Verstehen und Lernen

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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Quk
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Mo 24. Jul 2023, 05:32

Um nicht in den paradoxen hermeneutischen Zirkel zu geraten, der ja gar nicht sein kann, muss im Neugeborenen wohl ein gewisses Maß an objektivem Vorwissen angelegt sein. Damit versteht der neue Mensch die ersten, an ihn gerichteten Symbole (was ein Hund zum Beispiel nicht verstehen muss). Dieses Vorwissen muss wiederum größtenteils vererbt sein. Dieses Erbe führt wohl zurück auf eine lange Ahnenreihe, nach hinten bis zu den ersten Einzellern. Da diese beweglich waren und Sinne hatten, benutzten die wohl auch so etwas wie eine Kommunikation mit ihrer Umwelt, welche sie während ihres Lebenslaufs näher kennenlernten.

Und was ging diesen Einzellern voraus? Das waren sehr große Moleküle. Mit Kohlenstoffen und derlei mehr. Die trugen in sich einen Riesenhaufen an Information. Jeder Haufen war komplex. Das meiste wurde eins zu eins vererbt, während ein kleiner Teil zufällig verändert wurde, von Generation zu Generation.

Was existierte vor den Molekülen? Reine chemische Elemente. Wasserstoff zum Beispiel. Ist ein Wasserstoff-Atom komplex genug, um mehr Information zu enthalten als die Information des Wasserstoff-Seins an sich? Ich meine jetzt nicht im esoterischen Sinn; mit Esoterik habe ich nichts zu tun.

Wenn ich nun Anton Zeilinger erwähne, ist das zufällig recht aktuell, weil er neulich den Physiknobelpreis bekommen hat für seine Arbeit über die Verschränkung von Teilchen über einen beliebige Distanz hinweg: Also wenn ein Teilchen in einem bestimmten Zustand ist, so kann diese Zustands-Information gleichzeitig in einem zweiten Teilchen vorliegen, vereinfacht gesagt. Das ist so fantastisch-surreal; da wird einem klar, wie Information im Universum verteilt werden kann, ohne Brief, ohne Post, ohne Kausalität, ohne Lichtgeschwindigkeit, sondern durch Verschränkung im Jetzt, im jetzigsten Jetzt. Ohne Zeit. Über eine Distanz von Abermillionen von Lichtjahren hinweg. Es ist unfassbar. Aber empirisch nachweisbar, sonst hätte es keinen Nobelpreis gegeben. Wozu braucht man zum Fantasieren Esoterik, wenn die Wissenschaft noch viel fantastischer ist und -- im Gegensatz zur Esoterik -- nützliche und zutreffende Voraussagen bietet? Ich schweife ab. Also angenommen, unser Vorwissen für unseren Lernstart hat seinen Ursprung in den ersten chemischen Elementen, und angenommen, die Urknalltheorie ist richtig, dann beginnt wohl unser Vorwissen mit dem Big Bang. Davor war eine zeitlose Singularität. Der Knall war dann spontan, akausal, zufällig, ohne Anstoß. Aber zu dem Zeitpunkt gab es auch noch nichts zu lernen.




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Jörn Budesheim
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Mo 24. Jul 2023, 09:04

Quk hat geschrieben :
Mo 24. Jul 2023, 05:32
Um nicht in den paradoxen hermeneutischen Zirkel zu geraten, der ja gar nicht sein kann, muss im Neugeborenen wohl ein gewisses Maß an objektivem Vorwissen angelegt sein.
Spannende Weltgeschichte in wenigen Zeilen :-) Ich habe mir in letzter Zeit einige Videos von Zeilinger angeschaut, die mir sehr gut gefallen haben. Ich stimme dir auch zu, dass Information grundlegend ist, um das Universum zu verstehen. (Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass Informationen nicht nur "für uns" Informationen sind.)

Beim hermeneutischen Zirkel sind wir allerdings nicht zusammen. (Zumindest in diesem Thread, anderswo vielleicht schon.) Ich finde den hermeneutischen Zirkel nicht paradox. Er besagt vereinfacht, dass das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden muss. Verstehen würde ich hier (zumindest zunächst) auf Sinnverstehen (in einem traditionellen Sinn von Sinn) beschränken, der hermeneutische Zirkel ist also letztlich ein geisteswissenschaftliches Modell.

Du sagst ja selbst, dass wir (bereits als Neugoborene) schon ein gewisses Vorwissen mitbringen, so dass es auch aus dieser Sicht eigentlich kein Problem ist, von Anfang an in den Zirkel hineinzukommen. Wir beginnen immer mit einem gewissen Vorverständnis. Das kann schon in uns angelegt sein, das kann aus der Erfahrung kommen oder aus der Tradition und so weiter. Diese Vorinterpretation, dieses Vorverständnis wird dann mit dem, was verstanden werden soll (Text/Rede/Kunstwerk/Verhalten/etc....) verglichen und entsprechend "umgebaut" bzw. angepasst, verfeinert. Dieser iterative Prozess wiederholt sich immer wieder. Der Zirkel ist also eher eine Spirale. Der hermeneutische Zirkel unterscheidet sich von einem ungültigen Zirkelschluss dadurch, dass er nicht zu einem Widerspruch führt. Der hermeneutische Zirkel ist ein iterativer Prozess, der immer wieder zu neuen Einsichten führt. (Verstehen und Lernen) Ein ungültiger Zirkelschluss führt hingegen zu einem Widerspruch, da er sich auf sich selbst bezieht und kurzschließt.

Das erinnert mich auch an den kurzen Text über Gadamer, den wir parallel behandeln. Du schreibst dort zu Recht: "Erfahrung als Korrektur der Vermutung", das ist für mich bereits eine Form des hermeneutischen Zirkels, wenn auch hier nicht auf Sinnstrukturen beschränkt.




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Quk
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Mo 24. Jul 2023, 15:32

Unsere Ansichten sind die gleichen, Jörn; ich habe mich leider nur missverständlich ausgedrückt. Diesen Zirkel an sich finde ich nicht paradox. Paradox finde ich nur die Idee, vorwissenfrei in den Zirkel zu kommen. (Diese Idee hatte ich beim Schreiben des Satzes im Kopf.)

Kurz: Ohne Sand läuft die Sanduhr nicht.




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