, und den Tisch ganz bewusst sehen, beides fällt nach diesem Verständnis, dieser Verwendung des Begriffs unter den Begriff des Bewusstseins. Das heißt nicht, dass der Begriff in der Philosophie nicht noch feiner differenziert werden kann, manchmal wird z.B. zwischen Zugangsbewusstsein und phänomenalem Bewusstsein unterschieden. Der Hirnforscher Koch unterscheidet auch zwischen verschiedenen Graden des Bewusstseins, vom leichten bis zum sehr wachen Bewusstsein, zusammen mit Julio Tononi hat er dafür sogar eine mathematische Theorie entwickelt, die das quantifizieren soll.

Die Differenzierung des Bewusstseinsbegriffs hängt von der Fragestellung ab. Wenn man das Bewusstsein selbst philosophisch betrachtet, muss man natürlich sehr fein differenzieren, insbesondere wenn man sich auf das menschliche Bewusstsein bezieht. Wenn man sich aber mit der ungelösten (manche meinen auch unlösbaren) Frage beschäftigt, wie sich Bewusstsein in die "physikalische Realität" einfügt, dann wirft das Bewusstsein des Regenwurms (fast) die gleichen Probleme auf wie jedes andere Bewusstsein, es stellt sich z.B. die Frage, warum bewusste Zustände das oben genannte "Wie es ist" aufweisen.




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Jörn Budesheim
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So 17. Mär 2024, 07:44

Vor nicht allzu langer Zeit herrschte in der Hirnforschung eine Art Euphorie, das Problem des Bewusstseins schnell lösen zu können. Nahezu im gesamten Feuilleton war davon zu lesen. In Amerika gab es sogar eine Dekade des Bewusstseins, aber wenn man Markus Gabriel glauben darf, ist diese Euphorie inzwischen verflogen. Im Interview mit Matthias Eckholt äußert er sich dazu wie folgt:

"Das Manifest führender Hirnforscher wurde hier in Bonn u. a. vom Neurowissenschaftler Christian Elger auf einer Tagung angestoßen. Elger ist einer der weltweit am meisten zitierten Epileptologen, also eine richtige Koryphäe in seinem Fach. Auf einem Podium hat er mir jüngst bestätigt, dass dasjenige, was sie über den freien Willen und das Bewusstsein damals so gesagt haben, nicht aufgegangen ist, das zieht er alles zurück. Auch die sehr technisch orientierten Neurowissenschaftler, mit denen ich hier in Bonn zusammenarbeite, sagen mir: Du kannst von uns etwas über Neurone lernen, aber auf Fragen nach Bewusstsein und freiem Willen können wir fürs Erste – und auf sehr lange Sicht – einfach gar nichts sagen. Da ist in der Tat so eine Depression in die deutsche Neurowissenschaft gekommen. Nach Gerhard Roth und Wolf Singer sind die jetzt alle handzahm. Ich war auch mal mit Gerhard Roth in einer Radiosendung. Es war eigentlich als Provokation gedacht, dass man uns gegeneinander antreten lässt, aber er stimmte mir immer nur zu. Er war bei dieser Gelegenheit leider ganz zahnlos. Für mich haben sich aus dem Generalangriff, den ich mit meinem Buch ["Ich ist nicht Gehirn"] gestartet habe, sehr konkrete Sachen ergeben. Teilweise kann ich auch testbare Hypothesen formulieren. Wir sitzen dann zusammen, und die Neurowissenschaftler versuchen, mein Vokabular auf Testbares herunterzuschrauben, und dann gucken sie, was da geht. Das sind Kooperationen, die gerade erst angestoßen wurden..."




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So 17. Mär 2024, 09:01



John Searle, einer der bekanntesten amerikanischen Philosophen, der auch ein wichtiges Buch über das Bewusstsein geschrieben hat, "Die Wiederentdeckung des Geistes", ist der Meinung, dass das "harte Problem" (das ist die berühmte Formulierung von David Chalmers) gar nicht so hart ist. Wenn ich mich recht erinnere, war "Die Wiederentdeckung des Geistes" auch das erste Buch, das ich über das philosophische Problem des Bewusstseins gelesen habe, aber das ist schon eine Weile her, ich kann mich aber noch gut erinnern, wie sehr mich das damals beeindruckt hat :)




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So 17. Mär 2024, 16:06



Der Hirnforscher Donald Hoffmann über das schwierige Problem aus seiner Sicht. Das hat mich etwas überrascht. (Das Video ist sehr sehenswert, insbesondere wegen der lustigen Beispiele zum Thema Korrelation.) Besser finde ich dennich die folgende Erklärung von Christof Koch. Ich meine eigentlich nur die ersten Minuten des Interviews, wo Koch darauf besteht, dass z.B. ein blaues Erleben so radikal anders ist, als das, was man aus der Perspektive der dritten Person im Gehirn vorfindet.





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So 17. Mär 2024, 16:21

Wir können uns folgendes Science-Fiction-Szenario vorstellen. Außerirdische mit hochentwickelter Technologie scannen die Erde aus dem Orbit, um die oberste Direktive nicht zu gefährden. Dabei können sie bis in den subatomaren Bereich alles sehen, viel mehr als alle unsere Wissenschaftler im Gehirn sehen können. Stellen wir uns nun vor, sie selbst wären nur Zombies, Wesen ohne Bewusstsein. Davon hätten sie noch nie etwas gehört. Sie würden bei ihren Scans vielleicht nicht einmal sofort merken, dass ihnen etwas sehr Wichtiges fehlt, weil sie Bewusstsein nicht aus eigener Erfahrung kennen. Was würden sie denken, warum Menschen manchmal in großen Räumen stehen, lange auf sehr flache Gegenstände an der Wand starren...?




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Jörn Budesheim
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So 17. Mär 2024, 16:53

Christof Koch, Bewusstsein, warum es weit verbreitet ist, aber nicht digitalisiert werden kann hat geschrieben : Leibniz‘ Mühlenbeispiel* und seinen modernen Varianten kann man nur begegnen, indem man beim nackten Erleben ansetzt. Der australisch-amerikanische Philosoph David Chalmers prägte den Begriff „das schwierige Problem“ (the hard problem), auf den er mit einem langen und stringenten Überlegungsweg hinführte, der auch Zombies – imaginäre Kreaturen, die wie wir aussehen, aber keinerlei Empfinden haben – mit einschloss. Anders als ihre Namensvettern aus einschlägigen Horrorfilmen agieren philosophische Zombies wie normale Menschen; sie haben weder übermenschliche Kräfte noch Appetit auf Menschenfleisch. Sie sprechen sogar über ihre Gefühle, um uns einzulullen. Doch es ist alles, wirklich alles nur vorgetäuscht. Leider gibt es keine Möglichkeit, einen Zombie von Menschen wie Ihnen und mir zu unterscheiden. Chalmers stellt die Frage, ob die Existenz von Zombies irgendwelchen Naturgesetzen widerspricht, will sagen: Ist eine Welt ohne Erleben vorstellbar, die dennoch denselben physikalischen Gesetzen gehorcht wie unsere Welt? Die Antwort lautet: ja. Keine der Gleichungen, die der Quantenmechanik oder der Relativitätstheorie zugrunde liegen, erwähnt das Erleben, ebenso wenig wie die Chemie oder die Molekularbiologie. Auf Buchlänge (und unmöglich in wenigen Zeilen zusammenzufassen) legt Chalmers seine Argumentation dar, der zufolge kein Naturgesetz die Existenz solcher Zombies ausschließt. Das bewusste Erleben ist somit ein zusätzliches Faktum, das den Rahmen der heutigen Naturwissenschaft übersteigt. Wir brauchen eine andere Möglichkeit, um Erleben zu erklären. Chalmers erkennt die Existenz bestimmter Brückenprinzipien an – empirischer Beobachtungen, die die materielle mit der phänomenalen Welt verbinden (so etwa die Beobachtung, dass das Gehirn eng mit dem Bewusstsein verbunden ist). Warum aber bestimmte Teile von Materie diese enge Verbindung zum Erleben haben, ist ein Rätsel, das schwer, ja womöglich gar nicht zu lösen ist.
*In seinem Mühlenbeispiel vergleicht Leibniz den Menschen mit einer denkenden Maschine, einer Mühle. Betreten wir diese Mühle, finden wir nur mechanische Teile, die sich bewegen und stoßen. Der Geist selbst, das Denken, bleibt uns jedoch verborgen.




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AufDerSonne
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So 17. Mär 2024, 16:57

Das geht in die Richtung, die ich manchmal einbringe: Der Bruch zwischen Leben und Materie. (Der Übergang von toter Materie zum Lebewesen).



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Nauplios
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So 17. Mär 2024, 18:29

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 16. Mär 2024, 10:56

Das andere ist, was es ganz sicher gibt. Da Materie grundlegender ist als Bewusstsein (ohne Materie gäbe es ja kein Bewusstsein), muss Materie ganz sicher existieren. Oder wenigstens sicherer als Bewusstsein.
Daß die Materie grundlegender ist als Bewußtsein, leuchtet ein. Ein Physiker wie Max Planck sagt dazu:

"Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt […] so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewußten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie. Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche – denn die Materie bestünde ohne den Geist überhaupt nicht -, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre!" (Link)

Ein anderer Physiker, Hans-Peter Dürr meint ebenfalls:
M03861910284-large.jpg
M03861910284-large.jpg (14.72 KiB) 614 mal betrachtet
Vielleicht weist das Einleuchtende manchmal einen Mangel an Verlässlichkeit auf. :(




Burkart
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So 17. Mär 2024, 18:56

Nauplios hat geschrieben :
So 17. Mär 2024, 18:29
"Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt […] so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewußten intelligenten Geist annehmen."
[...]
Vielleicht weist das Einleuchtende manchmal einen Mangel an Verlässlichkeit auf. :(
Wenn du dich mit letzterem auf das Zitat(teil) beziehst, stimme ich dem Mangel an Verlässlichkeit zu, ich sehe keine zwingenden Grund für den Geist. Und wenn es ihn gäbe, was soll er sein, woher soll er kommen? Die Frage des Allerersten lässt sich so jedenfalls nicht zwingend beantworten... vielleicht bestände er ja auch wieder aus etwas wie Materie, wer weiß.



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Jörn Budesheim
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Mir ist nicht ganz klar, welches Argument du gerade vorgetragen hast. Kannst du es bitte noch mal erläutern?




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Jörn Budesheim
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Meines Wissens ist es keineswegs sicher, dass es Materie im herkömmlichen Sinne gibt. (Meines Wissens ist es sogar umgekehrt: Es ist ziemlich sicher, dass es Materie in diesem Sinne physikalisch überhaupt nicht gibt).

Manche Physiker halten Information für den "Urstoff" des Universums.

Andere sprechen davon, dass eigentlich alles aus Feldern besteht. Die Elementarteilchen, von denen man manchmal liest, sind "keine festen Bausteine, sondern es sind die «Quanten» entsprechender Elementarfelder, so wie die Photonen «Quanten» des elektromagnetischen Felds sind. Ähnlich wie bei dem Feld von Faraday und Maxwell sind es elementare Anregungen eines frei beweglichen Quantenfelds. Winzig kleine Wellen, die sich schnell bewegen. Die verschwinden und wiederauftauchen nach den seltsamen Gesetzen der Quantenmechanik, denen zufolge das, was existiert, niemals etwas Stabiles ist, sondern nur ein Springen von einer Wechselwirkung zur nächsten." (Carlos Rovelli)

Den leeren Raum, von dem weiter oben die Rede war, gibt es meines Wissens überhaupt nicht, dass Vakuum ist ein reines "Chaos":

"Auch wenn wir einen leeren Bereich im Raum beobachten, in dem es keine Atome gibt, sehen wir trotzdem ein feines Wimmeln dieser Teilchen. Es gibt kein Vakuum, das wirklich leer ist. Wie auch das ruhigste Meer, aus der Nähe betrachtet, sich leicht bewegt, so fluktuieren im Kleinen die Felder, aus denen die Welt besteht, und wir können uns vorstellen, wie kurz und flüchtig das Leben ihrer Grundbestandteile ist, da sie in diesem Pulsieren und Vibrieren ständig neu erschaffen und wieder zerstört werden." (Carlos Rovelli)

Und welche überraschenden Entdeckungen uns die Physik noch bescheren wird, kann ohnehin niemand vorhersagen. Da den Physikern die Materie immer mehr durch die Finger rinnt, spricht heute kaum noch jemand von Materialismus. Wenn man der Meinung ist, dass es nur das gibt, was die Physik sagt, dann spricht man heute in der Regel eher von Physikalismus, manchmal auch von Naturalismus.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 17. Mär 2024, 19:00
Mir ist nicht ganz klar, welches Argument du gerade vorgetragen hast. Kannst du es bitte noch mal erläutern?
Ich sehe keinen (zwingenden) Grund, warum es grundlegender als Materie noch Geist geben soll.



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Nauplios
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So 17. Mär 2024, 19:38

@AufDerSonne:

Du schreibst im Nachbarthread Philosophie für Kinder, in der Philosophie müßte es genauso sein wie in der Mathematik - bezogen auf den kindlichen Erstkontakt in Form von "Rätseln".

Nicht nur diese Stelle (sie ist zufällig gerade aktuell), auch darüberhinaus scheinst Du mir ein großes Unbehagen an philosophisch Unsicherem ("Materie muß ganz sicher existieren") zu haben. ;) Zieht man den Fokus etwas größer ins Ursprüngliche, dann trifft man bei Aristoteles auf ein Wissensideal, dem θεωρία als Inbegriff kontemplativer Anschauung gilt. Mit Francis Bacon (Novum Organum scientiarum 1620) entsteht an der Schwelle zur Neuzeit ein Bild von Theorie, das Wissen als Macht, als Verfügungsmasse zum Zwecke der Nutznießung, darstellt. Hans Jonas schreibt in Organismus und Freiheit, diese Wandlung des Wissensideals habe eine "ontologische Reduktion der Natur" zur Folge gehabt (S. 279), eine Aufspaltung in kleinste Einheiten. So komme es, "daß für moderne Theorie praktische Anwendung nicht zufällig, sondern wesenseigentümlich ist oder daß Naturwissenschaft technologisch in ihrem Wesen ist." (S. 276) Das setzt dann die Eigendynamik eines sich stets weiterentwickelnden technischen Fortschritts in Gang, aus dem man nicht mehr aussteigen kann. (Jonas sieht deshalb die Notwendigkeit einer am antiken φύσις-Gedanken orientierten Ethik, die ontologisch fundiert sein müsse. Der Mensch müsse zum "Vollstrecker einer Pflegschaft" werden. Einen "Tractatus technologico-ethicus" hat Hans Jonas nicht mehr wie geplant schreiben können.)

Daß wir heute auf das "Sichere" kapriziert sind - sei es in Gestalt von Materie oder Geist) - ist also u.a. einer technischen Entwicklung geschuldet, die mit einem Paradigmenwechel des Wissensideals zu tun hat. Weil Gott die Wirklichkeit nicht länger garantiert (wie noch im Spätmittelalter) übernehmen in der Neuzeit die Naturwissenschaften die Garantieleistungen für das, was es gibt, für das, was "sicher" ist. Die Philosophie erscheint aus dieser Perspektive im Rückspiegel eines technologischen Fortschritts und wird ihm wie selbstverständlich angemessen. Ihr ist jetzt nicht mehr Kontemplation zu eigen, sondern sie verliert sich in der Kommentierung des naturwissenschaftlich Erwiesenen, eine ancilla scientiae. Ihr Erfolg mißt sich daran, daß sie "Rätsel" löst.

Unsere Auffassungen von Wissenschaft, Philosophie, Technik usw. sind eingebunden in einen geschichtlichen Verlauf, vor dem sie sich abheben und aus dem heraus sie verstanden werden können.




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