Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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Alethos
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So 30. Aug 2020, 16:12

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 14:40
Ein Kunstwerk kann es aber - per Definition - gar nicht geben, ohne Künstler und ohne Betrachter.
Per welcher Definition soll etwas wahr sein über etwas, was sich nicht so verhält?

Ein Bild braucht einen Erschaffer, einen Künstler, ja, aber keinen Betrachter oder jemanden, der Notiz von ihm nimmt, damit es Bild ist. Es hätte wohl seine Funktion, seinen Zweck verfehlt, aber ganz sicher nicht seine Wirklichkeit als Bild. Und dagegen habe ich geschrieben.



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Alethos
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So 30. Aug 2020, 16:18

Überhaupt halte ich die Vorstellung, dass Kunstgegenstände durch die Absichten ihres Erschaffers in den Rang von Kunstgegenständen erhoben werden, für abwegig, wie ich überhaupt bestreite, dass der Umstand, dass jemand diese Gegenstände erschuf, notwendig für den Umstand ist, dass sie als Kunstgegenstände gelten können.

Wenigstens in einer weiten Definition von Kunst kann als kunstvoll jede Komposition gelten, die zufällig entsteht. Unbestritten ist, dass ohne Maler kein Gemälde entsteht. Das ist per Definition von Gemälde als Gemaltem unmöglich.



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NaWennDuMeinst
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So 30. Aug 2020, 16:33

Alethos hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 16:12
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 14:40
Ein Kunstwerk kann es aber - per Definition - gar nicht geben, ohne Künstler und ohne Betrachter.
Per welcher Definition soll etwas wahr sein über etwas, was sich nicht so verhält?
Das "Kunstwerk" ist in der Natur "vorgefunden? Wirklich?
"Kunstwerk" ist eine (menschliche) Bewertung. Der Begriff "Kunstwerk" macht ja überhaupt nur Sinn, wenn es einen Kunstschaffenden und einen Kunstbewertenden (Kunsbeobachter) gibt, weil der Begriff (per Definition) ein Verhältnis zwischen dem Kunstobjekt und seinem Betrachter beschreibt.
Und hier kommen wir wieder zum Stein: Der Stein ist auch dann noch ein Stein, wenn ihn keiner beobachtet oder bewertet.
Ein Beobachter ist nicht zwingend nötig.
Ein Bild braucht einen Erschaffer, einen Künstler, ja, aber keinen Betrachter oder jemanden, der Notiz von ihm nimmt, damit es Bild ist.
Für ein Bildnis braucht es keinen Betrachter. Für ein Kunstwerk allerdings schon.



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NaWennDuMeinst
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So 30. Aug 2020, 16:45

Alethos hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 16:18
Überhaupt halte ich die Vorstellung, dass Kunstgegenstände durch die Absichten ihres Erschaffers in den Rang von Kunstgegenständen erhoben werden, für abwegig, wie ich überhaupt bestreite, dass der Umstand, dass jemand diese Gegenstände erschuf, notwendig für den Umstand ist, dass sie als Kunstgegenstände gelten können.
Das kommt drauf an, wie Du Kunst definierst. Ich denke schon, dass zu dem Begriff auch gehört, dass das Kunstobjekt erschaffen wurde. Natürliche, zufällig entstandene Gebilde erfüllen diese Bedingung nicht. Denn wer ist da der Schöpfer?
Wenigstens in einer weiten Definition von Kunst kann als kunstvoll jede Komposition gelten, die zufällig entsteht.
Mach es nicht so kompliziert. Sag einfach dass nach Deiner Meinung alles Kunst sein kann. Denn viel mehr als das gib es ja nicht.
Ich hoffe die Bewertung als Kunstwerk muss dann aber noch durch einen Beobachter geschehen, oder braucht es den da auch nicht?
Falls ja, wäre spätestens dann der Kunstbegriff eine leere Worthülse, weil Du dann alles zur Kunst erklärt hättest.



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Alethos
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So 30. Aug 2020, 17:10

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 16:45
Ich hoffe die Bewertung als Kunstwerk muss dann aber noch durch einen Beobachter geschehen, oder braucht es den da auch nicht?
Falls ja, wäre spätestens dann der Kunstbegriff eine leere Worthülse, weil Du dann alles zur Kunst erklärt hättest.
Ich vermute, dass du rein nichts von dem, was ich über Phänomene schrieb, gelesen hast oder aber alles ausblendest, was dort steht. Natürlich braucht jedes Phänomen einen Betrachter, das Kunstobjekt nicht mehr als ein Stein oder ein Baum. Ein Gemälde, von dem nie jemand Notiz nahm, ist natürlich ein Gegenstand, nämlich das Bild. Es braucht keinen Betrachter, damit es Bild ist. Damit es aber ein ästhetischer Gegenstand sein kann, mithin ein Kunstobjekt im Sinne eines ein ästhetisches Phänomen hervorrufenden Gegenstands, braucht es einen Betrachter.

Zum Kunstwerk: Klar, das Kunstwerk wurde "gewerkelt", eindeutig ist, dass es einen Kunstschaffenden braucht, der sich ans Werk macht, damit es Werk ist.

Aber unnötig zu sagen, dass ich in einem freieren Verständnis von Kunst sie für etwas halte, das nicht an einem Kunstwerk allein vorkommt. Ich denke, dass Kunst überall vorkommt, wo mit der entsprechenden ästhetischen Einstellung ans Objekt herangetreten wird. Das ästhetische Feld, von dem Jörn spricht, das halte ich für real. Aber ich denke, wahrscheinlich anders als er, dass es nichts mit Namen und Vernissagehallen zu tun hat, sondern mit einem Aspekt der Dinge, den wir bei allem in den Blick nehmen können.



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NaWennDuMeinst
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So 30. Aug 2020, 18:19

Alethos hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 17:10
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 16:45
Ich hoffe die Bewertung als Kunstwerk muss dann aber noch durch einen Beobachter geschehen, oder braucht es den da auch nicht?
Falls ja, wäre spätestens dann der Kunstbegriff eine leere Worthülse, weil Du dann alles zur Kunst erklärt hättest.
Ich vermute, dass du rein nichts von dem, was ich über Phänomene schrieb, gelesen hast oder aber alles ausblendest, was dort steht.
Na, wenn Du meinst.

Es ging um die Frage, ob ein Beobachter nötig ist, damit Dinge existieren, bzw ob wir das was ein Beobachter fühlt und denkt zum Sein der Dinge zählen müssen.
Die vorläufige Antwort war: Bei manchen ist das so (zum Beispiel bei Kunstwerken), bei anderen nicht.
So wie ich Dich verstehe, ist das bei dir aber immer so, denn Du wirst ja nicht müde zu betonen, dass das Empfinden und Fühlen und alles was Dir sonst noch an Regungen wichtig ist, Teil des Gegenstandes sein soll/muss. Und ich denke nun das ist falsch. Warum habe ich erklärt.



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Jörn Budesheim
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So 30. Aug 2020, 19:27

Alethos hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 16:12
Ein Bild braucht einen Erschaffer, einen Künstler, ja...
Dieser Erschaffer ist zugleich ein Rezipient des Kunstwerkes, auch wenn er blind oder taub etc. ist, irgendwelche rezeptiven Fähigkeiten muss er haben, und ein Kunstwerk schaffen zu können.




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Alethos
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So 30. Aug 2020, 23:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 19:27
Alethos hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 16:12
Ein Bild braucht einen Erschaffer, einen Künstler, ja...
Dieser Erschaffer ist zugleich ein Rezipient des Kunstwerkes, auch wenn er blind oder taub etc. ist, irgendwelche rezeptiven Fähigkeiten muss er haben, und ein Kunstwerk schaffen zu können.
Und Bilder, die aus purem Zufall entstehen (es gibt doch reichlich Beispiele sogar von Affen, die malen oder mit Farbpigmenten bestäubte Bienen, die Bilder entstehen lassen), sind keine Bilder? Und wenn diese einfach von niemandem betrachtet würden, angenommen, es sei so, können sie nicht vorkommen, weil niemand Kenntnis von ihnen hat? Ich finde, das Argument steht auf wacklicken Beinen.



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Jörn Budesheim
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Mo 31. Aug 2020, 07:39

Das heißt, die Ansicht, ein Bild bräuchte einen Künstler, ziehst du wieder ein?




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Jörn Budesheim
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Bild
Nauplios hat geschrieben :
Mi 5. Aug 2020, 00:22
Primavera von Botticelli wird oft als Allegorie auf den Frühling gedeutet. Venus in der Mitte. Darüber der schwebende Amor. Links die drei Grazien, außen Merkur, der mit seinem Heroldsstab die Wolken/Nebel in den Wipfeln der Bäume zerstreut. Ganz rechts außen wieder Zephyr, der die Nymphe Chloris anweht und umfängt. Aus ihrem Mund quellen Rosenknospen und gleiten auf das Gewand von Flora. -

Aby Warburg hat vorgeschlagen, Primavera nicht als Allegorie des Frühlings zu sehen, sondern als den Augenblick, welcher der Geburt der Venus folgt. Das Bild müßte eigentlich Il regno di Venere (Das Reich der Venus) heißen. Die literarische Quelle ist natürlich Ovid (Metamorphosen, Fasti) sowie, was die drei Grazien betrifft, Hesiod.
Paul Valéry hat geschrieben : Le poème, cette hésitation prolongée entre le son et le sens.[Das Gedicht, dieses anhaltende Zögern zwischen Klang und Sinn.]
Etwas verallgemeinert und natürlich auch nicht so schön, heißt es als Titel eines Buches über ästhetische Erfahrung: zwischen Ding und Zeichen.

Aby Warburg hat für dieses berühmte Gemälde eine andere Interpretation vorgeschlagen. Kunstwerke sind also auch, wenn natürlich nicht nur Sinn-Phänomene, etwas, was man deuten, auslegen interpretieren kann. Das ist allerdings etwas, was jemand wirklich erfahren und erleben muss.

Ein Stein am Wegesrand hingegen ist nicht einfach in diesem Sinne schon ein Zeichen oder ein Sinn-Phänomen. (Zeichen sind schließlich nicht einfach etwas bloß physikalisches.) Wenn wir diesen Stein jedoch zum Teil einer Kunstinstallation machen, das heißt in einen anderen Zusammenhang überführen, wie auch immer wir das veranstalten, dann kann er auch als Zeichen oder Sinn-Phänomen gelesen werden. Er wird dann zu einem hermeneutischen Gegenstand und zwar als Teil derjenigen menschlichen Praxis, die wir Kunst nennen.

Wir können natürlich ohne diese Praxis, den Stein in Augenschein nehmen, ihn bewundern und in allen Aspekten beleuchten. Aber das ist nicht dasselbe, wie ein Gegenstand einer Deutung, eines Sinnerlebnisses oder einer Interpretation zu sein.
Alethos hat geschrieben : Bilder sind zunächst einmal Farben, Formen und Materialien, durch jemanden so und so angeordnete Farben und Formen, nach Regeln oder nach keinen, mit Absicht oder ohne so angeordnete Farben und Formen. Sie sind Artefakte und damit Produkte eines Tuns und Handelns.
Jedoch fehlt hier etwas wichtiges, nämlich dass Kunstwerke eben - wie oben angedeutet - auch Gegenstände der Deutung, der Interpretation, eines Sinnerlebens etc sind. Das berühmte Pissoir von Marcel Duchamp wirft neben anderem z.b. eine ganze Reihe von Fragen zum (ontologischen) Status der Kunst auf, was die entsprechenden baugleichen Teile in irgendeinem Restaurant nicht getan haben. Es ist durch einen Wechsel des Zusammenhangs ein Gegenstand der Interpretation, die Literatur darüber dürfte mittlerweile viele Regale füllen.

Oder in einer etwas älteren Terminologie ausgedruckt: das "an sich" der Kunst ist "für uns" zu sein.




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Jörn Budesheim
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Mo 31. Aug 2020, 17:55

Gumbrecht spricht von einem "Oszillieren zwischen Präsenz und Bedeutung" als einem besonderen Merkmal der ästhetischen Erfahrung mit Kunstwerken.

Allerdings ist die Formulierung von Valerie nur schwer zu überbieten, weil sie das, was sie sagt, auch verkörpert: "Le poème, cette hésitation prolongée entre le son et le sens."




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Alethos
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Mo 31. Aug 2020, 20:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 31. Aug 2020, 07:39
Das heißt, die Ansicht, ein Bild bräuchte einen Künstler, ziehst du wieder ein?
Nein. Ein Gemälde ist etwas Gemaltes und es braucht für das Tun des Malens einen Maler. Ich meinte das, und meine es noch, als ich sagte, dass ein Werk ohne Werkenden nicht enstehen kann. Ich meine aber, dass der Urheber eines Werks nicht zwingend Notiz zu nehmen braucht von dem, was er da erschafft, damit das Erschaffene vorkommen kann. Ich glaube aber auch, dass etwas ganz zufällig Entstandenes Kunst sein kann, wo ein willentlicher Agens nicht eindeutig festzustellen ist.

Dass Bilder, Kunstobjekte im allgemeinen, dazu da sind, rezipiert zu werden, kann ich unterschreiben. Dass sie nur existieren in der Rezeption, das kann ich nicht unterzeichnen. Ich sehe aber wohl, dass gewisse Eigenschaften von Bildern nur existieren, wenn wir sie betrachten: Das Schönsein nannte ich, oder das Furchterregende, das Frustrierende und das Faszinierende usw. Ohne einen Betrachter ergeben diese Eigenschaften keinen Sinn, sie kommen nur vor in der Phänomenologie des Objekts.
Ein Kunstobjekt kann ein Kunstobjekt sein, etwa ein nie von jemandem beachtetes Bild auf dem Dachboden, aber es entfaltet seine vollere Wirklichkeit nur in seinem Sein für
uns.

Die Frage, die mich umtreibt, und die ich mit der Lektüre von Foucault ("Die Verklärung des Gewöhnlichen") zu beantworten versuche, ist eigentlich die nach den Umständen für "Kunsthaftigkeit".
Was unterscheidet ein gewöhnliches Objekt von einem Kunstobjekt?
Ich verstehe z.B., dass ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs, also ein Gebrauchsgegenstand, in ein völlig ungewöhnliches Umfeld platziert, Irritation auslösen kann. Der Gegenstand wird in ein "Arrangement" gesetzt, es entfaltet hier eine ganz andere Wirkung, als wenn es
dort nicht wäre, es wechselwirkt mit
der Umgebung. Duchamps Pissoir fällt in
diese Kategorie, aber es können indefinit viele Kompositionen eine Kunsthaftigkeit erzeugen, wenn sie in ein ästhetisch relevantes Feld gerückt werden.

Wir können nicht sagen, dass die Intention des Künstlers ausreicht, etwas Aussergewöhnliches, Ungewöhnliches zu schaffen, damit etwas Kunst ist, weil noch etwas hinzukommen muss, das dieses Etwas einbindet und austattet mit neuer Strahlkraft: ein "Setting", ein Arrangement, ein Feld, ein Umfeld, eine Konstellation von Objekten etc.

Es reicht aber auch nicht hin zu sagen, dass ein von einem Künstler erzeugtes Objekt dadurch Kunstobjekt ist, weil es durch ihn erschaffen wurde, denn dann wäre ja alles aus seiner Hand Enstandene Kunst. Vielmehr muss alles zusammenspielen können: Die Absicht zu erschaffen, die Absicht so und so anzuordnen, das und das zu sagen (oder auch nichts Bestimmtes zu sagen), die Verortung des Objekts vor Hinter- und Vordergründe, das Objekt selbst als Produkt des Erschaffens, der Zeitgeist, die Betrachter etc. - Alles das "umgibt" ein Kunstobjekt und hüllt das einfache Materieding in eine ästhetische Hülle. Durch all das erhält es sein Wesen als Kunstobjekt und hebt es von ganz gewöhnlichen Objekten ab.

Entscheidend ist meines Erachtens aber die Kunsterfahrung. Sie ist nach meinem Dafürhalten die Erfahrung des besonderen Objekts im Sinne einer Phänomenologie von (ästhetischen, politischen, philosophischen etc.) Bedeutungen. Das, was wir da in Vernissagehallen sehen, das sind nicht einfach "tote" Objekte, die für sich selbst sprechen, sondern sie sprechen auch an, sie sprechen etwas oder uns an, aber sie lassen uns nicht "kalt". Sie "erregen" Aufmerksamkeit und deshalb sind lebendige Objekte, weil vieles an ihnen erst vollends wirklich werden kann in der
Erregung des Auges (der Gefühle, des Tastsinns) des Betrachters. Nicht gemeint ist, dass die Schönheit, die Schrecklichkeit etc. im Auge des Betrachters liegt, sondern dass Schrecklichkeit, Schönheit etc. ohne die Dimension des Betrachtetwerdens von etwas nie wirklich werden kann. Am Objekt ist etwas schön oder schrecklich, aber am
Objekt für jemanden und nur für jemanden und darum ist dieser Teil ihrer Wirklichkeit Teil der lebendigen Wirklichkeit, die wir sind.

Darum aber, weil die Wirklichkeit des Schönseins in der phänomenologischen Schicht des Seienden vorkommt, in welcher
der Betrachter Teil des Phänomens ist, kann etwas sowohl schön als nicht schön sein zugleich, denn es kommt ja das Schönsein dem Objekt ja nur insofern zu, als es Phänomen ist. Als Phänomen sind wir Teil des Arrangements, in welches das Kunstobjekt gesetzt wird und wir sind Teil der sich durch ihn entfaltenden Wirkungen. Wir betrachten sozusagen nie dasselbe Objekt resp. haben wir nicht denselben Zugang zum Phänomen, weil wir je Teil des Phänomens sind. Wie ein Lichteinfall, wie die Platzierung des Objekts an bestimmter Stelle im Ausstellungsraum, wie der zeitgenössische Kontext, wie der alktuelle mediale Zusammenhang Wirkung auf das Objekt haben, haben auch wir als Betrachter Anteil an der Existenz seiner gewissen Wirkungen.

Es gibt bei der Kunst mit Betreff auf einige Eigenschaften des Kunstobjekts kein Entweder-oder, kein richtig oder falsch, sondern das Kunstwerk nötigt geradezu zur Freiheit, die auffordert, sich einzulassen und sich einzubringen. Das Kunstobjekt gibt nicht alles vor, was an ihm wirklich ist, sondern wir sind aufgefordert durch die sich an ihm verkörpernde Freiheit, Erfahrungen mit ihm zu machen und gewisse Pfade an ihm abzustecken. Das ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, denn dazu sind die Kontexte zu sehr konstitutiv, als dass
wir über ein Objekt behaupten könnten, was wir wollten, aber doch verkörpern Kunstobjekte Offenheit in exemplarischer Weise, so dass in gewissen Aspekten seines Seins möglich ist zu sagen, dass sowohl x als auch nicht-x wahr ist. Das kann man mit logischen Mitteln gar nicht beschreiben, weil die Logik hier das Substanzielle, das Bedeutende, gar nicht fassen kann, und das Bedeutende ist eben die Tatsache des Miteinanderseins von ästhetischem Phänomen und Kunstbetrachter. Ein Kunstwerk kann ohne Betrachter Kunstwerk sein, das meine ich noch jetzt, aber es kann seine ästhetischen Potenziale ohne Betrachter nicht verwirklichen.



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Fr 4. Sep 2020, 10:57

weltkunst.de hat geschrieben : POSTERBOY DER KUNSTGESCHICHTE

Der rekonstruierte Bildatlas Mnemosyne des legendären Kulturwissenschaftlers Aby Warburg ist in einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt erstmals zu sehen
Von BERNHARD SCHULZ
02.09.2020


Als Aby Warburg 1926 im heimatlichen Hamburg ein eigenes Gebäude für seine immer weiter anwachsende Bibliothek errichtete, ließ er über der Tür zum ovalen Lesesaal das Wort „Mnemosyne“ einmeißeln. Es war für ihn, den Begründer einer bildgestützten Kulturwissenschaft, das Schlüsselwort. In der antiken Mythologie ist Mnemosyne die Göttin der Erinnerung und die Mutter der neun Musen, denen sie also vorausgeht. Warburg verstand das im übertragenen Sinne: Sein ganzes Werk kreist um die Erinnerung, und dies vor allem in ihrer unbewussten Form. Um die „Wanderung“ von bestimmten symbolischen Formen durch die Zeiten und die Kulturen zu demonstrieren, erfand er den „Bilderatlas“, dem er den programmatischen Namen eben der Mnemosyne gab.

https://www.weltkunst.de/ausstellungen/ ... geschichte




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Sa 5. Sep 2020, 08:32

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne

Der Atlas bestand in seiner letzten Version aus 63 großen schwarzen Tafeln, auf denen Warburg fotografische Reproduktionen von Kunstwerken aus dem Nahen Osten, der europäischen Antike und der Renaissance neben zeitgenössischen Zeitungsausschnitten und Werbeanzeigen anordnete. In den Jahren vor seinem Tod 1929 experimentierten Warburg und seine engsten Mitarbeiter*innen Gertrud Bing und Fritz Saxl mit Form und Funktion des Bilderatlas. Ihr Ziel war eine Publikation, die für die Diskussion zwischen Expert*innen ebenso wie für das breitere Publikum gedacht war.

[Hervorhebungen von mir]

https://www.hkw.de/de/programm/projekte ... _start.php
Guter, lesenswerter Text, der in klaren und einfachen Worten erklärt, worum es geht. Leider ist der englischer Katalog, der dazu erschienen ist, mit 200 € nicht gerade günstig :(




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Sa 5. Sep 2020, 17:26

Aby Warburgs Bilderatlas "Mnemosyne" - Die erste Mindmap der Moderne

https://www.monopol-magazin.de/aby-warb ... er-moderne
Ebenso ein sehr guter, sehr verständlicher Text, der auch hervorhebt, dass sich Abi Warburg keineswegs nur an ein Fachpublikum, sondern explizit auch an Laien gewendet hat.




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So 6. Sep 2020, 07:14

Deichgraf der Bilderflut

Antike, Renaissance, Gegenwart, Stammeskunst, Volkskunst, Werbung, hoch und tief, U und E, alles hat seinen gleichen Rang.

https://www.welt.de/kultur/article21493 ... -Welt.html
Es geht Aby Warurg nicht um ein "gelehrtes Versteckspiel", schreibt der Autor: "Werbefotos sehen wie historische Gemälde aus und Models wie antike Helden. Dass die Welt sich ändert, aber unsere Bilder irgendwie immer die alten bleiben, wusste Aby Warburg schon vor hundert Jahren. Was sagt das über uns Menschen?"




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So 6. Sep 2020, 19:05

Alethos hat geschrieben :
Mo 31. Aug 2020, 20:26
Ein Kunstwerk kann ohne Betrachter Kunstwerk sein
Ich kann und will zu deinen Ausführungen nicht viel sagen. Im Grunde akzeptierst du nicht die Unterscheidung zwischen Naturschönem und Kunstschönem. Und indem du das tust, leugnest du die Existenz der Kunst als eigener Ordnung. Und das steht für mich einfach nicht zur Diskussion.




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Do 10. Sep 2020, 20:03

Aby Warburgs Bilderatlas in Berlin: Als Judith der Nymphe begegnete

Die Originale von Aby Warburgs legendärem Bilderatlas galten lange als verschollen. Nun sind viele Tafeln in Berlin zu sehen.

https://taz.de/Aby-Warburgs-Bilderatlas ... /!5712508/




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Do 10. Sep 2020, 20:24

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Aby Warburg
von Rösch, Perdita

Die Kunst-, Kultur- und Bildwissenschaften schreiben sich „Aby Warburg“ auf ihre Banner. Ohne sich um akademische Disziplinengrenzen zu kümmern, prägte er Begriffe und Konzepte von hoher Aktualität und großer intellektueller Anregungskraft.

Trotz seines gegenwärtigen Kultstatus werden Warburgs Schriften allerdings kaum gelesen. Perdita Rösch zeichnet daher anhand von Werkanalysen ein Portrait dieses Ausnahmewissenschaftlers und eröffnet damit Zugänge zu seinem Denken.

https://www.utb-shop.de/autoren/rosch-p ... -2754.html
Ich habe mir ein Buch zu Aby Warburg besorgt. Was aus den diversen Feuilleton Artikeln nicht wirklich hervorgeht, man aber ahnen konnte, ist, dass Warburg sehr enge Berührungen mit Psychologismus und Evolutionstheorie hatte. Das wird schon auf den ersten Seiten des Buches schnell deutlich.




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So 13. Sep 2020, 17:47

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Aby Warburg, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche auf den Osterinseln.




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