Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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NaWennDuMeinst
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Do 13. Aug 2020, 10:31

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 13. Aug 2020, 09:10
ideenhaft
:-D
Auch nicht schlecht. Es muss natürlich "ideenreich" oder "ideenvoll" heißen. Sorry.
(Du bist schuld, Nauplios. Weil Du mir mit Deiner Empfindlichkeit immer ein schlechtes Gewissen machst. Geh' doch bitte einfach davon aus, dass ich Dir oder Deinem Thema nichts Böses will)



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
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Jörn Budesheim
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Do 13. Aug 2020, 19:20

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KUNSTGESCHICHTE
Die Grammatik unserer Gefühle

Der Kunsthistoriker Aby Warburg und sein Bilderatlas über die Körpersprache des Menschen – eine Schau der Werke, die ihn inspirierten.

Sandro Botticelli, Andrea Mantegna, Rembrandt, Rubens, Jan van Eyck und noch ein paar andere Berühmtheiten der europäischen Kunstgeschichte zeigt die Gemäldegalerie im Kulturforum in Berlin jetzt in zwei Räumen in einer Sonderausstellung.

https://www.fr.de/kultur/kunst/die-gram ... 22344.html




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Aug 2020, 09:12

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Stefanie hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 21:43
Aber bei mir regt sich Widerspruch.
vielleicht hängt der Widerspruch damit zusammen, dass die reine oder die unreine Zeit sich nur auf eine gewisse Gruppe von Herren bezieht? Frauen kommen als eigenständige Protagonistinnen praktisch gar nicht vor. Und zudem ist die unreine Zeit ziemlich befreit von der Gegenwart.

> Aphrodite
Dante
Aby Warburg
> Sylvia Plath
Shakespear
Alberti
Botticelli
Vasari
Jacob Burckhardt
Nietzsche
Hans Blumenberg
Kopernikus
> Claudia Wedepohl
Wagner
Aristoteles
Thomas von Aquin
Debussy
Heidegger
Ernst Cassirer
Gilles Deleuze
Giorgio Agamben
Winckelmann
Goethe
> Heideggers Frau Elfriede
Schiller
Wieland
Lessing
Hermann Usener
Kant
Stephen Hawkings
Achim Landwehr
> Renate Lachmann
...




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NaWennDuMeinst
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Sa 15. Aug 2020, 17:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 09:12
vielleicht hängt der Widerspruch damit zusammen, dass die reine oder die unreine Zeit sich nur auf eine gewisse Gruppe von Herren bezieht? Frauen kommen als eigenständige Protagonistinnen praktisch gar nicht vor.
Da könntest Du Abhilfe schaffen indem Du uns mit Zitaten von Frauen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, erfreust.
Und zudem ist die unreine Zeit ziemlich befreit von der Gegenwart.
Wie ist das gemeint? Ist damit gemeint, dass gegenwärtige Meinungen zu dem Thema ausgeblendet werden?



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Aug 2020, 17:43

Ein Zitat steht ja bereits in den Beitrag, den du zitiert hast und ein weiteres habe ich erst vor kurzem gebracht :)
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 09:12
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"Guerrilla Girls ist eine anonym operierende, aus feministischen Aktivistinnen bestehende Künstlergruppe. Die erste Gruppe Guerilla Girls wurde 1985 in New York City mit dem Ziel gegründet, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und der Rasse in den Mittelpunkt der größeren Kunstgemeinschaft und des Kunstbetriebs zu rücken." (Wikipedia)
Katharina Grosse hat geschrieben : Wenn ich ein Gemälde von Tizian sehe und eine Arbeit von Nam June Paik daneben, dann denke ich nie: Das eine ist alt und das andere zeitgenössisch. Tizian fand in seinem Spätwerk das auseinandergerissene Bild, in dem die Formen aus dem Bildgrund auftauchen, und Paik zersetzt die Bilder durch weißes Rauschen. Da entsteht für mich eine Resonanz, aus der heraus es funkt, und genau das ist für mich die Frage: Welche Werke funken sich zu? Wie funktioniert das Erzählen oder das Zeigen? Wir fügen dem Gesamtverständnis von Malerei seit tausenden von Jahren etwas Neues hinzu und verdichten es zu einem Zeitcluster. Dabei ist die kleinste Zelle das einzelne gemalte Bild, das in der Zeitstruktur weder sequenziell, noch chronologisch geschweige denn kausal ist. Und das Bild ist immer ein Cluster, Gleichzeitigkeit.




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Sa 15. Aug 2020, 17:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 17:43
Ein Zitat steht ja bereits in den Beitrag, den du zitiert hast
Du meinst die Frage, ob Frauen nackt sein müssen um ins Museum zu kommen?
Das habe ich natürlich gesehen, kann das aber gedanklich nicht in Verbindung bringen mit der "unreinen Zeit".
Vielleicht wären da Erläuterungen möglich?
und ein weiteres habe ich erst vor kurzem gebracht :)
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 09:12
Katharina Grosse hat geschrieben : Wenn ich ein Gemälde von Tizian sehe und eine Arbeit von Nam June Paik daneben, dann denke ich nie: Das eine ist alt und das andere zeitgenössisch. Tizian fand in seinem Spätwerk das auseinandergerissene Bild, in dem die Formen aus dem Bildgrund auftauchen, und Paik zersetzt die Bilder durch weißes Rauschen. Da entsteht für mich eine Resonanz, aus der heraus es funkt, und genau das ist für mich die Frage: Welche Werke funken sich zu? Wie funktioniert das Erzählen oder das Zeigen? Wir fügen dem Gesamtverständnis von Malerei seit tausenden von Jahren etwas Neues hinzu und verdichten es zu einem Zeitcluster. Dabei ist die kleinste Zelle das einzelne gemalte Bild, das in der Zeitstruktur weder sequenziell, noch chronologisch geschweige denn kausal ist. Und das Bild ist immer ein Cluster, Gleichzeitigkeit.
Das da war hier im Thread? Habe ich nicht gesehen.
Ok, also dann sind doch Frauen vertreten. Die Frauenquote darf auch weiter steigen. Niemand hat hier auch nur das Geringste dagegen (also ich jedenfalls nicht)



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Aug 2020, 18:18

In diesem Thread ging es ja nicht selten um die Kunst. Und sowohl die Auswahl der Künstler:innen als auch die Theoretiker:innen war ziemlich einseitig, nahezu ausschließlich Männer, also keineswegs irgendwie "unrein". Zudem hat die unreine Zeit ziemlich offensichtlich keinerlei Kontakt zur Gegenwart. Aby Warburg ist 1929 gestorben, dazwischen liegt mittlerweile fast ein Jahrhundert, um nur ein Beispiel zu geben.




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NaWennDuMeinst
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Sa 15. Aug 2020, 19:18

Ok, aber wenn Du die "reine Männerwelt" und die "reine Zeit" (also hier bereinigt von der Gegenwart) kritisierst, bläst Du damit doch ins gleiche Horn.
Kritisiert wird das Reine. Oder? Oder willst Du einfach nur sagen, dass das Reine an vielen Stellen vorkommt, und dort genauso kritisiert werden kann und müsste?



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Sa 15. Aug 2020, 19:22

Ich finde es übrigens ganz ok, wenn meine Wäsche ganz rein aus der Waschmaschine kommt. Ich wasche die auch immer selber. Da brauche ich keine Frau für.
;-)



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Alethos
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Sa 15. Aug 2020, 19:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 18:18
In diesem Thread ging es ja nicht selten um die Kunst.
Es ging um die Kunst, aber vorallem um die Geistesgeschichte der Kunst. Im weiteren Sinn von Kunst als techne verstanden, ging es auch darum, eine Perspektive auf die Geschichte einzunehmen, in der sie als Dynamisches begriffen werden kann, das in die Produktion von Technologien - generell: Erzeugnissen und Artefakten hineinwirkt. Es geht also im weiteren Sinne um eine Geschichtsphilosophie, in deren Licht die Zeitensprünge nicht als Brüche verstanden werden, wenigstens nicht als unüberbrückbare, sondern als verbunden durch ein Band, dessen innerste Kraft die Unvergänglichkeit des Geistes ist. Er wandert mit der Geschichte und kommt
dabei immer wieder an Stellen zurück, die ihm im Laufe der Zeit trotz dem Vergessen vertraut geworden sind.

Es ging bei den Reflexionen um die Renaissance eben genau darum, diesen Gedanken der Unvergesslichkeit herauszuarbeiten, darum zu begreifen, dass das Altertum, bspw. der humanistische Gedanke Griechenlands, in der Renaissance nicht eine Wiedergeburt im Denken der damaligen Zeit erfuhr, sondern bloss eine klarere Erinnerung, eine Rückbesinnung, oder besser: eine Wiederentdeckung dieses alten
Denkens im Jetzt, weil dieses Jetzt es in sich trug - latent und verborgen vielleicht, aber dennoch greifbar in sich trug. Eine Epoche wird, so gesehen, nicht aus dem Nichts geboren, sondern aus dem Geist ihrer Zeit, wobei diese Zeit keine reine sein kann, weil sie das Gewesene mitführt als Spuren ihrer selbst. Epochenbildung folgt auf eine Spurensuche nach einer in dieser Zeit latenten Vergangenheit und einer in ihr aufkeimdenen Hoffnung. Sie, die Hoffnung, ist wiederum ein deutlicher Hinweis auf die künftige Zeit, die heute schon ist, in ihrer Verfasstheit als Hoffnung. Das Vor- und Nachher, das Lineare der Zeit, erscheint uns so immer schon gebrochen durch das Wieder und Nochmals, aber auch durch das Nochnicht und Vielleichteinmal.
Das Unreine, nach diesem Verständnis, drückt sich in dem Befund aus, dass Geschichte aus Überlagerungen besteht, aus Zirkularitäten, aus Kreisbewegungen des Erinnerens und Vergessens, des Wiedererinnerns und Wiedervergessens.

Ob es hier auch um Genderfragen im modernen Kunstdiskurs gehen sollte, kann ich nicht beurteilen. Mir scheint, dass wir damit aber diese Metaperspektive verlassen würden, besonders dann, wenn wir von reiner Wäsche aus gewöhnlichen Waschmaschinen sprechen. Aber: Ich weiss es nicht.



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Stefanie
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Sa 15. Aug 2020, 19:55

Von Anfang an irritiert mich das "unrein". Ein wie ich finde heutzutages seltenes Wort, mal abgesehen von der Kosmetik, unreine Haut.
Unrein ist etwas was nicht rein ist, dreckig, verschmutzt, nicht sauber. Unreines gehört gereinigt, sauber gemacht, gewaschen und geschrubbt, am besten mit einer Bürste. Weg mit dem Unreinen.
Unrein waren diejenigen, die religiöse Formvorschriften nicht einhalten, als unrein wurden Frauen während ihrer Periode angesehen (na ja bei rumgestammel bei dem Thema ist das noch nicht ganz überwunden), als unrein galten Frauen nach der Geburt eines Kindes, bei einem Mädchen länger als bei einem Jungen.

Jetzt soll also auch die Zeit und das Vergangene unrein sein.
Nauplios:
Die Unreinheit der Zeit besteht so gesehen in ihrer Imprägnierung mit Vergangenem. (impraegnare ~ schwängern) ... Geburt!

Es hätte vielleicht besser heißen müssen: Die Unreinheit der Zeit besteht in ihrer Imprägnierung mit der Gegenwärtigkeit des Vergangenen.
Natürlich habe ich imprägnieren und die Herkunft nachgelesen. Schwängern und durchtränken meint es. Bei der Zeit ist das dann wie oben beschrieben. Ich denke, es ist offensichtlich, das Ereignisse aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft fortwirken, mal mehr, mal weniger.
Interessant ist, dass wir heute Gegenstände imprägnieren, um zu verhindern, dass sie "unrein" werden, nass und dreckig werden, Kratzer und Risse bekommen.

Die Zeit soll also unrein sein, sie wird es durch die Erinnerung. Sie soll klar und rein sein wie in der Antike, und im klassizismus. Als ob zu in diesen Zeiten nichts unreines gab, gerne genommen die Frauen, die den reinen Verstand und die reine Vernunft des Mannes vernebelten.
Erinnerungen sind aber wie das imprägnieren. Sie konservieren die Ereignisse, schützen sie vor Kratzer und Risse, und Sorgen dafür dass die Erinnerungen und damit die jeweilige Zeit im Gedächtnis bleiben. Im Grunde sind Erinnerungen ein Garant für die Reinheit der Zeit.

...geht gleich weiter



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Alethos
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Sa 15. Aug 2020, 20:05

Stefanie hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 19:55

Die Zeit soll also unrein sein, sie wird es durch die Erinnerung. Sie soll klar und rein sein wie in der Antike, und im klassizismus. Als ob zu in diesen Zeiten nichts unreines gab,
Es geht nicht darum, die Reinheit so zu verstehen, dass sie das Unverschmutze meint. Auch Schmutz ist, wenn nur aus ihm bestehend, rein.

Nach meinem Verständnis geht es auch nicht darum, die Antike als reinere Zeit zu deuten, sondern sie war genau so durchsetzt von Fragmenten von vor ihrer Zeit liegenden Zeiten. Keine Zeit ist rein, nicht, weil sie aus Erinnerungen besteht, sondern weil sie diese erst möglich macht, da sie das Vergangene in sich trägt.



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Aug 2020, 20:21

Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 19:51
Es ging um die Kunst, aber vorallem um die Geistesgeschichte der Kunst.
Was würdest du denn sagen, wann endet die Geistesgeschichte der Kunst?

"Denn sein [Warburgs] Blick ruhte nicht in erster Linie auf den Werken der Kunst, sondern er fühlte und sah hinter den Werken die großen gestaltenden Energien. Und diese Energien waren ihm selbst nichts anderes als die ewigen Ausdrucksformen menschlichen Seins, ..." (Ernst Cassirer; Gesammelte Werke, Bd. 17; S. 370)

Wenn es um die ewigen Ausdrucksformen menschlichen Seins geht, Warum geht dann die Betrachtung nicht bis in die Gegenwart (oder gehört die Gegenwart nicht zu Ewigkeit?) und warum sind Frauen weitgehend ausgeschlossen?

(Heute würden vermutlich nicht wenige Künstler und auch Theoretiker schon den Begriff der Ausdrucksformen kritisch sehen.)




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Stefanie
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Sa 15. Aug 2020, 20:37

Nauplios hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 20:47
Stefanie hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 19:36
Nauplios hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 18:54
Die Unreinheit der Zeit besteht so gesehen in ihrer Imprägnierung mit Vergangenem. (impraegnare ~ schwängern) ... Geburt!
Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was bitte ist eine unreine Zeit.

Das? Was ist daran unrein?
(...)
Der Begriff von Geschichte, der sich vor allem mit dem zur Zeit Nietzsches erfolgreichen Historismus verbindet, ist dagegen eine lineare Abfolge von Ereignissen, die sich auf einem Zeitstrahl wie auf einer Perlenkette aufreihen. - Warburg verwirft mit Nietzsche diese Vorstellung. Die Zeit ist nicht diese reine Perlenkette von Ereignissen. In ihr wirken "Kräfte", die unverfügbar sind. Wie die Renaissance keine reine Wiedergeburt ist, ist die Zeit verunreinigt durch das Gären und Brodeln dieser "Kräfte". Burckhardt spricht von "lebensfähigen Resten". Die Vergangenheit muß ja, um bewußt zu werden, erinnert werden. Und diese Erinnerung ist natürlich kein irgendwie geartetes "objektives" Instrument. Erinnert werden kann nur das, was nicht vergessen worden ist. Warburg spricht an einer Stelle von den "Vektoren" Erinnerung und Vergessen. Mit dem Erinnern kommt also eine Verunreinigung der Zeit ins Spiel (mnemosyne), die es willkürlich erscheinen läßt, was überhaupt erinnert wird. - Mit anderen Worten: es gibt keine Filteranlage, durch welche man die Zeit von solchen Faktoren reinigen könnte. Die Zeit wird "unrein". Geschichte ist das gärende, brodelnde, dunkle Leben mit seinen Energien und Kräften.
Meiner Meinung nach ist das, was Nauplios beschreibt/zitiert, eine Einladung zur Geschichtsvergessenheit. Die genannten Herren schweigen sich offenbar dazu aus, wie man die Verunreinigung der Zeit durch Erinnerung verhindern kann, wenn es man denn will.

Zeit ist verunreinigt, erinnern ist willkürlich, Geschichte ist gärend, brodelnd, dunkel, zutiefst unrein, nicht nur ein Fleck, der einfach zu reinigen ist. Erinnern erzeugt Kräfte, die unverfügbar sind und wohl tief gehen.
Weg mit den Erinnerungen, dem offensichtlichen Übel.
Die Zeit muss gründlich von Erinnerungen gereinigt werden und dann gegen Erinnerungen imprägniert werden, damit sie rein bleibt. Am besten ist es, es gibt keine Erinnerungen.
Arendt beschreibt, dass es nicht nur um die körperlichen Vernichtung der Juden ging, sondern es ging auch und zwar ein entscheidendes auch, darum, dass nichts aber auch garnichts und auch kein mehr Mensch vorhanden ist, das ein Erinnern möglich wäre.
Oder um jemanden zu zitieren, der es ist nicht würdig ist zitiert zu werden: der Vogelschiss der Geschichte. Was macht man mit einem Vogelschiss, wegbürsten, ist er eingebrannt, schweres Geschützt auffahren, er geht irgendwann weg. Alles wieder rein. Die reine unbelastete Zeit.

Es ist ein Merkmal der Menschen, dass sie sich Geschichten erzählen, die Ereignisse der jeweiligen Zeit weitergeben, die Erinnerung ist lebenswichtig.
Sie verunreinigt nicht die Zeit, im Gegenteil. Erinnerung imprägniert und schützt die Zeit und das Vergangene vor Lügen, Verdrehungen, verschweigen und dem Vergessen.
Die Zeit wird nicht verunreinigt durch erinnern. Ohne Erinnern ist gar keine Zeit da.



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Sa 15. Aug 2020, 20:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:21
Wenn es um die ewigen Ausdrucksformen menschlichen Seins geht, Warum geht dann die Betrachtung nicht bis in die Gegenwart (oder gehört die Gegenwart nicht zu Ewigkeit?) und warum sind Frauen weitgehend ausgeschlossen?
Ich weiss nicht, warum Frauen weitestgehend ausgeschlossen sind - das ist gewiss bedauerlich und müssen wir ändern. Wie können das aber nur künftig ändern, startend jetzt. Die Betrachtung soll auch in die Gegenwart gehen, es ist ja auch unmöglich, dass sie es nicht tut.

Wenn immer wir eine (kunst-)historische Diagnose stellen, ist es eine aus der Warte des heutigen Befunds. Aber wir müssen den heutigen Befund nicht so hochlobend als das Produkt eines heute aufgeklärten Geistes tun und verächtlich auf das Vergangene schauen: Es ist nämlich wegen dem, was war, dass wir heute die sind, die wir sind. Und die Begriffe, die wir verwenden, es sind nicht die reinen, die wir meinen, sondern sie haben eine weit über den heutigen Gebrauch hinausreichende Bedeutung durch den Glanz ihrer historischen Einmittung. Darum geht es - zu sehen, dass Feminismus ohne einen Begriff von femina gar nicht zu haben ist.



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Sa 15. Aug 2020, 20:47

Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:05
Stefanie hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 19:55

Die Zeit soll also unrein sein, sie wird es durch die Erinnerung. Sie soll klar und rein sein wie in der Antike, und im klassizismus. Als ob zu in diesen Zeiten nichts unreines gab,
Es geht nicht darum, die Reinheit so zu verstehen, dass sie das Unverschmutze meint. Auch Schmutz ist, wenn nur aus ihm bestehend, rein.

Nach meinem Verständnis geht es auch nicht darum, die Antike als reinere Zeit zu deuten, sondern sie war genau so durchsetzt von Fragmenten von vor ihrer Zeit liegenden Zeiten. Keine Zeit ist rein, nicht, weil sie aus Erinnerungen besteht, sondern weil sie diese erst möglich macht, da sie das Vergangene in sich trägt.
Wir sind uns, denke ich, inhaltlich einig.
Ich wehre mich gegen die Verwendung von "unrein" im Zusammenhang mit Zeit und Erinnerung. Rein, unrein, reine und unreine Menschen, nee.
Unvollständig, lückenhaft, von mir aus. Unrein, nein.
Nahezu alle totalitären Herrscher und Möchtegernherrscher versuchen auf grausame Art und Weise, Geschichte und damit die Zeit umzuschreiben, in dem sie die Erinnerungen, die ihnen nicht passen, weg putzen. Sie wollen ihre Zeit, klar und rein von störenden Elementen.
Von einer unreine Zeit zu sprechen, ist eine Aufforderung sie zu reinigen, was nur durch das erzwungene Vergessen geht.



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Sa 15. Aug 2020, 20:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:21
Heute würden vermutlich nicht wenige Künstler und auch Theoretiker schon den Begriff der Ausdrucksformen kritisch sehen.
Was meinst du damit?



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Sa 15. Aug 2020, 20:59

Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 19:51
Ob es hier auch um Genderfragen im modernen Kunstdiskurs gehen sollte, kann ich nicht beurteilen.
Ich auch nicht. Deshalb schrieb ich ja auch, dass ich die Verbindung zum Thema nicht sehe.
Mir scheint, dass wir damit aber diese Metaperspektive verlassen würden, besonders dann, wenn wir von reiner Wäsche aus gewöhnlichen Waschmaschinen sprechen. Aber: Ich weiss es nicht.
Ist es erlaubt zwischendurch auch mal einen Scherz zu machen? Ja, oder? (Ich verspreche ich markiere den nächsten Scherz als Scherz.)



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Sa 15. Aug 2020, 21:04

Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:42
Es ist nämlich wegen dem, was war, dass wir heute die sind, die wir sind.
Nicht nur. Wir sind heute die, die wir sind, nicht nur wegen dem, was wirklich passiert ist. Sondern auch wegen der Art und Weise, wie wir uns diese Geschichte erzählen. Geschichtsfälschende Erzählungen können sehr wirksam sein. Ich denke, ich muss das nicht ausführen. Es geht auch in der Geschichte, es tut mir leid, dass ich das sagen muss, um die Wahrheit. Die Wahrheit findet man nicht heraus, indem man sich hinsetzt und die Luft anhält und versucht sich zu erinnern, sondern, indem man die Geschichte mit wissenschaftlichen Mitteln erforscht.




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Sa 15. Aug 2020, 21:08

Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:51
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:21
Heute würden vermutlich nicht wenige Künstler und auch Theoretiker schon den Begriff der Ausdrucksformen kritisch sehen.
Was meinst du damit?
Das es keineswegs selbstverständlich ist, Kunst als eine Form des Ausdrucks zu betrachten. (Eingängiger Witz in diesem Zusammenhang ist, dass wohl eher Farbtuben ausgedrückt werden.)




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