Multiple Realisierung

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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Jörn Budesheim
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Sa 6. Jan 2024, 16:07

Radikal geht es Thomas Nagel an...
Thomas Nagel, in "Geist und Kosmos, Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist" hat geschrieben :
Es ist die Absicht dieses Buchs, einsichtig zu machen, dass das Körper-Geist-Problem nicht bloß ein lokal begrenztes Problem ist, das mit dem Verhältnis zwischen Geist, Gehirn und Verhalten bei lebendigen tierischen Organismen zu tun hat, sondern dass dieses Problem unser Verständnis des gesamten Kosmos und dessen Geschichte vollkommen durchdringt. Die physikalischen Wissenschaften und die Evolutionsbiologie lassen sich nicht davon isolieren, und ich glaube, eine echte Würdigung der Schwierigkeit des Problems muss schließlich auch unsere Vorstellung vom Stellenwert der physikalischen Wissenschaften für die Beschreibung der Naturordnung verändern.

[...]

[Der] psychophysische Reduktionismus [ist] eine Position in der Philosophie des Geistes, die weitgehend von der Erwartung motiviert ist, zeigen zu können, dass die physikalischen Wissenschaften im Prinzip eine Theorie von allem liefern könnten.

[...]

Unter den Naturwissenschaftlern und Philosophen, die überhaupt Auffassungen zur Ordnung der Natur als Ganzes äußern, wird gemeinhin angenommen, dass der reduktive Materialismus die einzige ernsthafte Möglichkeit ist.

[...]

Ich werde den Standpunkt vertreten, dass diese Prozesse [die physikalische, chemische und schließlich biologische Evolution des Universums] im Licht dessen, was sie hervorgebracht haben, neu überdacht werden müssen, wenn der psychophysische Reduktionismus falsch ist.

[...]

Das Ziel wäre, ein plausibles Bild davon zu geben, wie wir in die Welt passen.
Das scheint mir der Kern des Problems zu sein: ist der reduktive Materialismus wahr oder gibt es eine andere Möglichkeit. Eine Möglichkeit also, in der sich unsere Wahrnehmung, unser Fühlen und Denken nicht als Illusion erweisen. Und eine Antwort auf die Frage, wie der Geist in die Welt passt.




Michael7Nigl
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Sa 6. Jan 2024, 23:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 09:17
Okay! Ich finde, der Unterschied ist eklatant, im Grunde schreibst du fast das Gegenteil von dem, was ich schreibe. Du nimmst mit Deiner Beschreibung nach meinem Verständnis schon eine bestimmte Position in der Philosophie des Geistes ein, während ich zumindest versucht habe, einigermaßen neutral zu schreiben. Ich wette keine großen Summen, dass mir das gelungen ist.

Die Position, die du in der Beschreibung selbst einnimmst, schließt schon eine ganze Reihe anderer Positionen aus. Hier ein Beispiel: Du hast das Video von Alva Noë gesehen, und diese Position passt nicht zu Deiner Innen-Außen-Semantik. Eines seiner Videos zu diesem Thema heißt "Getting Out of Our Heads". Er benutzt zwei verschiedene Metaphern, um seine Position zu veranschaulichen: Das Bewusstsein im Kopf zu suchen, ist wie den Wert des Geldes in der Struktur des bedruckten Papiers zu suchen. Oder: Das Bewusstsein im Gehirn zu suchen, ist wie das Tanzen in den Muskeln des Tänzers zu suchen. Deine Innen-Außen-Semantik schließt diese Position aus der Beschreibung aus.

Dasselbe gilt z.B. für meine phänomenologi[sti]sche Beschreibung des Erlebens eines Frühlingstages. Diese Beschreibung wendet sich explizit gegen deine Innen-Außen-Semantik. Diese Position, mit der ich sympathisiere, ist also bei dir schon in der Beschreibung der Problemlage ausgeschlossen!

Ein anderes Beispiel wäre der Begriff der Intentionalität, auch da nimmst du anscheinend eine bestimmte Position ein, nämlich dass Internationalität irgendwie innen ist, während z.B. die Position, die ich vertrete, damit explizit ausgeschlossen wird. Wenn ich z.B. an diesen Stuhl dort denke, dann ist der Stuhl selbst Gegenstand des Gedankens und der Stuhl ist sicher nicht in meinem Kopf oder in meinem Bewusstsein. Wir müssen an dieser Stelle auch nicht darüber streiten, welcher der beiden Begriffe angemessener ist. Es reicht, zu sehen, dass mein Begriff der Intentionalität aus deiner Beschreibung ausgeschlossen ist.

Sicherlich sind meine verschiedenen Beschreibungen des Leib Seele Problems - oder wie auch immer man es nennen sollte - auch nicht perfekt, das ist nicht mein Punkt. Mein Punkt ist, dass deine Beschreibung und meine Beschreibungen extrem weit auseinander liegen.

Wenn deine Beschreibung mit innen und außen richtig ist, dann ist praktisch alles, was ich dazu denke, schon auf der Ebene der Beschreibung der Problemlage falsch. Und wenn das, was ich denke, richtig ist, dann ist die Beschreibung von innen und außen falsch. Mit anderen Worten: Wir nehmen einander ausschließende Positionen ein.
Mir scheint, dass Deine Einordnung meiner Position auf einem einfachen Missverständnis beruht: Was ich mit "Innen" und "Außen" zum Ausdruck bringen möchte, ist in keinster Weise räumlich gemeint.- Sondern eher perspektivisch.
Warum können wir nicht Gedanken lesen? Warum können wir nicht fremde Aktivitätsmuster eines Schmerzes spüren? Weil Gedanken und Empfindungen zur "inneren" Welt eines Jeden gehören.
Ebenso können wir uns nicht sicher sein, dass ein wahrgenommener Gegenstand in der "äußeren" Welt tatsächlich objektiv existiert, weil wir ja nur eine Vorstellung des Gegenstandes in unserem Bewusstsein haben. Diese Wahrnehmung kann auf eine optische Täuschen zurückzuführen sein, oder eine Wahrnehmungsstörung (Halluzination, Schizophrenie). Erst bspw. der intersubjektive Austausch mit Anderen und wissenschaftliche Untersuchung des Gegenstandes können uns einige Sicherheit darin geben, dass ein bestimmter Gegenstand da ist und nicht nur in unserem Geist (ein extremer Fall wäre z.B. auch, dass wir träumen - manchmal können Träume sehr real wirken; eine weitere Möglichkeit wäre das Beispiel von Descartes des "genius malignus", der uns täuschen könnte).

In diesem Sinne besteht für mich die Ursache des Leib-Seele-Problems in einer Zweiteilung unserer Realität: Einem subjektiven Teil, der unser gesamtes Erleben umfasst, und einem objektiven Teil, indem wir Elemente unseres Erlebens auf Vorgänge in einer von uns unabhängigen Welt zurückführen, weil diese Elemente bspw. auch von Anderen erlebt werden. Im Unterschied zu jenen Elementen mit einem objektiven Bezug haben wir auch Vorstellungen (z.B. Phantasie), die nicht in dieser Weise objektiv realisiert sind (wie in Kants Beispiel von dem gedachten Taler und dem realen Taler).




Michael7Nigl
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So 7. Jan 2024, 00:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 09:35
Ich werde dazu nichts mehr schreiben, es sei denn, du versuchst eine andere grammatikalische Umformulierung. Das muss aber nicht sein. Wir können das Thema auch ad acta legen, offensichtlich ist unser Sprachgefühl hier zu unterschiedlich.
Zwar bin ich überzeugt, dass unsere unterschiedlichen Auffassungen hier auf einem Missverständnis beruhen und nicht darauf, dass wir jeweils eine andere Position einnähmen. Wir können dieses sprachliche Missverständnis aber zunächst ignorieren.

Du kannst ja dennoch einmal erklären, weshalb Du es einleuchtend findest, dass seelische Verfassungen nicht mit körperlichen Zuständen identisch sein können wegen der angenommenen Tatsache, dass gleiche seelische Verfassungen mit unterschiedlichen körperlichen Zuständen verknüpft sind.

Übrigens finde ich persönlich dabei die Unterscheidung von Type und Token zunächst nicht wichtig. Wenn es für Dich von Bedeutung ist, können wir aber auch tiefer in diese Unterscheidung einsteigen und differenzieren.




Michael7Nigl
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So 7. Jan 2024, 00:48

Burkart hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 10:52
Gegenfrage: Ab wann und warum haben biologische, natürliche Wesen denn einen Geist? Warum soll man deine Frage klar beantworten können, wenn man meine nicht klar beantworten kann?
Insofern scheint es irgendwie nicht die richtige Frage zu sein bzw. man verrennt sich in den Begriff "Geist", der einfach zu unklar ist - anstelle einfachere Fragen zu stellen und diese (versuchen) zu beantworten, z.B. hinsichtlich funktionaler Aspekte.
Deine Gegenfrage ist natürlich genauso gut. Man kann sich fragen, ab wann ein Embryo oder ein Baby ein Bewusstsein hat. Was muss auf materieller Seite stattfinden, dass wir ein bewusstes Erleben haben? Und warum führen diese materiellen Ereignisse dazu? Könnte man sich vorstellen, dass diese materiellen Ereignisse auch ohne subjektives Erleben stattfinden.

So unklar finde ich den Begriff "Geist" gar nicht. Wir können bspw. kaum annehmen, dass ein Stein eine eigene Perspektive hat oder ein subjektives Erleben. Er ist nur ein Haufen Atome.
Auch wir sind in gewisser Weise nur ein Haufen Atome, aber eben mit einer eigenen Perspektive und einem subjektiven Erleben, einem Bewusstsein. Warum ist das so? Was ist der Unterschied zwischen einem Stein und einem Menschen? Im Grunde kann es nur die Zusammenstellung der Atome und ihre Bewegung sein, die uns objektiv unterscheidet. Wie aber kann die Bewegung von Atomen zu Bewusstsein führen?

Freilich ist das jetzt wieder der große Gegensatz von Geist und Materie, den Sie bereits kritisiert haben. Sie fordern die Berücksichtigung von Zwischenstufen. Aber im Grunde ist die Bewegung von Materie das, was objektiv stattfindet. Nicht mehr und nicht weniger. (Zumindest nach heutigem wissenschaftlichen Kenntnisstand.)
Burkart hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 10:52
Ich weiß nicht, was du mit "heute so vorstellen" genau meinst. Natürlich gehört zum Gehirn bzw. zum ganzen Menschen (Tier, ...) auch vernünftiger Input, mit dem er was Sinnvolles anfangen kann, z.B. hinsichtlich seiner Wünsche, Bedürfnisse, Ziele, z.B. dass Essen ihm sein Hungergefühl vertreibt.
Nur was soll daran so mysteriös bzw. unklar sein?
Man könnte ja geneigt sein anzunehmen, dass unser Bewusstsein von unserem Gehirn erzeugt wird. Ich bin mir sicher, dass dies auch oft so gesagt und gedacht wird, wobei man den von Dir angesprochenen Input als evtl. notwendiges Element vergisst.
Daran ist nichts Mysteriöses, ich denke, dass Alva Noë lediglich darauf hinweisen wollte.

Übrigens finde ich diesen Gedanken auch nicht selbstverständlich. Hätten wir denn tatsächlich kein Bewusstsein, wenn alle Reize vom Gehirn abgeschnitten wären? Würden wir sofort sterben oder in ein Koma fallen? Das scheint mir nicht a priori klar zu sein.




Timberlake
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So 7. Jan 2024, 00:59

Michael7Nigl hat geschrieben :
So 7. Jan 2024, 00:22
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 09:35
Ich werde dazu nichts mehr schreiben, es sei denn, du versuchst eine andere grammatikalische Umformulierung. Das muss aber nicht sein. Wir können das Thema auch ad acta legen, offensichtlich ist unser Sprachgefühl hier zu unterschiedlich.
Zwar bin ich überzeugt, dass unsere unterschiedlichen Auffassungen hier auf einem Missverständnis beruhen und nicht darauf, dass wir jeweils eine andere Position einnähmen.
Wie ich übrigens davon überzeugt bin , dass eure Missverständnis zum Thema auf das Verlasssen jener "allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte(Hegel) " beruhen, auf die ich in meinen Beiträgen aufmerksam machen wollte.




Timberlake
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So 7. Jan 2024, 01:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 10:47
Timberlake hat geschrieben :
Fr 5. Jan 2024, 23:15
Aus was bricht denn eine mentale Verfassung hervor, wenn nicht mit einem körperlichen Zustand...
Z.B aus einer anderen "mentalen Verfassung".
.. aus einer anderen "mentalen Verfassung", die bei einem selbst über einen körperlichen körperlichen Zustand, wiederum zu einer mentalen Verfassung wird. Wie übrigens auch die "mentale Verfassung" des anderen, zweifelsohne das Resultat eines körperlichen Zustandes ist.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 10:47

Mit anderen Worten, "die mentale Verfassung" des Kindes wird durch die "mentale Verfassung" der anderen produziert. Mit noch anderen Worten, der Geist des Kindes wird durch den Geist der anderen hervorgebracht. Dasselbe gilt für das Gehirn des Kindes, das Gehirn des Kindes wird durch den Geist der anderen geformt. Es ist der Geist, der das Gehirn formt. Ein Gehirn ohne geistige Nahrung verkümmert.
Mit anderen Worten "die mentale Verfassung" des Kindes wird durch den "körperlichen Zustand." eines Anderen produziert. Wie auch der "körperlichen Zustand." des Kindes durch die " mentale Verfassung" eines Anderen produziert wird. "Mentale Verfassung" und "körperlicher Zustand" sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille .
  • " Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus"
    Hegel .. Phänomenologie des Geistes
Einer organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.




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So 7. Jan 2024, 08:54

Mein Argument bezog sich auf das Thema dieses Threads, die Multiple Realisation. Da dies in deiner "Antwort" nicht vorkommt, zähle ich sie nicht einmal als Antwort. Du hast einfach das Argument ignoriert. Damit kehre ich gegenüber dir wieder zum Modus Funkstille zurück.




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So 7. Jan 2024, 11:44

Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 23:52
Warum können wir nicht Gedanken lesen? Warum können wir nicht fremde Aktivitätsmuster eines Schmerzes spüren? Weil Gedanken und Empfindungen zur "inneren" Welt eines Jeden gehören.
Ich würde eher so fragen: Warum können wir Gedanken lesen? Warum können wir fremde Schmerzen spüren? Weil Gedanken und Empfindungen eben nicht einfach zur "inneren" Welt eines Jeden gehören. Wir sind schließlich bis ins Mark soziale Wesen.

Ich habe vor langer Zeit einen Artikel über ein Pokerspiel gelesen. Darin ging es unter anderem darum, wie lange der Sieger nach seinem Sieg brauchte, um wieder in die "normale Welt" zurückzukehren und seine Gefühle auszuleben, er war sozusagen sehr lange in der Poker-Maske gefangen. Ja, wir können uns verstellen und anderen den Zugang zu unseren Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen erschweren. Wir können auch stille Monologe führen, die für andere weitgehend verschlossen sind. Aber ich glaube, unser wirkliches Leben ist ganz anders, wir sind ständig im Austausch, wir sehen, ob jemand traurig oder fröhlich ist, die Stimmung in einer Besprechung kann bleiern oder heiter sein.

Deshalb ist die sogenannte Welt da draußen nicht nur die physische Welt der Körper, denn da draußen, im Leben, wie wir es in der Kultur führen, sind andere Lebewesen, Symbole, Bilder, Artefakte etc. pp. Noch mal, weil es mir so wichtig ist: Es ist einfach nicht so, dass da draußen nur die anonyme physische Welt ist, da draußen in unserem Leben sind die anderen, die auch Wünsche, Gedanken, Gefühle etc. haben, die wir sehr wohl erkennen und mitfühlen können. Geist und seine Produkte, in denen er erscheint sind etwas Soziales. Der objektive Geist ist "da draußen".

Ich glaube, das ist auch einer der Punkte, auf die Alva Noë hingewiesen hat. Wenn wir das Bewusstsein im Gehirn suchen, suchen wir an der falschen Stelle, sagt er. Das heißt nicht, dass das Gehirn keine Rolle spielt, sondern dass es zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist, andere Dinge gehören auch dazu, unser Körper, aber auch unsere Kultur, in der wir leben und vermutlich vieles mehr.




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Jörn Budesheim
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So 7. Jan 2024, 12:33

Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 23:52
In diesem Sinne besteht für mich die Ursache des Leib-Seele-Problems in einer Zweiteilung unserer Realität...
Ich möchte dazu noch einmal Thomas Nagel zitieren. Falls ihn jemand nicht kennt, er ist berühmt geworden für seinen Aufsatz mit den Fledermäusen "What Is It Like to Be a Bat?" In einem viel späteren Buch, mit dem Titel "Geist und Kosmos" schreibt er eine ultrakurze Geschichte des modernen Leib Seele Problems:

"Lassen Sie mich am Anfang kurz schildern, was uns geschichtlich in die gegenwärtige prekäre Lage gebracht hat. Das moderne Leib-Seele-Problem entstand aus der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts als eine direkte Folge des Konzepts objektiver physikalischer Realität, das diese Revolution antrieb. Galileo und Descartes trafen die entscheidende begriffliche Einteilung, indem sie vorschlugen, dass die physikalische Wissenschaft eine mathematisch genaue quantitative Beschreibung einer äußeren Realität geben sollte, die sich in Raum und Zeit erstrecke, eine Beschreibung, die auf raumzeitlich primäre Qualitäten, wie Form, Größe und Bewegung, und auf Gesetze, welche die Beziehungen zwischen diesen Qualitäten beherrschen, beschränkt sein sollte. Subjektive Erscheinungen hingegen – wie diese physikalische Welt der menschlichen Wahrnehmung erscheint – wurden dem Geist zugeschrieben, und die sekundären Qualitäten wie Farbe, Klang und Geruch sollten relational analysiert werden, nämlich unter dem Gesichtspunkt der Kraft physikalischer Dinge, auf die Sinne einzuwirken, so dass diese Erscheinungen im Geist des Beobachters hervorgebracht werden. Es war entscheidend, die subjektiven Erscheinungen und den menschlichen Geist – ebenso menschliche Absichten und Zwecke – aus der physikalischen Welt wegzulassen oder abzuziehen, damit sich diese überzeugende, aber sparsame raumzeitliche Vorstellung der objektiven physikalischen Realität entwickeln konnte.

Der Ausschluss alles Mentalen aus dem Zuständigkeitsbereich der modernen physikalischen Wissenschaft musste jedoch schließlich angefochten werden. Wir Menschen sind Bestandteil der Welt, und der Wunsch nach einem einheitlichen Weltbild lässt sich nicht unterdrücken... "


Auch wenn ich mich mit dem Vokabular von Nagel nicht im Detail identifizieren kann, so stelle ich mir die Geschichte im Grunde ähnlich vor. Die Naturwissenschaften haben mit ihren quantitativen Methoden enorme Erfolge erzielt. Das" moderne Leib-Seele-Problem" entsteht meines Erachtens dann, wenn man aus diesen naturwissenschaftlichen Unternehmungen eine Metaphysik macht und sagt, nur das, was die Naturwissenschaft erforscht und erkennt, ist auch das, was ist, und sonst nichts. Dann stellt sich plötzlich heraus, dass wir selbst nicht mehr in dieses Bild passen. Das Leib-Seele-Problem wird daher oft auch in Form eines Lokalisierungsproblems ausgedrückt: Wie passt der Geist in die Natur? Wenn die Natur so ist, wie es die Naturwissenschaften zu suggerieren scheinen, dann lautet die Antwort vermutlich: gar nicht. Genau aus diesem Grund gibt es so viele verschiedene reduktive Lösungsvorschläge. Reduktiv sind diese Vorschläge, weil sie versuchen, das, was nicht in die Natur passt, loszuwerden, indem sie es in eine Form bringen, in die es dann doch passt.

Nagels Antwort darauf lautet: wir brauchen eben eine neue Metaphysik. "Mit seinem Buch liefert Nagel die Grundlagen für eine neue Metaphysik, die zeigt, wie wir Bewusstsein, Wissen, Wahrheit und Werte realistisch interpretieren können, das heißt als etwas, das eine eigenständige Realität hat, die sich nicht auf irgendeine materialistische Weise reduzieren lässt. Die Naturwissenschaften ersetzen die Geisteswissenschaften nicht. Nagel geht aber noch weiter. Denn er besteht darauf, dass wir sogar anerkennen sollten, dass 'das Universum allmählich erwacht und sich seiner selbst bewusst wird'. (Markus Gabriel in einer Rezension des Buchs)

Markus Gabriel selbst gibt eine ganz andere Antwort. Wenn man so will, in die entgegengesetzte Richtung. Er fordert, dass wir uns von allen metaphysischen Entwürfen verabschieden, die zu diesem Verortungsproblem führen. Sein berühmtes Schlagwort dafür ist, wie einige hier vielleicht wissen, dass es die Welt nicht gibt.

David Chalmers (das ist der mit den Zombies) spricht im Zusammenhang mit den Qualia von einem "harten Problem". Wie hart das Leib-Seele-Problem insgesamt zu sein scheint, zeigen die radikalen Lösungen, die teilweise vorgeschlagen werden, vom eliminativen Materialismus über einen objektiven Idealismus bis hin zur Aufgabe der Metaphysik schlechthin (und natürlich vieles mehr).




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Jörn Budesheim
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So 7. Jan 2024, 14:40

Michael7Nigl hat geschrieben :
So 7. Jan 2024, 00:48
Aber im Grunde ist die Bewegung von Materie das, was objektiv stattfindet. Nicht mehr und nicht weniger. (Zumindest nach heutigem wissenschaftlichen Kenntnisstand.)
Meines Erachtens gibt es diesen Kenntnisstand nicht, es mag diverse metaphysische Glaubensartikel geben, aber keinen Kenntnisstand.
Ava Noë hat geschrieben : Es gibt zwei Behauptungen, über die sich "alle" einig sind, die sich mit den Neurowissenschaften der Kognition und des Bewusstseins beschäftigen. Die erste ist, dass das Gehirn für alles verantwortlich ist, und die zweite ist, dass wir keine Ahnung haben, wie das Gehirn das macht. Und ich glaube, dass es eine Spannung zwischen diesen beiden Grundannahmen gibt.

(Zitiert aus einem der Videos, die ich hier auch gepostet habe)
Matthias Eckoldt im Gespräch mit Markus Gabriel hat geschrieben : MATTHIAS ECKOLDT
[...] Da gab es einiges an Erkenntnispessimismus, der teilweise bis in eine geradezu depressive Stimmungslage reichte. Ich erinnere mich an Formulierungen, dass die Neurowissenschaft noch auf dem Stand von »Jägern und Sammlern« sei. Zugleich gab es aber auch die großen Debatten über den freien Willen, die von den Neurowissenschaftlern angestoßen wurden.

MARKUS GABRIEL​
Das Manifest führender Hirnforscher wurde hier in Bonn u. a. vom Neurowissenschaftler Christian Elger auf einer Tagung angestoßen. Elger ist einer der weltweit am meisten zitierten Epileptologen, also eine richtige Koryphäe in seinem Fach. Auf einem Podium hat er mir jüngst bestätigt, dass dasjenige, was sie über den freien Willen und das Bewusstsein damals so gesagt haben, nicht aufgegangen ist, das zieht er alles zurück.

Auch die sehr technisch orientierten Neurowissenschaftler, mit denen ich hier in Bonn zusammenarbeite, sagen mir: Du kannst von uns etwas über Neurone lernen, aber auf Fragen nach Bewusstsein und freiem Willen können wir fürs Erste – und auf sehr lange Sicht – einfach gar nichts sagen.
Felix Häusler, Neuromythologie, Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung hat geschrieben : Allzu oft bleibt nach der Lektüre eines neurowissenschaftlichen Fachartikels wenig mehr als die ernüchternde »Na und?«-Frage. Typischerweise enden viele dieser Publikationen mit ähnlichen, stets auf die Zukunft verweisenden Äußerungen. Beliebt ist die Standardfloskel, dass es zwar »noch großer Forschungsanstrengungen bedarf, um das Phänomen XY zu verstehen«, die sicher bald einmal gewonnenen »Einsichten in die zugrunde liegenden biologischen Prozesse« letztlich aber zur Entwicklung ganz neuer Anwendungen beziehungsweise Therapien führen werden. Gerne wird zur Rechtfertigung des Grabens zwischen Erklärungsanspruch und Datenlage auf Zeit gespielt. Noch stecke man zwar in den Anfängen, so die Erklärung, aber schon bald seien fundamentale Durchbrüche im Verständnis von Gehirn und Geist zu erwarten. Für die Wissenschaftshistoriker Michael Hagner und Cornelius Borck ist es geradezu »typisch für das Feld, dass ›bahnbrechende Resultate‹ unter Verweis auf die zwar bereits sehr fortschrittliche, aber noch nicht voll ausgereifte Technologie stets für eine nicht mehr ganz so ferne Zukunft in Aussicht gestellt werden.«

["Man setzt also auf das, was Karl Popper einen »versprechenden Materialismus/promissory materialism« nannte. Man sagt, sehr bald oder auch erst in 200 Jahren werden wir es sehen,... (Markus Gabriel)]




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infinitum
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So 7. Jan 2024, 16:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 15:07
Nach Detel ist diese Theorie also reduktionistisch. Auf die Frage, wie der Geist in seinen vielfältigen Erscheinungsformen in die Natur passt, wenn er doch ganz andere Eigenschaften zu haben scheint als die Naturgesetze, die die Natur regieren, antwortet diese Theorie, dass der Geist auf natürliche Eigenschaften reduzierbar ist. Ein eigenständiges mentales Vokabular gibt es demnach nicht. In Wahrheit, so diese Sichtweise, lässt sich alles auf den Boden der naturwissenschaftlich erfassbaren Tatsachen zurückführen.

Das wäre eine schlechte Nachricht, denke ich, es würde letztlich darauf hinauslaufen, dass unser geistiges Leben im Grunde eine Illusion ist, wenn wir uns freuen, wenn wir miteinander diskutieren, wenn wir Dinge planen, dann freuen wir uns nicht wirklich, wir diskutieren nicht wirklich und wir planen auch nicht wirklich, in Wirklichkeit spielt sich alles im Grunde der physikalischen Tatsachen ab.

Ich finde den Einwand von Putnam überzeugend, aber ich bin mir nicht sicher, was er wirklich bringt, denn wenn die Typ-Identität vom Tisch ist, bleibt immer noch die Token-Identität im Spiel. Oder nicht? Eine realistische Theorie des Geistes, die auf der Nicht-Reduzierbarkeit verschiedener mentaler Phänomene besteht, ist damit noch nicht in Sicht. Oder irre ich?

(Einen gewissen Fortschritt in dieser Hinsicht stellt die neue Sichtweise von Christof Koch dar, der nun die Irreduzibilität des Bewusstseins betont.)
mir kommt die Diskussion auch so vor, dass man darauf hinaus will, dass das geistige Leben nicht existiert. Ich frage mich, wie man generell die Komplexität einer Diskussion, die ich als gutes Beispiel sehe, mit physikalistischer Tatsachen reduktionistisch beschreiben will.
Ich vermute, dass der Physikalismus zu einem Emergenzphänomen führt, welches die Komplexität des Geistigen erzeugt. Also quasi= Das Gesamte ist mehr als die Summe seiner Teile, so kann man die einzelnen Teile auf ihre physikalische Eigenschaft reduzieren, aber noch nicht die Wirkung der einzelnen Teile aufeinander beschreiben.



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infinitum
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So 7. Jan 2024, 17:05

Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 6. Jan 2024, 23:52
In diesem Sinne besteht für mich die Ursache des Leib-Seele-Problems in einer Zweiteilung unserer Realität: Einem subjektiven Teil, der unser gesamtes Erleben umfasst, und einem objektiven Teil, indem wir Elemente unseres Erlebens auf Vorgänge in einer von uns unabhängigen Welt zurückführen, weil diese Elemente bspw. auch von Anderen erlebt werden. Im Unterschied zu jenen Elementen mit einem objektiven Bezug haben wir auch Vorstellungen (z.B. Phantasie), die nicht in dieser Weise objektiv realisiert sind (wie in Kants Beispiel von dem gedachten Taler und dem realen Taler).
das subjektive Erleben ist aber m.E. im Prinzip nicht so einzigartig, wie man vermutet. Denn meine Eindrücke, die ich habe, können sich rein funktional nicht sehr von den Reaktions- oder Empfindungsmustern von anderen Lebewesen unterscheiden. Der Kopfschmerz wird sich in seinem Schmerzmuster nicht sonderlich unterscheiden, natürlich gibt es immer wieder Abweichungen, aber wenn man das Muster sehr reduktiv betrachtet, würde ich in diesem keinen großen Unterschied sehen.
Daher wäre die subjektive Ebene eher ein Erlebnisbereich, den man als individuellen Freiheitsraum sehen könnte, die Zweiteilung unserer Realität zwischen subjektiv und objektiv findet demnach vielmehr im Kopf statt, aber eigentlich ist sie nicht existent, da der Erlebnisraum der anderen eben quasi ähnlich bis zu identisch funktioniert, reicht es doch eigentlich aus, wenn man das kollektive subjektive Empfinden zusammenfügt, um eine objektive Realität zu erzeugen? :idea: :?:



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Jörn Budesheim
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So 7. Jan 2024, 17:24

infinitum hat geschrieben :
So 7. Jan 2024, 16:45
die Komplexität einer Diskussion
Das ist wahrscheinlich schon bei relativ unkomplexen Diskussionen ein Problem. Angenommen, ich behaupte in einer Diskussion, dass Donald Trump einer der besten amerikanischen Präsidenten aller Zeiten war. Dieser Satz kann wahr, falsch oder irgendetwas dazwischen sein. Die Frage ist nun, wenn ein solcher Satz mit einem Gehirnzustand, also einem materiellen Prozess, identisch sein soll, was es bedeuten soll, dass dieser materielle Prozess wahr ist. Ich denke, das ist einfach absurd. Wahrsein gehört einfach nicht zu den Prädikaten, die auf materielle Prozesse passen.




Timberlake
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Mo 8. Jan 2024, 12:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 7. Jan 2024, 08:54
Mein Argument bezog sich auf das Thema dieses Threads, die Multiple Realisation. Da dies in deiner "Antwort" nicht vorkommt, zähle ich sie nicht einmal als Antwort. Du hast einfach das Argument ignoriert. Damit kehre ich gegenüber dir wieder zum Modus Funkstille zurück.
ok .. dann formuliere ich mal , ausgehend von dem Beitrag 72465, meine Antwort so , dass das Thema dieses Threads , die Multiple Realisation , vorkommt und zwar , was in nahezu allen Beiträgen dieses Threads fehlt , sogar in wortwörtlicher Rede ...

Timberlake hat geschrieben :
So 7. Jan 2024, 01:08

... Beitrag 72465

Mit anderen Worten "die mentale Verfassung" des Kindes wird durch den "körperlichen Zustand." eines Anderen .. multiple ralisiert. Wie auch der "körperlichen Zustand." des Kindes durch die " mentale Verfassung" eines Anderen .. multiple realisiert .. wird. "Mentale Verfassung" und "körperlicher Zustand" sind .. multiple realisiert .. die zwei Seiten ein und derselben Medaille .
  • " Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus"
    Hegel .. Phänomenologie des Geistes
Einer . multiple realisierte .. organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.
Wenn ich mir nun mehr , die geänderte Version meines Beitrag vergegenwärtige, so komme ich sogar nicht umhin , dir für deinen Hinweis dankbar zu sein. Sehe ich doch , weil spezifiziert , darin eine deutliche Verbesserung.




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Mo 8. Jan 2024, 12:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 7. Jan 2024, 17:24
infinitum hat geschrieben :
So 7. Jan 2024, 16:45
die Komplexität einer Diskussion
Das ist wahrscheinlich schon bei relativ unkomplexen Diskussionen ein Problem. Angenommen, ich behaupte in einer Diskussion, dass Donald Trump einer der besten amerikanischen Präsidenten aller Zeiten war. Dieser Satz kann wahr, falsch oder irgendetwas dazwischen sein. Die Frage ist nun, wenn ein solcher Satz mit einem Gehirnzustand, also einem materiellen Prozess, identisch sein soll, was es bedeuten soll, dass dieser materielle Prozess wahr ist. Ich denke, das ist einfach absurd. Wahrsein gehört einfach nicht zu den Prädikaten, die auf materielle Prozesse passen.
Aus Sicht/Perspektive/Beschreibungsebene usw. sozusagen "wahrheitsfähiger" Ebenen sind alle ("deterministischen" etc.) Gehirnzustände, materiellen Prozesse usf. erstere lediglich "ermöglichende", untergeordnete, quasi dienende Ebenen. Und also nicht das "Eigentliche" oder "der wahre Jakob", was eben die spezifischen ("System"-)Eigenschaften (und Eigengesetzlichkeiten usw.) der komplexeren Ebenen angeht. (Das berühmte "Mehr" - besser: "Anders" - , das das "Ganze" gegenüber seinen "Teilen" auszeichnet. Auch in Sachen "Eigenständigkeit" - bis hin zu Selbstbestimmtheit ...)




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Jörn Budesheim
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Mo 8. Jan 2024, 15:19

Auch das folgende ist ein Fall "multipler" Realisierung, oder?

Die Katze sitzt auf der Matte.
The cat is sitting on the mat.
Le chat est assis sur le tapis.
Kissa istuu matolla.

Der Inhalt wird auf unterschiedliche Weise "realisiert". Auch wenn die verschiedenen Sprachen den Inhalt unterschiedlich einfärben, sollte der Inhalt dennoch jeweils verstanden werden. Der Inhalt ist hier offensichtlich nicht identisch mit der Form der Buchstaben und auch nicht mit ihrer Farbe. Was wir lesen, ist der Inhalt, nicht die Materie, die ihn trägt. Und da derselbe Inhalt auf verschiedene Weise realisiert werden kann, gilt auch hier, dass Inhalt und Materie nicht identisch sein können.




Michael7Nigl
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Mo 8. Jan 2024, 23:54

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 15:19
Auch das folgende ist ein Fall "multipler" Realisierung, oder?

Die Katze sitzt auf der Matte.
The cat is sitting on the mat.
Le chat est assis sur le tapis.
Kissa istuu matolla.

Der Inhalt wird auf unterschiedliche Weise "realisiert". Auch wenn die verschiedenen Sprachen den Inhalt unterschiedlich einfärben, sollte der Inhalt dennoch jeweils verstanden werden. Der Inhalt ist hier offensichtlich nicht identisch mit der Form der Buchstaben und auch nicht mit ihrer Farbe. Was wir lesen, ist der Inhalt, nicht die Materie, die ihn trägt. Und da derselbe Inhalt auf verschiedene Weise realisiert werden kann, gilt auch hier, dass Inhalt und Materie nicht identisch sein können.
Danke für das Beispiel. Gehen wir gerne davon aus, dass hier derselbe Inhalt auf verschiedene Weise körperlich realisiert wird. Warum ist dass ein Grund, dass Inhalt und Materie nicht identisch sein können? Sagen wir, die von jenen unterschiedlichen Zuständen realisierte mentale Verfassung sei M. Dann wäre die Aussage der Identitätstheorie:

Das mit dem Satz "Die Katze sitzt auf der Matte." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist identisch mit M.
Und das mit dem Satz "The cat is sitting on the mat." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist ebenfalls identisch mit M.
Und das mit dem Satz "Le chat est assis sur le tapis." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist ebenfalls identisch mit M.
Und das mit dem Satz "Kissa istuu matolla." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist ebenfalls identisch mit M.

Warum kann dieser Aussagenkomplex nicht wahr sein?




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Jörn Budesheim
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Di 9. Jan 2024, 08:05

Michael7Nigl hat geschrieben :
Mo 8. Jan 2024, 23:54
Das mit dem Satz "Die Katze sitzt auf der Matte." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist identisch mit M.
Und das mit dem Satz "The cat is sitting on the mat." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist ebenfalls identisch mit M.
Und das mit dem Satz "Le chat est assis sur le tapis." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist ebenfalls identisch mit M.
Und das mit dem Satz "Kissa istuu matolla." verknüpfte neuronale Aktivitätsmuster ist ebenfalls identisch mit M.
Warum sollte das möglich sein? Die Tatsache, dass wir vier verschiedene Kodierungen haben, zeigt deutlich, dass dies nicht möglich ist. Information kann auf viele verschiedene Arten kodiert werden, und daraus folgt unmittelbar, dass sie mit keiner dieser verschiedenen Kodierungen sowohl mit den anderen als auch mit M identisch sein kann. Was verschieden ist, kann nicht gleichzeitig identisch sein.

Identität ist transitiv. Wenn M mit dem materiellen Ding "Die Katze sitzt auf der Matte." identisch wäre, dann müsste gemäß deinem Beispiel "Die Katze sitzt auf der Matte." mit dem materiellen Ding "Kissa istuu matolla" identisch sein. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall.

Hier noch mal Christof Koch: "Das Bewusstsein unterscheidet sich so sehr von seinem physischen Substrat. Wenn ich blau sehe, ist das etwas völlig anderes als der Zustand, in dem sich mein Gehirn befindet, wenn ich blau erlebe. Es sind einfach zwei grundverschiedene Dinge. Auf der einen Seite feuern Neuronen und Synapsen, die Neurotransmitter freisetzen. Auf der anderen Seite hat man dieses bewusste Erleben."




Michael7Nigl
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Di 9. Jan 2024, 12:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 9. Jan 2024, 08:05
Warum sollte das möglich sein? Die Tatsache, dass wir vier verschiedene Kodierungen haben, zeigt deutlich, dass dies nicht möglich ist. Information kann auf viele verschiedene Arten kodiert werden, und daraus folgt unmittelbar, dass sie mit keiner dieser verschiedenen Kodierungen sowohl mit den anderen als auch mit M identisch sein kann. Was verschieden ist, kann nicht gleichzeitig identisch sein.

Identität ist transitiv. Wenn M mit dem materiellen Ding "Die Katze sitzt auf der Matte." identisch wäre, dann müsste gemäß deinem Beispiel "Die Katze sitzt auf der Matte." mit dem materiellen Ding "Kissa istuu matolla" identisch sein. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall.

Hier noch mal Christof Koch: "Das Bewusstsein unterscheidet sich so sehr von seinem physischen Substrat. Wenn ich blau sehe, ist das etwas völlig anderes als der Zustand, in dem sich mein Gehirn befindet, wenn ich blau erlebe. Es sind einfach zwei grundverschiedene Dinge. Auf der einen Seite feuern Neuronen und Synapsen, die Neurotransmitter freisetzen. Auf der anderen Seite hat man dieses bewusste Erleben."
Jetzt kommen wir, glaube ich, der Sache näher.

Die Identität von Mentalem und Körperlichem entspricht nicht der von reellen Zahlen, wo diese Relation selbstverständlich transitiv ist (a=c, b=c → a=b).
Es ist eher so gemeint, wie die Kopfseite einer Münze nicht von der Münze verschieden ist.

Dein Zitat von Koch scheint auf einen Dualismus hinauszulaufen: Mentales und Körperliches seien prima facie so unterschiedlich, dass es ontologisch getrennte Dinge sein müssen. Dies ist jedoch nicht das Argument von Putnam, denn dafür benötigt man keine multiple Realisierung.

Wir verstehen heute neuronale Aktivitätsmuster als dynamische Teilchenkonfiguration. Der Kenntnisstand dessen, was Materie sei, muss allerdings nicht endgültig sein. Es könnte sich durchaus erweisen, dass Materie auch geistige Eigenschaften oder Ausflüsse hat (z.B. im Sinne eines Panpsychismus wie bei David Chalmers), die wir noch nicht physikalisch erfassen können.

Jeder Lösungsversuch des Leib-Seele-Problems hat seine Schwierigkeiten: Der Dualismus scheitert bislang an der Erklärung, wie Geist und Materie miteinander interagierten. Der Materialismus bleibt die Vorstellung schuldig, wie Materie Geistiges realisieren könnte - jedenfalls reicht es dafür nicht aus, Elementarteilchen nur als Träger von Masse, Ladung, Spin, Impuls etc. zu betrachten, wie wir es heute tun.

Wenn nun also Mentales in der Weise mit Körperlichem "identisch" ist wie die Kopfseite einer Münze mit der Münze, dann kann es freilich die gleichen Kopfseiten mit unterschiedlichen Zahlseiten geben bzw. gleiche mentale Verfassungen, die mit unterschiedlichen körperlichen Zuständen verknüpft sind.




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Jörn Budesheim
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Di 9. Jan 2024, 13:41

Michael7Nigl hat geschrieben :
Di 9. Jan 2024, 12:43
Dein Zitat von Koch scheint auf einen Dualismus hinauszulaufen: Mentales und Körperliches seien prima facie so unterschiedlich, dass es ontologisch getrennte Dinge sein müssen.
Nur am Rande, daraus folgt kein Dualismus, daraus folgt wahrscheinlich nur - wenn überhaupt -, dass der Monismus falsch ist. Dualismus ist nicht die einzige Alternative, irgendeine Form von Pluralismus ist auch denkbar. Nun ist Koch seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet tätig, so dass der von ihm behauptete Unterschied kaum ein prima facie Unterschied ist :-)




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