Impulsgeber hat geschrieben : ↑ Sa 14. Mai 2022, 22:44
In jedem Fall kann man von einem einheitlichen Organismus bei einem (unterirdischen) Pilz-Netzwek sprechen das sich über mehrere Kilometer ausgebreitet hat. Es versorgt oder versucht zumindest, alle seine Teile mit Nährstoffen gleichermaßen zu versorgen.
Christof Koch, in 'Bewusstsein: warum ist es weit verbreitet ist, aber nicht digitalisiert werden kann' hat geschrieben : Angesichts der Ähnlichkeiten zwischen Homo sapiens und anderen Säugetieren auf der Ebene von Verhalten, Physiologie, Anatomie und Genetik habe ich keinen Grund, daran zu zweifeln, dass wir alle Bilder und Töne, Freuden und Leiden des Lebens erleben, wenn auch vielleicht nicht unbedingt im gleichen Maße. Wir alle streben danach, zu essen und zu trinken, uns fortzupflanzen, Verletzung und Tod zu vermeiden; wir aalen uns in der Sonne, suchen die Gesellschaft von Artgenossen, fürchten (Fress-) Feinde, wir schlafen und wir träumen. Auch wenn das Bewusstsein von Säugern von einem funktionierenden sechsschichtigen Neocortex abhängt, bedeutet das nicht, dass Tiere ohne Neocortex nicht fühlen. Noch einmal: Die Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen, der Dynamik und den genetischen Gegebenheiten der Nervensysteme aller Vierfüßer – Säuger, Amphibien, Vögel (vor allem Raben, Krähen, Elstern und Papageien) und Reptilien – erlaubt mir den Schluss [an einer früheren Stelle des Buches hat Christof Koch erklärt, welche Art von "Schluss" hier vorliegt, der nicht unbedingt logisch zwingend, aber plausibel ist], dass auch sie die Welt erleben.
Eine ähnliche Herleitung kann auch für andere Geschöpfe mit einer Wirbelsäule, wie zum Beispiel Fische, getroffen werden. Aber warum ein chauvinistischer Vertebrat sein? Der Baum des Lebens wird von Heerscharen von Invertebraten (Wirbellosen) bevölkert – Insekten, Krebse, Würmer, Tintenfische und derlei mehr –, die sich hin und her bewegen, ihre Umwelt wahrnehmen, aus Erfahrungen lernen, alle Anzeichen von Emotionen aufweisen, miteinander kommunizieren. Vielleicht erschreckt uns die Vorstellung, winzige, durch die Gegend schwirrende Fliegen oder die so fremdartig aussehenden durchsichtigen, pulsierenden Quallen könnten ein Erleben haben.
[...]
In einem 1881 veröffentlichten Buch sagte Charles Darwin, er „wünschte zu erfahren, in wie weit … [die Würmer] bewusst handelten und wie viel geistiges Vermögen sie besäßen“. Darwin studierte ihr Verhalten und kam zu dem Schluss, dass es keine feste Grenze zwischen komplexen und einfachen Tieren gebe, die den einen höhere Geisteskräfte zuweise, den anderen aber nicht. Bislang hat noch niemand einen Rubikon entdeckt, der fühlende von nichtfühlenden Tieren trennt.
Christof Koch ist ein renommierter Wissenschaftler, ihm traue ich einen gewissen Überblick über den Stand des Wissens in seinem Fach zu. Von daher: Wir wissen nicht, "wie viel geistiges Vermögen" Würmer haben. Wir wissen auch nicht, ob Bäume oder Pilze zum Reich des Geistes zählen. Was folgt daraus? Sollte man mit der "Zuschreibung" geistiger Vermögen großzügig sein und vermuten, dass sie sich überall in Flora und Fauna finden? Oder ist es geboten, hier eher zurückhaltend vorzugehen?
Wie auch immer die Antwort darauf lauten sollte, nach meiner Einschätzung folgt aus diesem "Nichtwissen", dass die Autor:innen des Filmes von Terra x mit ihren Zuschreibungen etwas vorsichtiger verfahren sollten. Meines Erachtens ist es unseriös, so zu tun, als läge hier bereits gut abgesichertes (natur-)wissenschaftliches Wissen vor, obwohl das nicht der Fall ist.
Dabei geht es natürlich auch um wichtige ethische Fragen. Das wird in dem zweiten Video diskutiert. Worin besteht der Wert des Lebens? Dass wir allen bewussten Lebensformen Achtung schulden, ist offensichtlich. Aber was schulden wir beispielsweise Bäumen oder Pilzen? Wie kann man deren Wert begründen, falls sie nicht wirklich zur Sphäre des Geistes zählen? Aber: Ohne sie würde es auf diesem Planeten keinen Geist geben. (Das ist mir allerdings als Begründung zu instrumentell ...)
Impulsgeber hat geschrieben : ↑ Sa 14. Mai 2022, 22:44
In jedem Fall kann man von einem einheitlichen Organismus bei einem (unterirdischen) Pilz-Netzwek sprechen das sich über mehrere Kilometer ausgebreitet hat. Es versorgt oder versucht zumindest, alle seine Teile mit Nährstoffen gleichermaßen zu versorgen.
Wenn ein Organismus etwas
versucht, ein Ziel verfolgt oder vergleichbares, dann heißt das, dass der Organismus Absichten hat. Steine haben nicht die Absicht, nach unten zu fallen, wenn man sie aus dem Fenster hält und loslässt, stattdessen fallen sie einfach. Der Grund ist meines Erachtens, dass Steine keine "intrinsische Existenz", sondern nur eine "anonyme Existenz" haben. Sie haben kein Gefühl für sich selbst, sie sind keine Existenz, die in irgendeiner Form von sich selbst weiß. Und das ist meines Erachtens eine Bedingung von Intentionalität ganz im Allgemeinen.
Wenn also der Organismus keine intrinsische Existenz hat, dann
versucht er auch nichts. Dann müssen wir stattdessen eher von einem anonymen Geschehen ausgehen. Dabei müssen wir meines Erachtens nicht davon ausgehen, dass das Licht entweder an oder aus ist, es mag auch Dämmer-Zustände geben, wo unklar ist, ob eine "Zuschreibung" von Intentionalität bereits angemessen oder noch unangemessen ist.
Impulsgeber hat geschrieben : ↑ Sa 14. Mai 2022, 22:44
Oder ist die Frage eine der Weltsicht?
In einer gewissen Hinsicht: ja. Allerdings müssen Weltsichten*** nicht unbegründet sein. Im Angebot ist die gesamte Bandbreite - vom Animismus bzw Panpsychismus bis hin zum reduktiven Materialismus. Bei den Extrempunkten handelt es sich meines Erachtens jeweils um Glaubenssysteme, wobei allerdings die reduktive Materialismus ein unbegründeter Dogmatismus ist, also ein irrationales Glaubenssystem meiner Ansicht nach. Denn wenn wir überhaupt etwas sicher wissen, dann dass wir bewusste Wesen sind. Der reduktive Materialismus scheidet also aus, und der Animismus bzw Panpsychismus ist meines Erachtens zu großzügig. (Heute lebt beides vielleicht in Form des Computer-Glaubens/Computer-Animismus weiter.)
Christof Koch lehnt den Panpsychismus ab, weil er eine ungenügende Erklärungskraft hat. Allerdings muss man sich hier klar machen, dass Denker vom Format von David Chalmers dem Panpsychismus Kredit einräumen*. Für mich ist das erstmal schwer verdaulich, weil ich natürlich anders sozialisiert bin :)
Auch wenn es leider eine totale Plattitüde ist: die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen den Extremen. Alles, was lebt, ist ein Kandidat für Geist. Ob Bäume oder Pilze (etc.) dazu gehören, wissen wir nicht. Mir selbst fällt es schwer, daran zu glauben, aber was heißt das schon**. Einige Leute, die ich kenne sind da optimistischer. Andere glauben nicht mal, dass sie selbst Geist haben.
Ich bin sehr gespannt, was die Forschungen in dieser Richtung weiter zeigen werden.
.....
*
Christof Koch in den Fußnoten: Chalmers (1996, 2015), Nagel (1979) und Strawson (1994, 2018) artikulieren moderne philosophische Ansichten zum Panpsychismus, während der Physiker Tegmark (2015) von Bewusstsein als einem Zustand der Materie spricht. Skrbina (2017) liefert eine lesbare intellektuelle Geschichte des panpsychischen Denkens. Teilhard de Chardin (1959) kann ich wärmstens empfehlen. Mehr zu Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen IIT [=integrierte Informationstheorie] und Panpsychismus bei Fallon (2019b), Morch (2018) sowie Tononi und Koch (2015).
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Wobei ich mit der Argumentation aus dem zweiten Video sehr wohl etwas anfangen kann, nämlich der Idee, dass Pflanzen womöglich eben eine fremde und uns in manchen Aspekten unzugängliche Lebensformen sind. Hier kann man vielleicht an das berühmte Argument von Thomas Nagel mit den Fledermäusen denken. Vielleicht ist es für Bäume irgendwie zu sein, aber womöglich auf eine Art und Weise, zu der wir niemals Zugang finden können.
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meine "Weltsicht" schließt sich der Anti-Metaphysik von Markus Gabriel an: es gibt keine Welt. Es gibt nur eine unendliche Pluralität von verschiedenen, sich überlappenden/durchdringenden Bereichen, aber keinen allumfassenden Masterbereich. Demgemäß sind alle Formen von Metaphysik (wie z.b. der Physikalismus) falsch. Aber das ist vielleicht ein Thema, was an anderer Stelle diskutiert werden muss.