Das Schöne in der Musik

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
Wolfgang Endemann
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Mo 17. Jun 2024, 14:08

Da ist allerdings noch nicht ganz die Spitze des Anti-Komplexitäts-Protests erreicht. Die Spitze hat John Cage erreicht mit seinem Stück 4:33, ich erinnere mich auch an eine Kagel-Komposition für einen Dirigenten (ohne Musiker). Im Unterschied zur Punkband allerdings mit viel Hintersinn. Cage ging es darum, sinnfällig zu machen, daß es keinen klangfreien Raum gibt, Kagel wollte das Gestische an der Musik isolieren und hervorheben. Ein weiteres schönes Beispiel für eine darstellende Nichtdarstellung ist das schwarze Quadrat oder das Ende des Films Prȇt-à-Porter, in dem die Models nackt sind, womöglich eine Anspielung auf des Kaisers neue Kleider, oder "natürlich" ist das neue "schön".




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Quk
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Mo 17. Jun 2024, 15:39

Ja, diese Beispiele kenne ich. Jedes behandelt eine bestimmte Dimension. Bei den Polen war es die Liedlänge. Bei John Cage die Lautstärke.

Was ich übrigens in musikalischen Schönheiten relevant finde, sind nicht nur Melodie, Rhythmus, Tempo, sondern auch Klangfarbe, Farbkombination, Dynamik und vieles mehr. Bisher ging es in diesem Diskussions-Faden nur um Notensätze ...




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Quk
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Mi 19. Jun 2024, 13:25

Hier ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein 5/4-Takt ein langweiliges Vorspiel retten kann, welches urspünglich im 4/4-Takt abgefertigt wurde.

Am Anfang werden vier Akkorde angeschlagen, einer nach dem anderen, mit langen Zeitabständen dazwischen, so dass jeder Akkord lange ausklingen kann: G____ dann F____ dann D_____ dann C_____ -- und dann wieder von vorn. Danach beginnt der Gesang.

In der Urversion von Jack Bruce wurde jedem Akkord eine Klangdauer von 4 Vierteln zugeteilt, also eine Taktlänge im 4/4-Rhythmus.

G__ tata tamm tamm
F__ tata tamm tamm
D__ tata tamm tamm
C__ tata tamm tamm

Ginger Baker, der schon früh von afrikanischen Spielweisen beeinflusst wurde, fand das viel zu langweilig. Es klang nicht erhaben, nicht schwebend, sondern steif heruntergespult. Er schlug vor, noch eine Viertelnote dranzusetzen, also einen 5/4-Takt daraus zu machen:

G__ tata tamm tata tamm
F__ tata tamm tata tamm
D__ tata tamm tata tamm
C__ tata tamm tata tamm

Durch diesen winzigen Zusatz bekam das Stück umgehend eine ganz andere Atmosphäre; jetzt hatte es Luft zum atmen:





Wolfgang Endemann
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Do 20. Jun 2024, 19:57

Ein sehr schöner Titel, der "White Room". Ich bin ein großer Freund dieser Musik, auch von der ähnlich besetzten Formation Blind Faith.
Du analysierst das Intro korrekt*, trotzdem höre ich das noch etwas anders, vielleicht noch etwas delikater. Denn ich höre Dein 4+1 als 2+2+(2-1), also als eine halbe Note, eine halbe Note und dann, verkürzt, eine Viertelnote, sozusagen ein verstolpertes Halbes. Das wäre ein verstolperter 3-er Takt. Das entspricht dem Gesang, nur im Rückgang (Krebs): "In the" zwei Achtel als Vorschlag, dann "White Room", zwei Viertel, das dann innerhalb eines 4/4-tel Taktes, der Song bleibt ja ganz traditionell im 4/4.
Dein Musikbeispiel gibt mir einen Anlaß, auf eine ähnliche raffinierte Verrückung zu verweisen.
Eine meiner absoluten Lieblingsmusiken ist Philip Catherines "Angel Wings", es verstolpert durchgängig den geraden Takt, hier ist eine Aufnahme mit Focus, besser als die viel zu harte mit Doldingers Passport, aber die beste Aufnahme ist eine Studioproduktion des NDR, die ich mehrmals im Radio gehört habe, hier aber nicht vorstellen kann, sie modert im Archiv des NDR, und ist doch eine himmlische Musik, die Catherine im Playback alleine aufgenommen hat.


Stolpern zum dritten. Noch ein Juwel vom tin hat trio. Und neben dem Verstolpern möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Flageolett-Töne und das Spiel am Steg der Violine lenken. Hier ist das Spiel der Farben, Obertöne entscheidend, eine Dimension der Musik, die Du zurecht angemahnt hast,


*wobei ich Schwierigkeiten habe, Dein tata tamm tamm richtig zu deuten, ich kenne die Schlagzeugersprache nicht (sind tata zwei Achtel und ist tamm ein Viertel?).




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Quk
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Do 20. Jun 2024, 20:46

Dein "2 minus 1"-Gefühl kann ich auch nachvollziehen. Mit "+1" wollte ich jetzt nicht die Struktur selbst erläutern, sondern nur einfach nur eine Menge ausdrücken. Was ich beim Hören spüre, ist eine Drehbewegung, ähnlich wie beim Walzer, und ich denke, dieses Gefühl entsteht oft bei ungeraden Taktzahlen, besonders bei 3/4, auch noch bei 5/4, und ein bisschen noch bei 7/4. Ich vermute, das liegt daran, dass wir zwei Beine haben -- die gerade Zahl 2 --, und dass beim körpergefühligen Mitgehen jeder nächste Takt mit dem jeweils anderen Bein beginnt. Würde man weiterhin abwechselnd in den linken und rechten Fußabdruck treten wollen, müsste man vor jedem Takt seinen Körper 180° um die Hochachse drehen. Und das geschieht beim Walzertanzen ja tatsächlich auch :-)

Das Tamtam-Dingens meine ich in der exakten Notation so:

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Symbolik:
O     = Viertelnote
(ooo) = Achteltriole
oo    = Zwei Achtel

Und hier im ganzen 5/4-Takt:

O (ooo) O oo O
1 2     3 4  5     <-- zeitlich gleichmäßig verteilte Viertel
Ich schrieb "tata tamm", aber ich meinte eigentlich tatata tamm. Triolen :-)

Die Triole selbst bringt natürlich ein zusätzliches "Rollen" ins Spiel.

Und noch was: Die Notendichte der Achteltriolen im ersten Teil, dann die zwei Achtel weiter hinten, die eine geringere Dichte erzeugen, ergeben eine Dramaturgie, die von "dicht" nach "weniger dicht" geht, wie eine Muskelanspannung während der ersten 3 Viertel, und eine Entspannung in den letzten 2 Vierteln. Anspannung -> Entspannung; Anspannung -> Entspannung; etc. Als würde die Musik ausholen, Luft holen, vor jedem nächsten Akkord-Anschlag.

Deine Beispiele werde ich mir auch noch anhören ...




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Consul
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Fr 21. Jun 2024, 06:27

Quk hat geschrieben :
Mo 17. Jun 2024, 13:11
Da kommen mir Erinnerungen hoch :-) Wir hatten um 1990 herum mal eine polnische Punkband im Studio für die Produktion eines Albums. Die Jungs hatten einen Rekord erreicht. Den Rekord des kürzesten Songs. Nicht nur einer; alle Songs auf dem Album waren ultrakurz. Der längste war knapp über 10 Sekunden lang, der kürzeste unter 3 Sekunden.
"You Suffer (engl. für „Du leidest“) ist ein Lied der englischen Grindcore-Band Napalm Death [von 1987]. Es wird im Guinness-Buch der Rekorde als das kürzeste je aufgenommene Musikstück geführt."

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/You_Suffer

Dauer: 1.316s




"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Jörn Budesheim
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Fr 21. Jun 2024, 07:09

Wurde 4'33 von John Cage je aufgenommen? Ich würde meinen, als Musikstück ist es noch kürzer, nämlich 0 Sekunden, nur als Kunstwerk ist es 4 Minuten 33 Sekunden lang ;)




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Consul
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Fr 21. Jun 2024, 07:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 21. Jun 2024, 07:09
Wurde 4'33 von John Cage je aufgenommen? Ich würde meinen, als Musikstück ist es noch kürzer, nämlich 0 Sekunden, nur als Kunstwerk ist es 4 Minuten 33 Sekunden lang ;)
Siehe: https://johncage.org/pp/John-Cage-Work- ... work_ID=17

Hier ist eine sehr schöne Orchesterversion:




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Jörn Budesheim
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:-)




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Quk
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Fr 21. Jun 2024, 09:32

Consul hat geschrieben :
Fr 21. Jun 2024, 06:27
"You Suffer (engl. für „Du leidest“) ist ein Lied der englischen Grindcore-Band Napalm Death [von 1987]. Es wird im Guinness-Buch der Rekorde als das kürzeste je aufgenommene Musikstück geführt."
Unschlagbar :-)




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Quk
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Fr 21. Jun 2024, 09:40

Auch Stille ist Musik. In der Musiknotation gibt es dafür spezielle Pausen-Symbole.

Die aufgeführte Stille ist außerdem nicht restlos rein. Die totale Reinlichkeit gibt es nur im Nichts.




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Quk
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Fr 21. Jun 2024, 09:54

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 20. Jun 2024, 19:57
Noch ein Juwel vom tin hat trio. Und neben dem Verstolpern möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Flageolett-Töne und das Spiel am Steg der Violine lenken.
Ja, schön. Kannte ich noch nicht. Zudem hat das Akkordeon gegen Ende mir ziemlichen Spaß gemacht, als es plötzlich aus sich herausging und immer wilder wurde, wie im Blues-Rausch.


Apropos Stille und Extreme, hier gibts etwas aktuelles:

https://www.ausflugstipps.at/oesterreic ... gwald.html
Peter Androsch lädt in seinem Projekt Klangwald ein, in Anton Bruckners Geist einzutauchen.

Hier dauert alles megalang, ist megaleise und megageheim. In einer verzauberten Lichtung klingen die zehn Symphonien Anton Bruckners um das 666-fache gestreckt. Nur eine Minute Pause in Bruckners Musik wird so schon zu einem Schweigen von elf Stunden und sechs Minuten.
Darum ist das Rauschen der Blätter, das Singen der Vögel, das Knarren der Stämme, die Hörner der fernen Schiffe der eigentliche Brucknerklang, nämlich der Klang für ihn. Mystisch entrückt vom 13. Februar bis 10. November 2024.




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Jörn Budesheim
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Auch Stille kann in der Musik vorkommen, keine Frage. Für mich ist 4'33 keine Musik, Kunst ja, Musik nein.




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Quk
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Fr 21. Jun 2024, 10:07

Musik ist keine Kunst?




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Jörn Budesheim
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Ja, aber nicht jede Kunst ist Musik.




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Quk
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Fr 21. Jun 2024, 10:57

Dass nicht jede Kunst, wie etwa 4'33, Musik sei, sagtest Du bereits.

Anders herum:

Was enthält* oder wofür steht* Dein persönlicher Musikbegriff?


* Was für ein Verb nimmt man da?




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Jörn Budesheim
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Fr 21. Jun 2024, 12:39

Es gibt doch verschiedene Kunstsparten, oder? Musik, Malerei, Schauspielerei, etc. Das Wort Kunst wird dabei manchmal mehrdeutig verwendet, weil es sowohl für den Oberbegriff steht als auch für "bildende Kunst", also einen Unterbegriff. 4'33 fällt zwar unter den Oberbegriff Kunst, aber warum sollte es Musik sein? Dafür sehe ich keinen Grund.




Wolfgang Endemann
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Fr 21. Jun 2024, 12:57

Quk hat geschrieben :
Fr 21. Jun 2024, 09:54

Apropos Stille und Extreme, hier gibts etwas aktuelles:
Peter Androsch treibt hier eine Idee von Dieter Schnebel ins Extrem. Es gibt zu Anniversarien ausgesprochen geistreiche Reflexionen, zB zu Beethoven von Stockhausen und Kagel (einer tollen Verdichtung von Ludwig van auf seine Kadenztechniken), Schnebel hat faszinierende Reflexionen zu Schubert, Mahler und vielen weiteren vertont, sie dehnen (und stauchen) die betreffenden Musiken, da setzt Androsch einen drauf, und ich kann mir das gut vorstellen.
Musik ist in der Zeit. Cage hat nicht das kürzeste Stück komponiert oder improvisiert, diese Ehre gebührt dann wohl der von Consul erwähnten Band Napalm Death, aber neben dem vielleicht leisesten Stück, wohlgemerkt ist den 4:33 wesentlich, daß man die Unmöglichkeit der Stille hören soll, und zwar 4:33 Minuten lang, hat Cage auch das längste "komponiert": Organ2/ASLSP, es dauert bis zum Jahr 2640.
Man muß Cage einen philosophischen Komponisten nennen, einen (nicht nur) musikalischen Künstler, der nicht, wie Schönberg über seinen talentiertesten Schüler gesagt hat, leider überhaupt keine Musik, allerdings sehr wenig komponiert hat, vielmehr das Akustische organisiert hat, sich ereignen lassen hat. Insofern war er der extremste Antikünstler.




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Quk
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Fr 21. Jun 2024, 12:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 21. Jun 2024, 12:39
4'33 fällt zwar unter den Oberbegriff Kunst, aber warum sollte es Musik sein? Dafür sehe ich keinen Grund.
Du weichst meiner Frage aus.

Was für Gründe sprechen Deiner Ansicht nach dafür, dass etwas Musik ist?

Lautstärke größer als 0,3 dB vielleicht?
Gefühlsauslösung?
Interpretierbarkeit?
Varianz?
...?




Wolfgang Endemann
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Fr 21. Jun 2024, 13:07

PS. Cages 4:33 ist die Vertonung der Idee "alles ist Klang" bzw "Die Welt ist Klang".




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